Überwachungskapitalismus: Das Internet als totalitärer Markt
18. April 2019 | Walter Otto Ötsch
Analysiert man das Internet als Markt, so zeigt sich: Mit Demokratie und Freiheit hat es nichts zu tun, mit Überwachung und Selbstbegrenzung der menschlichen Vernunft hingegen viel. Dem neoliberalen Vordenker Hayek hätte das gefallen.
Die Internetfirmen haben sich nach dem Schock der Internetblase um die Jahrtausendwende neu organisiert und in den letzten fünfzehn Jahren das Internet grundlegend als »Markt« umgebaut. Das wurde möglich, weil in der Gesellschaft »des Marktes« das, was Firmen tun, als Ausdruck »des Marktes« gedeutet wird und Konsens darüber besteht, neue geschäftliche Aktivitäten nicht zu regulieren – und auch nicht darüber nachzudenken, welche Auswirkungen es haben kann, wenn rechtlich nicht geregelte Bereiche von Firmen aggressiv betreten werden.
In Analogie zu den vielen »innovativen« Finanzprodukten von Banken und Schattenbanken ab den 1980er-Jahren, die den Finanzkapitalismus entstehen ließen, entwickelte sich ab den 2000er-Jahren im Internet ein neuer globaler Raum von Gewinnmöglichkeiten, der auf der Verfügung über Daten basiert. Wie bei den Finanzprodukten haben auch hier ÖkonomInnen einen entscheidenden Beitrag geleistet, indem sie neue Modelle »des Marktes« erfunden haben, die dann als reale Märkte in die Tat umgesetzt wurden. ÖkonomInnen sind heute »Designer des Marktes«. Das Programm der Ökonomisierung der Gesellschaft wird von ihnen aktiv im Entwurf neuer Märkte umgesetzt. Das Internet ist heute ein Verbund von Märkten, die von Ökonomen erfunden worden sind. Sie basieren auf Auktionsmodellen, die von Ökonomen als spezifische Gleichgewichtsmodelle »des Marktes« designt wurden.
Die gesamte Architektur mit diesen Modellen war so erfolgreich, dass die großen Firmen, die davon profitieren, in rasantem Tempo zu den reichsten Firmen der Welt aufgestiegen sind. Facebook hat im Juni 2018 mit einem Börsenwert von ca. 235 Milliarden Dollar den US-Einzelhandelskonzern Walmart überholt. Walmart steht auf Liste Fortune Global 500 auf Platz 1 der umsatzstärksten Firmen der Welt und beschäftigt über 2 Millionen Angestellte. Google hat im September 2018 mit einem Börsenwert von ca. 389 Milliarden Dollar den Mineralölkonzern ExxonMobil überflügelt, Apple hat im August 2018 einen Börsenwert von über einer Billion Dollar erreicht und Amazon ist im September 2018 ebenfalls in diesen Klub aufgestiegen – mit diesem Betrag ist jeder der beiden Konzerne so wertvoll wie die 15 größten Unternehmen, die im deutschen Aktienindex DAX aufgelistet sind.
»Es handelt sich um eine beispiellose Form von Markt, die im rechtsfreien Raum wurzelt und gedeiht. Sie wurde von Google entdeckt, konsolidiert, dann von Facebook übernommen und verbreitete sich rasch im ganzen Internet. Der Cyberspace war deshalb ihr Geburtsort, weil er - wie der Vorstandsvorsitzende von Google/Alphabet Eric Schmidt und sein Mitautor Jared Cohen auf der ersten Seite ihres Buche über das digitale Zeitalter voller Stolz erklären – ‚kaum durch Gesetze beschränkt’ wird und daher ‚der größte unregulierte Raum der Welt’ ist.« [1]
Der Pionier dieser Entwicklung ist Google. Die Firma wurde 1998 von zwei Studenten der Stanford University gegründet. Ihre zentrale Innovation war es, die Suchanfragen der Nutzer als Ressource zu verstehen, die für Werbung verkauft werden konnte, und dazu eine Infrastruktur zu errichten, die in einem permanenten Lern- und Verbesserungsprozess das Verhalten der Nutzer immer transparenter und damit vorhersagbarer und steuerbarer macht. Alle Daten, die Google erlangen kann, werden kontinuierlich für noch bessere Prognosen genutzt, der Algorithmus der Suchmaschine wird jeden Tag mehrere hunderte Male verändert. Die NutzerInnen, die Suchanfragen machen, sind keine Kunden im eigentlichen Sinn, sondern die unbezahlten Lieferanten für einen Rohstoff, der in überbordende Gewinne verwandelt wird – manche der Internetgiganten haben Umsatzrenditen von 30 bis 50 Prozent. Das Geschäftsmodell der neuen Wissensökonomie kann an Google studiert werden, die Suchmaschine von Google hatte im Juli 2018 einen Marktanteil von über 90 Prozent mit über 3 Milliarden Suchanfragen pro Tag. Google hatte ab 2000 begonnen, mit Auktionsmodellen zu experimentieren, bei denen die Suchanfragen der Nutzer im Bruchteil von Sekunden an Firmen verkauft werden, die ihre Werbung neben den Suchresultaten platzieren können. 2002 hat Eric Schmidt, dessen Vater Ökonom war, den Ökonomen Hal Varian eingeladen, das Geschäftsmodell der Firma zu studieren. (Varian ist der Autor jener einführenden Lehrbücher der Ökonomie, die in Deutschland am meisten verwendet werden.) Varian war als Spezialist für Auktionsmodelle bekannt und ist seither Berater und seit 2007 Chefökonom von Google, inzwischen haben alle großen Internetfirmen ihren Chefökonomen. Varian hat im Aufbau der damals noch kleinen Firma, die gerade 200 Angestellte hatte, zu einem Weltkonzern eine entscheidende Rolle gespielt (vgl. Levy 2009 und Zuboff 2018, 619, FN 7).
Nach Varian (2014b, 27) besteht die neue Wissensordnung am Internet aus vier Bestandteilen: Datenextraktion und Datenanalyse, Personalisierung der Daten und Anpassung an die Kundenwünsche, kontinuierliches Experimentieren und neue Kontraktformen durch eine verbesserte Überwachung. Jede Komponente vermittelt einen Einblick in eine neue Wirklichkeit »des Marktes«, der wir heute in einem globalen Maßstab unterworfen sind.[2] Der Begriff »Extraktion« gibt den Vorgang gut wieder: Wie ein Zahnarzt einen Zahn extrahiert, so extrahieren die Internetfirmen jede Aufzeichnung über jede menschliche Aktivität, der sie sich bemächtigen können. Ohne zu fragen wird offensiv in den Privatbereich jeder Person eingedrungen und alles aufgezeichnet, was technisch möglich ist – bis in die intimsten Details und die persönlichsten Erfahrungen. Die Masse dieser Daten ist erdrückend und wächst exponentiell an. Neben den Suchanfragen oder anderen Aktivitäten in den sozialen Medien werden weltweit auch Daten vom neuen Internet der Dinge (bis zum Jahre 2020 wird es ca. 20 Milliarden Sensoren geben), von den unzähligen Überwachungskameras (bald wird es zentrale Datenbanken zur Erkennung aller Gesichter aller Menschen oder der Art geben, wie jede und jeder sich bewegt), von Satelliten, selbstfahrenden Autos, von Zahlungsvorgängen mit Banken, die Internet-Transaktionen zwischen Firmen, alle verfügbaren Statistiken von Behörden oder anderen Organisationen gesammelt, aufbereitet, analysiert und augenblicklich in Waren verwandelt, die man verkaufen kann. Jede einzelne Aktion, die ein Nutzer unternimmt und die aufgezeichnet werden kann, wird von den Internetfirmen als ein Signal verstanden, das es zu analysieren und auszuwerten gilt. Für jeden, der am Internet teilnimmt, gibt es Nutzerprofile mit abertausenden Informationen, die auf ewig gespeichert und andauernd ergänzt und auf neue Weise analysiert werden. Für Google und Facebook ist nichts zu trivial, um nicht aufgezeichnet zu werden: die Fotos, die mit Handys aufgenommen und im Internet geteilt werden, Suchanfragen, Emails, Texte, die versendet werden, Musik, die gehört wird, alle Videos, die man sieht, alle digitalen Texte, die gelesen werden und das Leseverhalten dabei, alle angeforderten Texte, alle Likes und Klicks, das Netz aller Followers und Friends, alle Kontakte im digitalen Adress- und Notizbuch, alle Käufe und Verkäufe mit allen Firmen und allen Zahlungsvorgängen im Detail, alle Informationen über frühere Werbung, die dem Nutzer gezeigt wurde und wie er reagiert hat, Aufzeichnungen über körperliche Aktivitäten und körperliche Reaktionen, Informationen über jeden Ort der Welt, jede lokale Besonderheit, jetzt auch schon Karten über das Innere von Gebäuden, alle Verkehrsbewegungen aller Nutzer (vor allem durch die Handyortung), und so weiter – bis hin zu Satellitenaufnahmen, die so scharf sind, dass man aus dem All einzelne Objekte erkennen kann, die 10 cm groß sind. Bald wird jede Lebensäußerung der meisten Menschen mit Internetzugang einen dauernden Strom von Daten produzieren, aus denen Firmen, die ihnen unbekannt sind, Profit ziehen. Neue Programme können aus Texten, Gesichtsausdrücken und Stimmmustern menschliche Gefühle auslesen (Affective Computing). Bald wird es über jede Person ein detailliertes Profil geben, das man kaufen oder auch stehlen kann – basierend auf Auswertung durch maschinelle Lernprogramme, die das Verhalten jeder Person immer besser vorhersagbar und damit beeinflussbar macht. Man kann damit z.B. besondere Charaktereigenschaften, Überzeugungen, Bedürfnisse und menschliche Schwächen für kommerzielle und politische Zwecke nützen.[3] Die Verfügbarkeit über diese Daten durch wenige große Firmen wird die permanente Umverteilung von unten nach oben, die dem Kapitalismus innewohnt, weiter beschleunigen.
Die eigentlichen Kunden der Extraktionsfirmen sind nicht die Nutzer, denen die Daten entzogen, sondern die Werbefirmen, denen Informationen verkauft werden.[4] Google verdient vor allem dadurch, dass aktuelle Suchanfragen im Bruchteil von Sekunden auf firmeneigenen Auktionsbörsen verkauft werden. Jede Suchanfrage hat ihren Wert:
»Google maximiert die Einkünfte aus dieser kostbaren Liegenschaft, indem es die beste Platzierung darauf demjenigen Werbekunden zuweist, der Google aller Wahrscheinlichkeit nach am meisten bezahlen wird; das errechnet sich aus dem Preis pro Klick multipliziert mit Googles Schätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der jemand die Werbung tatsächlich anklicken wird.« [5]
Um dieses Ziel zu erreichen, werden von Google sowohl die Nutzer als auch die Firmen, die Werbung schalten, mit komplexen Bewertungsmodellen analysiert. Jede einzelne Suchanfrage hat für Google einen intern berechneten Preis (keyword price index). Mit den Modellen über die Nutzer und über die Firmen werden Wahrscheinlichkeiten berechnet, was die Nutzer tun werden: Werden sie das Werbebanner anklicken, wie lange werden sie auf der angeklickten Seite bleiben, werden sie etwas kaufen, wie viel werden sie kaufen, kann man sie zu weiteren Käufen animieren? – usw. Die Kosten für die Firmen orientieren sich am Suchbegriff und werden pro Klick auf das Werbebanner, pro Erscheinen der Produktanzeige oder als Prozentsatz der erfolgten Verkäufe abgerechnet. Im ersten Fall müssen die Firmen vorher einen Höchstpreis angeben, den sie für einen Klick auf ihre Anzeige zu zahlen bereit sind. Welche Werbung aktuell zum Zug kommt und in welcher Reihenfolge die Werbeanzeigen präsentiert werden, wird in einer Auktion festgelegt. Je weiter vorne eine Firma platziert wird, desto mehr muss sie zahlen. All das spielt sich im Bruchteil von Sekunden ab. Das Internet ist heute eine riesige Auktionsplattform.
In diesem Rahmen hängt der Erfolg der Internetfirmen davon ab, dass sie einen wachsenden Strom von »Datenextraktionen« generieren und mit immer leistungsfähigeren Computern und immer besseren Prognosemodellen analysieren. Auf diese Weise werden sie immer allwissender und immer allmächtiger.
In dem Buch »Mythos Markt. Mythos Neoklassik«, dem dieser Text entnommen ist, wird Friedrich August von Hayek (1899-1992) als wichtigster Theoretiker des Neoliberalismus geschildert. Hayek beschreibt »den Markt« als Entdeckungsprozess. Er denkt ihn wie eine Person (der »wir« zu gehorchen haben) und stattet diese Pseudoperson mit einem »Überwissen« bzw. einem »Überbewusstsein« aus. Angesichts dieses gottgleichen Wesens ist für Hayek jede einzelne Person unwissend und ignorant. Aber das stellt in seinen Augen kein Problem dar, denn es gibt ja »den Markt«. Dessen Regeln sind – wie Hayek schreibt –»ein Instrument, um mit unserer konstitutionellen Ignoranz umgehen zu können.« Damit das gut funktioniert, muss der Mensch nach Hayek »dem Markt« gegenüber »demütig« sein und ihn in seinem Wissen anerkennen – ohne den vergeblichen Versuch machen zu wollen, dieses unergründliche Wesen zu verstehen.
Das, was Hayek für den Kapitalismus insgesamt vorgedacht hat, scheint im Überwachungskapitalismus auf gespenstische Art verwirklicht zu sein. Im Hinblick darauf kann gesagt werden: »Der Markt«, den Hayek als Gott gedacht hat, nimmt im Internet gottähnliche Züge an. Die einzelnen Nutzer haben zu einem immer mehr Wahlmöglichkeiten und können immer mehr von ihrem Leben in Verbindung mit dem Internet gestalten, zum anderen haben sie immer weniger Einflussmöglichkeiten auf die Welt, an der sie hier teilhaben.
Die Internetfirmen stehen mit den Nutzern nicht in wechselseitigen Kunden-Firmen-Beziehungen, sondern unternehmen einseitige Eingriffe in das Privatleben von Personen, die sich kaum dagegen wehren können. Die »Nutzungsbestimmungen« sind komplexe Dokumente, die kaum jemand liest oder verstehen kann. Den Internetkonzernen ist es gelungen, ein »Rechtsuniversum« zu etablieren, das als »privates Enteignungsrecht« beschrieben werden kann (vgl. Zuboff 2018, 68ff.). Dabei gehen die High-Tech-Firmen bei der Datensammlung meist heimlich vor – wie bei Google Street View, bei der »nebenbei« Informationen über alle WLAN-Geräte in den Häusern gesammelt wurden. Der Großteil der »Extraktionen«, die andauernd erfolgen, bleibt der Öffentlichkeit und dem Einzelnen verborgenen. Die meisten Menschen kennen weder die technischen Abläufe noch wissen sie, was die Firmen wirklich tun und in welchem Ausmaß sie davon betroffen sind. Es geht im Klartext um eine Überwachung in einem globalen Maßstab. Der Wert der großen Firmen resultiert aus dem »Überwachungskapital«, das sie für personalisierte Werbung akkumulieren können. Zuboff (2015 und 2018) spricht von einer »Überwachungskultur«, in der kollektiv ein Misstrauen von jedem gegen jeden kultiviert wird: jede Überwachungskamera sagt uns, wir könnten verdächtig sein. Nach Zuboff hat der Kapitalismus eine neue Form als »Überwachungskapitalismus« gefunden. Die Dienste von Google können als eine riesige Überwachungsinfrastruktur verstanden werden. Ihre Komponenten bilden z.B. seit 2004 Gmail und Google Books, seit 2005 Google Maps und Google Earth, seit 2006 YouTube, seit 2007 die offene Android-Plattform für Handys und Google Street View, seit 2008 Google Chrome und Google Play, seit 2011 Google+, seit 2015 Google Photos, seit 2017 die Bilderkennung Google Lens, usw. Alle Daten, die mit diesen Anwendungen gesammelt werden, bilden keine einzelnen Informationsbestände, sondern werden in riesigen Modellen zusammengeführt und integriert ausgewertet.[6] Google besitzt den Überblick, was sich am Globus bewegt. Google ist das Fenster zu dem globalen Universum des Internets, an dem 2018 bereits 55 Prozent aller Menschen teilnehmen.
Hayek hat die Unternehmer als marktnahe Gruppe beschreiben, weil sie wie Techniker das Telekommunikationssystem »des Marktes« anhand von Messinstrumenten übersehen. Google macht genau das – aber nur als eine einzige Firma für die ganze Welt.
Im Überwachungskapitalismus ändern sich grundlegend die Beziehungen, die Firmen zu Menschen eingehen. Den großen Internetfirmen sind letztlich die Nutzer und die Beschäftigten egal, ihr Schicksal spielt keine Rolle. Das Ziel ist, möglichst wenig Inhalte zurückzuweisen; welche Auswirkungen z.B. bösartige fake news haben können, ist belanglos. Die Firmen brauchen auch kaum Personal, Google managt sein globales Suchgeschäft mit nur 48.000 Personen.[7] Wichtig sind eine funktionierende Infrastruktur, die Rechenkapazitäten und die Software, nicht die Menschen. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto weniger müssen sich die Firmen um persönliche Beziehungen oder den Aufbau von Vertrauen kümmern. Ein anonymer technischer Apparat besorgt ihre Geschäfte. Es geht um Informationen und um Daten aus einer großen Masse, nicht um die Inhalte und nicht um einzelne Menschen. Die Kontrolle über die Überwachungsgeräte liegt bei den Firmen, Google kann ferngesteuert und ohne Zustimmung die Systemeinstellung auf jedem Android-Smartphone ändern. Mit den Usern wird zudem andauernd experimentiert. Das Internet ist heute zum Labor für gewinnsuchende Firmen geworden, die immer reicher werden. Ständig werden neue Anwendungen erfunden und täglich die Parameter bestehender Software verändert (wie beim Suchalgorithmus von Google, vgl. Brynjolfsson 2011, 70). Man beobachtet in einem Liveexperiment, ob und wie sich das Verhalten »der Masse« steuern lässt und wie man das gewinnbringend steuern kann.
»Der industrielle Kapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die damaligen Bevölkerungen waren wechselseitig abhängig voneinander. Die Menschen waren Arbeitskräfte und Kunden dieses Systems. Insofern war der Industriekapitalismus – bei all seinen Gräueln– doch ein Kapitalismus für uns. Im Überwachungskapitalismus hingegen sind wir kaum noch Kunden und Angestellte, sondern in erster Linie Informationsquellen, Datenmaterial eines Apparats, dessen Funktionsweisen uns weitgehend verborgen bleiben. Es ist kein Kapitalismus für uns, sondern über uns. Er beobachtet uns, um seine Produkte zu entwickeln.« [8]
Die Personen in diesem System reduzieren sich auf Reiz-Reaktionsmechanismen. Sie leben in einem riesigen Manövrierraum, den sie nicht durchblicken können. Hier wird soziale Macht in bisher unvorstellbarer Weise ausgeübt. Weltweit haben über die Hälfte der Menschheit Zugang zum Internet, 3 von 7 Milliarden Menschen arbeiten mit einem Computer. Facebook hat ungefähr ein Drittel aller Menschen weltweit vernetzt. Facebook und Google können heute politische Wahlen in eine gewünschte Richtung beeinflussen, ohne dass dies jemand merken würde.[9]
Hayeks Vision »des Marktes« war ein Netzwerk, das de facto bewusstlose »Individuen« in ein Gesamtes integriert. Das Internet, das von den Internetfirmen, die Gewinne machen wollen, koordiniert und kontrolliert wird, kann als Ausdruck dieser Vision gedeutet werden. Hayeks »Markt« besitzt ein »Überwissen«, dem gegenüber »die Masse« unwissend ist. Im Überwachungskapitalismus repräsentieren Datenmengen und die Analyseergebnisse aus den Prognosemodellen das zeitgemäße »Überwissen des Marktes«, das als privates Wissen für die Profit- und Akkumulationszwecke der mächtigsten Firmen verwendet wird, aber der Öffentlichkeit und dem Einzelnen verborgen bleibt. Wie eine Steueroase, die die Daten ihrer Kunden versteckt, so entziehen die Internetkonzerne dem Einzelnen die Einsicht in Prozesse, die Gemeinschaften von Millionen steuern. Niemand kennt den Algorithmus von Suchmaschinen oder die Modelle, aufgrund derer die Prognosen erstellt werden. Niemand weiß, nach welchen Kriterien sein eigenes Verhalten ausgewertet und welche Experimente gerade mit ihm unternommen werden.[10] Die Nutzer bewegen sich als unwissende AkteurInnen in einem neuen öffentlichen Raum, der immer mehr ihr Verhalten direkt steuert. Die immer stärker werdende Extraktion in das Private löst das Konzept der Privatheit auf. Die einzelnen sind nicht Eigentümer ihrer Daten, darüber verfügen sie nicht. Die Verfügung liegen bei den Firmen – und bei den Geheimdiensten, mit denen die Firmen kooperieren. Die Politik, die im Denken »des Marktes« gefangen ist, entwirft kaum Gegenkonzepte.
Die Internetfirmen, die heute zu den größten Firmen der Welt zählen, haben das Projekt einer Ökonomisierung der Gesellschaft auf eine neue historische Stufe gestellt. Der Marktfundamentalismus entwickelt zunehmend Strukturen einer totalitären Gesellschaft eines »Marktwissens« im Sinn von Hayek – wie oben angedeutet und in dem erwähnten Buch breit diskutiert. Die neue soziale Organisation von Wissen zersetzt die Gemeinschaft, entzieht den einzelnen, ohne sie zu fragen, ihre Verfügung über ihr privates Wissen. In diesem Netzwerk verfügen die einzelnen »Knoten« (so hat Hayek die Individuen im Netzwerk »des Marktes« beschrieben) angesichts der explodierenden Datenmengen, die Konzerne wie Google, Facebook, Amazon oder Apple auf weitgehend unkontrollierte Weise akkumulieren, über immer weniger Wissen, sie werden zunehmender unwissender (was Hayek begrüßt hat). Die Konzerne und die staatlichen Geheimdienste wissen über jede Person mehr als sie über sich selbst weiß. Hayeks hat vor sieben Jahrzehnten die Menschen als unwissend angesichts »des Marktes« beschrieben, heute trifft dies angesichts der Giganten des Internets zu. Google und Facebook sehen alles und machen andere sichtbar. Sie bestimmen, was am Internet wahrgenommen werden kann und was nicht (vgl. Fiorigliu 2015). Sie selbst bleiben dabei unsichtbar – »der Markt«, den sie kontrollieren, ist noch mehr zu Gott geworden. Damit ist nach Shoshana Zuboff
»die menschliche Gemeinschaft gescheitert […], die Überreste von Vertrauen sind schon lange ausgetrocknet und tot [… und zwar durch den Aufstieg einer neuen universalen Architektur, die irgendwo zwischen Natur und Gott existiert. Ich nenne sie Big Other. Es ist ein allgegenwärtiges vernetztes institutionelles Regime, das jede alltägliche Erfahrung aufzeichnet, umwandelt und zur Ware macht – von Toastern bis zu Körpern, von Kommunikation bis zu Gedanken, und all das mit der Absicht neue Pfade zu Geld und Gewinn zu legen. Big Other ist die souveräne Macht einer nahen Zukunft, die die Freiheit vernichtet […]. Es ist ein neues Regime von unabhängigen und unabhängig kontrollierten Tatsachen, das den Bedarf nach Verträgen, nach Regierungsgewalt und nach einer dynamischen Marktdemokratie verdrängt. Big Other […] strebt [danach], die umfassenden immanenten Tatsachen des Marktes, des sozialen, physischen und biologischen Verhaltens, zu umfassen und zu offenbaren. Die […] Architektur von Big Other […] kann man sich als die materielle Realisierung der ‚erweiterten Ordnung’ von Hayek vorstellen.« (Zuboff 2015, 81, eigene Übersetzung) [11]
Anmerkungen
[1] Zuboff, Shoshana: Überwachungskapitalismus: Wie wir Googles Sklaven wurden, FAZ, akt. am 3.3.2016, www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/shoshana-zuboff-googles-ueberwachungskapitalismus-14101816.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (20.8.2018), mit Verweis auf Schmidt, Eric/Cohen, Jared (2013): Die Vernetzung der Welt: Ein Blick in unsere Zukunft, Reinbeck: Rowohlt.
[2] Das Folgende basiert auf Zuboff 2015, 78ff. und Levy 2009. Ausführliche Erklärungen finden sich in Zuboff 2018.
[3] Vgl. Rosenbach, Eric/Mansted, Katherien: Can Democracy Survive in the Information Age? Harvard Kennedy School, Oktober 2018, www.belfercenter.org/publication/can-democracy-survive-information-age (25.10.2018).
[4] Google und Facebook teilten sich Ende 2017 84% des weltweiten Etats für digitale Werbung (China ausgenommen), nach Zuboff 2018, 584 mit Verweis auf Garrahan, Mattew: Google and Facebook Dominance Forecast to Rise, Financial Times, 4.12.2007).
[5] Coy, Peter: The Secret to Google’s Success, Bloomberg.com 6.3.2006, zit. nach Zuboff 2018, 99.
[6] Eine wichtige Rolle spielen Cookies, sie sind exponentiell gewachsen. Beim Besuch einer einzigen Website werden bis zu mehreren Dutzend Cookies eingefangen, die meisten davon von Dritten, die mit der besuchten Website nichts zu tun haben. Manche Apps starten unbemerkt andere Apps im Hintergrund, die z.B. durch die eingebauten Kameras und Toneingabequellen Informationen übertragen – bis hin zu Ultraschallortungen von anderen Geräten. Auf fast allen beliebten Webseiten ist die Tracking-Infrastruktur von Google implementiert, vgl. Zuboff 2018, 162ff.
[7] Die größten drei Silicon Valley-Firmen hatten 2014 einen Börsenwert von über einer Billion $, Einkünfte von 247 Milliarden $ und 137.000 Beschäftigte. Im alten Fordistischen Geschäftsmodell hatten 1990 die drei größten Autohersteller in Detroit einen Börsenwert von 36 Milliarden $, Erträge von 250 Milliarden $ und 1,2 Millionen Beschäftigte. Zahlen nach Zuboff 2015, 80.
[8] Shoshana Zuboff im Interview, Der Spiegel 40, 29.9.2018, 69.
[9] »The search algorithms are protected as trade secrets, and the reasons for manual manipulation of rankings, particularly in any given case, are not publicly or privately revealed. This results in a quagmire wherein businesses rely on the search results, yet have no access to understanding changes in such results, even when the changes have a marked impact on the company’s sustainability” (Laidlaw, E.B. (2008): Private Power, Public Interest: An Examination of Search Engine Accountability, International Journal of Law and Information Technology, 1, 113-145, hier 137, zit. nach Fioriglio 2015, 400.
[10] «The search algorithms are protected as trade secrets, and the reasons for manual manipulation of rankings, particularly in any given case, are not publicly or privately revealed. This results in a quagmire wherein businesses rely on the search results, yet have no access to understanding changes in such results, even when the changes have a marked impact on the company’s sustainability” (Laidlaw, E.B. (2008): Private Power, Public Interest: An Examination of Search Engine Accountability, International Journal of Law and Information Technology, 1, 113-145, hier 137, zit. nach Fioriglio 2015, 400.
[11] Vgl. dazu die beeindruckende Liste von Parallele von Big Other zum Big Brother in 1984 von George Orwell in Zuboff 2018. 441.
Bei diesem Artikel handelt es sich um ein leicht überarbeitetes und ergänztes Kapitel aus dem aktuellen Buch des Autors: »Mythos Markt. Mythos Neoliberalismus. Das Elend des Marktfundamentalismus«, erschienen bei Metropolis. Die genauen Quellenangaben können dort nachvollzogen werden. Intention des Buches ist die Anwendung von Friedrich August von Hayeks Wissensbegriff auf aktuelle Phänomene. Wir danken für die Möglichkeit zur Zweitveröffentlichung.
Walter Otto Ötsch ist ein österreichischer Ökonom und Kulturwissenschaftler. Er ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues.