Dokumentation

Richard Layard & Paul Krugman: Ein Manifest für wirtschaftliche Vernunft

11. Juli 2012 | Redaktion

ugman und Richard Layard haben jüngst ein "Manifest für wirtschaftliche Vernunft" veröffentlicht, das mittlerweile von vielen Menschen online auf http://www.manifestoforeconomicsense.org/ unterzeichnet wurde. Sie setzen damit ein Zeichen gegen Kürzungs- und Austeritätspolitik, gegen Neoliberalismus und Verelendung. Ich dokumentiere im Folgenden eine deutschsprachige Übersetzung des Manifests.

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Mehr als vier Jahre nach Beginn der Finanzkrise bleiben die weltweit wichtigsten Volkswirtschaften zutiefst in Flaute oder Depression -  eine allzu bekannte Situation aus den 1930er Jahren. Der Grund ist einfach: Wir verlassen uns auf die gleichen Konzepte, welche die damalige Politik geprägt hatten. Diese Ideen - inzwischen längst widerlegt - beinhalten tiefgreifende Irrtümer, sowohl über die Ursachen der Krise, als auch ihre Natur und die angemessene Reaktion.

Diese Irrtümer sind tief im öffentlichen Bewusstsein verwurzelt und sorgen für die Unterstützung der Öffentlichkeit für die maßlose Kürzungspolitik in vielen Ländern. Somit ist die Zeit reif für ein Manifest, in dem Mainstream-Ökonomen der Öffentlichkeit eine andere, erfahrungsbasierte Analyse der aktuellen wirtschaftlichen Probleme aufzeigen.

- Die Ursachen

Viele politische Entscheidungsträger bestehen darauf, dass die Krise durch unverantwortliche öffentliche Kreditaufnahme verursacht wurde. Mit sehr wenigen Ausnahmen - außer Griechenland – ist dies falsch. Stattdessen wurden die Ursachen für die Krise durch übermäßige Kreditaufnahme und Kreditvergabe des privaten Sektors geschaffen, unter anderem durch Banken mit zu geringer Eigenkapitalquote. Der Zusammenbruch dieser Blase führte zu einem massiven Rückgang der Produktion und damit des Steueraufkommens. Also sind die großen Staatsdefizite, die wir heute sehen, eine Folge der Krise, nicht ihre Ursache.

- Die Natur der Krise

Als Immobilienblasen auf beiden Seiten des Atlantiks platzten, haben viele Teile des Privatsektors die Ausgaben gekürzt - in einem Versuch, die Altschulden zurückzuzahlen. Das war eine rationale Reaktion auf Seiten der Individuen, hat sich aber - ebenso wie die ähnliche Reaktion der Schuldner in den 1930er Jahren - als kollektive Selbstzerstörung erwiesen. Die Ausgaben des einen sind nämlich die Einnahmen des anderen. Das Ergebnis des Ausgabenkollapses war eine ökonomische Depression, welche die öffentliche Verschuldung vergrößert hat.

- Die angemessene Reaktion

Zu einem Zeitpunkt, wenn der private Sektor insgesamt versucht, weniger auszugeben, sollte die Politik als eine stabilisierende Kraft handeln und versuchen, die Ausgaben zu erhalten. Zumindest sollten wir nicht alles noch schlimmer machen durch große Einschnitte in Staatsausgaben oder Steuererhöhungen für gewöhnliche Bürger. Leider ist es genau das, was viele Regierungen jetzt tun.

- Der große Fehler

Nach angemessener Reaktion in der ersten, akuten Phase der Wirtschaftskrise setzte sich in der Wirtschaftspolitik eine falsche Meinung durch: Man konzentrierte sich auf öffentliche Defizite, welche vor allem die Folge des krisenbedingten Einbruchs der Staatseinkünfte waren. Man argumentierte, der öffentliche Sektor sollte versuchen, seine Schulden im Tandem mit dem privaten Sektor zu reduzieren. Als Konsequenz davon hat die Fiskalpolitik die wirtschaftsdämpfenden Auswirkungen der privaten Sparpolitik noch weiter verschlimmert, anstatt eine stabilisierende Rolle zu spielen.

Im Falle einer weniger schweren Krise könnte die Geldpolitik sich der Sache annehmen. Aber mit Zinsen nahe Null kann die Geldpolitik dies nicht leisten - selbst wenn sie wollte. Natürlich muss es einen mittelfristigen Plan zur Verringerung der staatlichen Defizite geben. Aber erfolgt dies zu rasch, kann es leicht ins Auge gehen, indem es die wirtschaftliche Erholung abwürgt. Von entscheidender Bedeutung ist jetzt, die hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren, bevor sie chronisch wird und so eine wirtschaftliche Erholung und die künftige Verringerung der Staatsdefizite noch weiter erschwert.

Wie beantworten nun diejenigen, welche die gegenwärtige Politik unterstützen, unsere eben dargestellten Argumente?

Sie verwenden zwei verschiedene Ansätze zur Stützung ihrer Ansichten.

Das Vertrauens-Argument

Ihr erstes Argument ist, öffentliche Defizite würden die Zinsen erhöhen und so eine Erholung verhindern. Im Gegensatz dazu argumentieren sie, Sparmaßnahmen würden das Vertrauen fördern und somit eine wirtschaftliche Erholung befördern.

Für dieses Argument gibt es jedoch keinerlei Beweise.

Erstens: Trotz außergewöhnlich hoher Defizite sind die Zinsen heute in allen wichtigen Ländern mit einer normal funktionierenden Zentralbank historisch tief. Dies gilt selbst für Japan, wo die Staatsverschuldung jetzt mehr als 200% des jährlichen BIP beträgt. Frühere Herabstufungen durch die Rating-Agenturen hatten keinen Einfluss auf die japanischen Zinsen. Die Zinssätze sind nur in einigen Euro-Ländern hoch, da es der EZB nicht gestattet ist, als Kreditgeber letzter Instanz für die Regierungen aufzutreten. Anderswo kann die Zentralbank immer, wenn nötig, das Defizit finanzieren, und dabei die Anleihemärkte unberührt lassen.

Darüber hinaus ist aus der Vergangenheit kein relevanter Fall bekannt, wo Budgetkürzungen tatsächlich wirtschaftliche Aktivität erhöht hätten. Der IWF hat 173 Fälle von Budgetkürzungen in einzelnen Ländern untersucht und festgestellt, dass die konsequente Folge davon wirtschaftlicher Abschwung war. In den wenigen Fällen, in denen auf Haushaltskonsolidierung wirtschaftliches Wachstum folgte, waren die entscheidenden Faktoren eine Abwertung der Währung gegen einen starken Weltmarkt, was aktuell aber nicht möglich ist. Die Lektion der IWF-Studie ist klar - Budgetkürzungen verzögern wirtschaftliche Erholung. Und genau das passiert jetzt - die Länder mit den größten Haushaltskürzungen erfahren die stärksten wirtschaftlichen Einbrüche.

In Wahrheit - wie wir jetzt sehen können - können Budgetkürzungen keineswegs das Vertrauen der Wirtschaft herstellen. Unternehmen werden nur dann investieren, wenn sie absehen können, dass es genug Kunden mit genug Einkommen gibt, welches sie ausgeben können. Austeritätspolitik schreckt Investoren ab.

Somit ist das Vertrauens-Argument eindeutig widerlegt. Alle angeblichen Beweise zu Gunsten dieser Doktrin haben sich bei näherer Betrachtung verflüchtigt.

Das strukturelle Argument

Ein zweites Argument gegen die Steigerung der Nachfrage ist, dass die Produktion in Wirklichkeit durch die Angebotsseite beschränkt sei - durch strukturelle Ungleichgewichte. Wäre diese Theorie richtig, sollten aber zumindest einige Sektoren unserer Volkswirtschaften voll ausgelastet sein, und es sollte Vollbeschäftigung in einigen Berufsfeldern geben. In den meisten Ländern ist dies jedoch nicht der Fall. Alle wichtigen Branchen unserer Volkswirtschaften haben Probleme und jeder Beruf hat eine höhere Arbeitslosigkeit als üblich. Also muss das Problem ein allgemeiner Mangel an Ausgaben und Nachfrage sein.

In den 1930er Jahren wurde das gleiche strukturelle Argument gegen aktive Ausgabenpolitik in den USA ins Feld geführt. Als jedoch die Ausgaben zwischen 1940 und 1942 stiegen, stieg auch die Wirtschaftsleistung um 20%. Das Problem in den 1930er Jahren war also damals wie heute eine zu geringe Nachfrage und nicht ein zu geringes Angebot.

Als Ergebnis solcher irrigen Ideen bürden viele westliche Politiker ihren Bevölkerungen massive Leiden auf. Doch die Konzepte, mit denen sie die Rezessionen in den Griff bekommen wollen, wurden von fast allen Ökonomen nach den Katastrophen der 1930er Jahre abgelehnt. In den darauf folgenden 40 Jahre erlebte der Westen eine beispiellose Periode der wirtschaftlichen Stabilität und niedrigen Arbeitslosigkeit. Es ist tragisch, dass in den letzten Jahren die alten Ideen wieder Fuß gefasst haben. Doch wir können nicht mehr länger eine Situation akzeptieren, in der falsche Ängste vor höheren Zinsen bei politischen Entscheidungsträgern stärker wiegen als der Schrecken der Massenarbeitslosigkeit.

Bessere Politik wird zwischen den einzelnen Ländern unterscheiden und bedarf einer ausführlichen Debatte. Doch muss sie auf einer korrekten Analyse des Problems basieren. Wir fordern deshalb alle Ökonomen und andere, die mit dem allgemeinen Tenor dieses Manifestes übereinstimmen, auf, dieses auf www.manifestoforeconomicsense.org zu unterzeichnen und sich öffentlich für diesen besseren Ansatz einzusetzen.

Die ganze Welt leidet, wenn Männer und Frauen über etwas, das falsch ist, schweigen.

Text: Richard Layard und Paul Krugman; Übersetzung: Georg Nagele und Lars Niggemeyer

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/richard-layard-paul-krugman-ein-manifest-fuer-wirtschaftliche-vernunft--865.html   |   Gedruckt am: 25.04.2024