Rezension

Wir Untoten des Kapitals

15. Dezember 2020 | Bernd Hüttner

Nach 40 Jahren Neoliberalismus und angesichts der allerorts erkennbaren desaströsen Folgen des Klimawandels und eines rein auf materielle Faktoren beschränkten Wachstumsbegriffs sei es an der Zeit, dass sich die Linke endlich der stofflichen Seite der Produktion zuwende, ohne dabei Fragen von Macht und Eigentum zu vernachlässigen. Wachstum als Selbstzweck sei heute destruktiv und deswegen kein Ziel mehr für die Linke. Die fulminante Produktivitätssteigerung bei gleichzeitig sinkender Lebensarbeitszeit biete ungeahnte Möglichkeiten. Gleichwohl sei die Ära von individueller Automobilität und fossiler Energieträger zu Ende.

Der linke Fortschrittsoptimismus und produktivistische Arbeitsdiskurs sei von einem Blick auf das »gute Leben« und mehr Care-Tätigkeiten und deren Anerkennung zu ersetzen. Es gehe also nicht um einen Green New Deal, sondern darum, den Energie- und Ressourcenverbrauch zu drosseln und zu verlangsamen (202). Der an Gramsci, Altvater, Negri und der Regulationstheorie geschulte Autor ist nicht naiv. Er kennt die Erfahrungen der radikalen sozialen Bewegungen Europas ebenso wie die der »linken« Regierungen Griechenlands, Spaniens oder Südamerikas. Im Buch geht er auch die Defizite bisheriger Befreiungsversuche kenntnisreich durch. Raul Zelik war Mitgründer der Berliner linksradikalen, postautonomen Organisation »Für eine linke Strömung« (FelS), die heute in der Interventionistischen Linken aufgegangen ist. 2012 wurde er Mitglied der Partei Die Linke und im Mai 2016 in deren Parteivorstand gewählt.

Der übermäßige Konsum bzw. Energie- und Ressourcenverbrauch der globalen Herrschaftseliten sei zuallererst zu unterbinden, dies gehe aber nur, wenn die Eigentumsfrage gestellt werde. Eine solche Reduktion hätte immense positive Auswirkungen auf das Klima und »die Umwelt«. Der Statuskonsum der Mittelschichten sei oftmals eine Reaktion auf die von diesen Menschen empfundene Sinnentleerung. Diese sei auch ein Thema, der sich eine aufgeklärte Linke stellen müsse.

Die viel diskutierte Gegenüberstellung von Klassen- und Identitätspolitik sei, so Zelik, künstlich und falsch, denn Klassen- sei immer auch Identitätspolitik und umgekehrt. Die sozialistische Bewegung aber die einzige, die historisch und aktuell die Eigentumsfrage gestellt habe. Der Kern des linken Projektes sei universal, in seinem Verlangen nach sozialer Emanzipation.

Normativ gehe es darum, und dies wird von Zelik diskutiert, ein »gutes Leben«, Solidarität, Kooperation, Ermächtigung und Demokratisierung (von Gesellschaft und ebenso der Wirtschaft), ökologische Konversion, und in Richtung eines globalen Antirassismus und vielfältiger, queerer Geschlechterperspektiven zu denken und dafür zu streiten. Solidarische Ökonomien könnten sich mit einem sog. Infrastruktursozialismus gut vertragen. Die »klassische« Rätedemokratie reichet nicht (mehr) aus, da es nicht nur um Produktion (im herkömmlichen Sinne) gehe, sondern ebenso um Konsum und die Care Economy.

Zelik hat beeindruckend viel Literatur verarbeitet, nennt Studien und andere Quellen. Vieles erinnert an die vor über 20 Jahren erschienenen Bücher und Texte von Christoph Spehr, der aber nicht zitiert wird . Solidarität und Sorge umeinander ist Kern einer transformatorischen Bewegung und Macht. Die solle »revolutionäre Realpolitik« machen, müsse die alte Dialektik von »Staat« und »Bewegung« nochmals untersuchen und sich erinnern, dass Sozialismus von Gesellschaft komme, und nicht vom Staat. Hier bietet das Buch einen kritischen Durchgang durch linke Utopien und Staaten (Sowjetunion, China, Jugoslawien), und kommt nicht nur am Beispiel Venezuela zum Schluss dass so etwas wie in ein »Rechtsstaat« hilfreich sei, um Korruption und extrem autoritäre, personalisierte Führung zu be, wennn nicht verhindern. Soziale Bewegungen müssten heute, statt »Subkultur« zu leben, Druck für konkrete, erfüllbare Forderungen aufbauen und eine verbindende Erzählung und Partei schaffen (302).

Utopien helfen der Linken und sie sind im Moment Mangelware. Zelik hat eine aufgeschrieben und ein wichtiges und lesenswertes Buch vorgelegt, das neue und bedenkenswerte Ideen und Sichtweisen enthält: Ja, die Linke muss neu gedacht werden, aber sie hat auch einen reichhaltigen Erfahrungsschatz. Ein unbedingt lesenswertes und wichtiges Buch.

Bibliografische Angaben

Raul Zelik: Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus, suhrkamp Verlag Berlin 2020, 328 Seiten, 18 EUR.

Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Bremen und ist Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Webseite: www.bernd-huettner.de.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/wir-untoten-des-kapitals--2377.html   |   Gedruckt am: 23.04.2024