Bahnprivatisierung – Erfahrungen und notwendige Konsequenzen

27. Juni 2013 | Patrick Schreiner

schland scheint es mit der Finanzkrise ab 2009 schlagartig still um ein Thema geworden zu sein, das in den 15 Jahren vor dieser Krise äußerst scharf und von einer breiten Öffentlichkeit debattiert wurde: Bahnprivatisierung. Der eigentlich für Ende der 2000er Jahre vorgesehene Börsengang, von Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn vehement angestrebt, wurde allerdings in erster Linie nur deshalb abgesagt, weil heute nicht einmal annähernd die gewünschten Einnahmen erzielt werden könnten. Vom Tisch ist die Bahnprivatisierung damit noch nicht. Sie vollständig abzublasen, wäre aber das einzig Richtige angesichts der Erfahrungen, die in den letzten 20 Jahren in Großbritannien, Neuseeland und auch in Deutschland gemacht wurden.

Ein kurzer Blick zurück: Im Zuge der neoliberalen Wende der 1970er Jahre ideologisch vorbereitet, wurde ab den 1980er Jahren die öffentliche Daseinsvorsorge in zahlreichen Staaten liberalisiert und ehemals staatliche Unternehmen privatisiert. Einen Höhepunkt fand diese Entwicklung in den 1990er Jahren. Damals wie heute sind die Begründungen die gleichen: Private, so wird wieder und wieder kolportiert, seien günstiger und effizienter als staatliche Unternehmen. Zudem erhoffte man sich durch den Verkauf der Unternehmen größere Einnahmen für die öffentliche Hand.

Für den Eisenbahnsektor war dabei in vielen Ländern die erste Hälfte der 1990er Jahre entscheidend: So privatisierten 1993 sowohl Großbritannien als auch Neuseeland ihre ehemals staatseigenen Bahnen vollständig. Gerade Großbritannien verstand sich mit dieser Politik sehr offensiv und selbstbewusst als Vorreiter gegenüber anderen, zögerlicheren Staaten. In Deutschland wurde die ehemalige Deutsche Reichsbahn der DDR mit der Deutschen Bundesbahn verschmolzen, diese gesamtdeutsche Bahn wurde 1994 formell privatisiert. Anders als die Bahnunternehmen in Großbritannien und Neuseeland blieb allerdings die neue Deutsche Bahn AG (DB AG) zunächst in Staatsbesitz. Gleichwohl wurde im deutschen Bahnsektor Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern herbeigeführt. Die Deutsche Bahn AG sollte lediglich einer von vielen Anbietern sein – und später selbst im Rahmen ihres Börsengangs zu einem auch materiell (teil-) privatisierten Unternehmen werden. Im Mai 2008 forderte der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD die Bundesregierung auf, sobald möglich 24,9 Prozent der Anteile an DB-Bahngesellschaften zu verkaufen.

Die Politik des Unternehmens unterschied sich angesichts dieser politischen Vorgabe, die den neuen DB-Managern rasch in Fleisch und Blut überging, nicht im Geringsten von der Politik vollständig privatisierter Bahn-Unternehmen im Ausland. Kosten runter und Konzentration auf renditeträchtige Strecken – so lässt sich die Politik der privatisierten Bahnen in Deutschland, Großbritannien und Neuseeland kurz zusammenfassen. Nicht das umwelt- und verkehrspolitisch Sinnvolle, sondern die betriebswirtschaftliche Rendite wurde zum Maßstab.

Das hatte Konsequenzen: Bei der DB AG ist die Zahl der Stellen (Vollzeitäquivalente) im Schienenbereich zwischen 1994 und 2010 von 320.000 auf 155.000 zurückgegangen; gleichzeitig stieg der Umsatz je Arbeitsplatz (wiederum Vollzeitäquivalente) von 41.600 auf 136.600 Euro. Für die Beschäftigten ging die Bahnreform zudem mit teilweise deutlichen Lohneinbußen einher – insbesondere wenn sie zu den neuen Privatbahnen wechselten, bei denen das Lohnniveau im Regelfall deutlich unter dem der DB AG lag und liegt. Aber auch bei der DB AG selbst wurden Leiharbeit eingeführt und Unternehmensteile tarifsenkend ausgegründet.

Gespart wurde aber nicht nur beim Personal, sondern auch bei den Investitionen. Während letztere 1998 noch 31 Prozent des Umsatzes ausmachten, sanken sie bis 2008 auf nur noch 17 Prozent. Besonders stark ist der Rückgang bei Investitionen aus DB-Eigenmitteln (1998: 3 Mrd. Euro, 2010: 2 Mrd. Euro), während die Investitionen aus Mitteln von Bund, Ländern, Kommunen und Europäischer Union sogar leicht anstiegen (1998: 4,6 Mrd. Euro, 2010: 4,8 Mrd. Euro). Diese Werte sind dabei nicht einmal inflationsbereinigt, so dass die tatsächlichen (realen) Rückgänge bei den Investitionsausgaben noch höher ausfallen.

Begleitet wurde diese Politik des Sparens bei Personal und Investitionen von umfangreichen Strecken-Stillegungen. 1992 umfasste das gesamte Streckennetz in Deutschland noch 40.537 Kilometer, 2010 nur noch 33.723. Die Zahl der Bahnhöfe sank um über 36 Prozent, die Zahl der Gleisanschlüsse von Unternehmen ging sogar um über 71 Prozent zurück. Ein konsequentes Verlagern des Verkehrs von der Straße auf die Schiene, wie es nicht zuletzt umwelt- und klimapolitisch sinnvoll wäre, sieht anders aus.

Nicht alle Folgen dieser Politik sind Thema in den Medien, manche aber schon: Zu nennen sind hier insbesondere die fast schon regelmäßigen Zugausfälle an kalten Wintertagen sowie die Ausfälle von Klimaanlagen in heißen Sommern. Weniger bekannt ist, dass sich durch unterlassene oder unzureichende Instandsetzungsarbeiten der Zustand des Bahnnetzes in Deutschland deutlich verschlechtert hat. Die Zahl der Langsamfahrstellen scheint zuzunehmen und Überholgleise werden abgebaut – was sich relativ einfach vertuschen lässt, indem man die längere Fahrzeit schlicht in den Fahrplan aufnimmt. So dauert heute beispielsweise die Fahrt von Basel nach Hamburg laut Fahrplan 14 Minuten länger als 1996; die von München nach Stuttgart sogar 23 Minuten länger als 1995. Dem stehen horrende und öffentlichkeitswirksame Investitionsprojekte gegenüber, bei denen mit wenigen Minuten Fahrtzeitverkürzung geworben wird – beispielsweise "Stuttgart21".

Dies zeigt: Die Folgen der formellen Bahnprivatisierung in Deutschland sind heute schon verheerend. Die Folgen der noch weiterreichenden, nämlich vollständigen materiellen Privatisierung in Großbritannien und Neuseeland aber sind noch gravierender. Insofern können diese beiden Länder durchaus als negative Vorbilder dienen; sie zeigen, was passieren kann, wenn sich die Privatisierer in Deutschland eines Tages durchsetzen sollten.

In Neuseeland ließen private Investoren, die 1993 Schienennetz, Personenverkehr und Frachtverkehr übernommen hatten, die Infrastruktur weitgehend verfallen. Zunächst gute Geschäftszahlen (Unternehmensgewinne und steigende Aktienkurse) basierten weitgehend auf unterlassenen Ausgaben für Investitionen und Instandhaltung. Verspätungen häuften sich folgerichtig ebenso wie sichtbare Zeichen des Verfalls von Schienen und Zügen. 2003 sah sich die damalige Regierung zum Handeln gezwungen: Das Streckennetz wurde wieder verstaatlicht, für den Betrieb wurde ein neuer privater Investor gewonnen. Doch die Situation besserte sich nicht. 2008 schließlich wurde die Bahn wieder vollständig verstaatlicht – von dem privaten Investor zurückgekauft für 665 Mio. Neuseeland-Dollar. Ein gutes Geschäft für die Privaten, ein schlechtes für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler: Als man die Bahnen 1993 privatisierte, nahm der Staat 332 Mio. Dollar ein – er realisierte damit 2008 einen satten Verlust von 333 Mio. Dollar.

In Großbritannien zeigt sich ein verblüffend ähnliches Bild. Die Bahn wurde 1993 privatisiert, und auch dort verzeichneten die Unternehmen zunächst satte Gewinne. Insbesondere die privatisierte Infrastrukturgesellschaft Railtrack konnte deutliche Überschüsse verzeichnen. Doch ähnlich wie in Neuseeland folgte auch in Großbritannien ein böses Erwachen: Man hatte jahrelang nur deshalb Gewinne gemacht, weil man Investitionen und Instandhaltungsmaßnahmen unterließ, Personal abbaute und Löhne drückte. Mehr als zwanzig schwerwiegende, oft tödliche Unfälle waren die Folge. 2001 wurde Railtrack wieder verstaatlicht, auch hier mussten britische Steuerzahlerinnen und Steuerzahler viele Mio. Britische Pfund drauflegen. Der Bahnbetrieb ist heute immer noch privat; eine Vielzahl an Unternehmen konkurriert miteinander im Rahmen staatlicher Ausschreibungen. Die Kosten für den Bahnbetrieb sind heute höher als vor der Privatisierung; und auch im Vergleich mit anderen Staaten erweist sich das britische Bahnsystem als deutlich weniger effizient. Zum Ausgleich der Verluste privater Bahnunternehmen wird regelmäßig der britische Staatssäckel herangezogen.

Übrigens: In der Schweiz sind die Eisenbahnen nach wie vor staatlich. Die Schweiz hat heute eines der dichtesten und zugleich kostengünstigsten Bahnnetze in Europa. Und trotz geografisch eher ungünstigen Gegebenheiten hat sie obendrein eines der pünktlichsten Bahnsysteme.

Es gilt, aus den Erfahrungen Deutschlands, Neuseelands, Großbritanniens und der Schweiz zu lernen: Finger weg von Privatisierungen im Bahnbereich.

Quellen

  1. Knierim, Bernhard: Der McNulty-Report. Bahnprivatisierung in Großbritannien schöngeredet. In: Lunapark21 17 (2012). S. 56-58.
  2. Knierim, Bernhard/ Wolf, Winfried (2011): Die wahre Bilanz der Bahn oder: Was Rüdiger Grube lieber verschweigt. Der Alternative Geschäftsbericht zur Bilanz der Deutschen Bahn 2010. In: Lunapark21 Extra 5 (2011). S. 5-56.
  3. Meyer, Maximilian (2011): Die gescheiterte Bahnreform. Ursachen - Folgen - Alternativen. Darmstadt.
  4. Richter-Steinke, Matthias (2011): Auswirkungen von Privatisierung auf Gewerkschaften. Die Privatisierung der europäischen Eisenbahnen am Beispiel der Deutschen Bahn im Kontext von Liberalisierung, Europäisierung und Globalisierung. <http://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-5964/diss_richter-steinke_buchblock.pdf> (28.04.2011). Münster.
  5. http://www.verkehrsrundschau.de/neuseeland-bahn-privatisierung-gescheitert-651890.html
  6. http://www.informelles.de/2008/05/06/neuseeland-macht-bahnprivatisierung-rueckgaengig/

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/bahnprivatisierung-erfahrungen-und-notwendige-konsequenzen--994.html   |   Gedruckt am: 26.04.2024