17. April 2012 | Sebastian Friedrich, Selma Haupt
hren ist in Bezug auf das Thema Migration ein Schlagwort vorherrschend: Integration [1]. Die herrschende Rede und Politik von Integration imaginiert (Post-)Migrant_innen als „Andere“, die durch kulturelle, ökonomische, sprachliche und identitäre Anpassung in das Vorherrschende eingegliedert werden müssen. Geprägt ist das Integrationsdispositiv durch repressive Maßnahmen wie die Teilnahmepflicht an Integrationskursen, Einbürgerungstests, Ideen von „Integrationsvereinbarungen“ oder „Integrationslotsen“. Die Wirksamkeit von „Integration“ begründet sich in Gesetzen, öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionen oder in konkreten Handlungen. Gerade die scheinbare Unbestimmtheit von Integration als ein Begriff, unter dem alle Themen gefasst werden, die um Migration kreisen, begründet seinen Erfolg. Der Begriff setzt Verbindungen zwischen Themenkomplexen, die zuvor gar nicht oder kaum diskursiv verbunden wurden, wie etwa bei der Verbindung von Islam, Emanzipation und Terrorismus. Als hegemonial erweist sich dabei die Verknüpfung des Integrationsbegriffs mit negativ konnotierten Begriffen, die einerseits Renitenz („I-Verweigerung“, „I-Unwilligkeit“), andererseits Defizite („I-Unfähigkeit“, „I-Defizit“) der „Anderen“ bezeichnen (vgl. Mecheril 2011: 50).
(Post-)Migrant_innen im Fokus
Dieses vorherrschende Verständnis zeigt sich deutlich bei der Debatte, provoziert von dem Buch „Deutschland schafft sich ab“ des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin, die im Spätsommer 2010 begann und den Integrationsdiskurs nicht nur stark komprimiert abbildet, sondern diesen zugleich zuspitzt. Damit bietet sich die „Sarrazindebatte“ mit ihren Argumenten und in ihrer Dichte weiterhin als Ausgangspunkt für die Analyse aktueller Verschränkungen von Rassismus und Leistung an.
In aller Kürze zur Erinnerung: Sarrazin fürchtet sich vor dem Untergang Deutschlands, den er in der verminderten wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen durch die „Verdummung“ der Gesellschaft ausmacht und dies mit einer biologistischen Auffassung von der Vererbbarkeit von Intelligenz begründet. Diese Intelligenz würde wiederum durch eine vermeintliche Islamisierung verringert, die zugleich zum kulturellen Verfall Deutschlands führe. In der evozierten „Sarrazindebatte“ wurde der ehemalige Berliner Finanzsenator gerade zu Beginn kritisiert, dennoch bestand und besteht im Wesentlichen sowohl auf Seiten der „Thilo-Fans“ als auch bei den (meisten) Kritiker_innen Einigkeit über die Notwendigkeit der Sicherung des Standortes Deutschlands. Nach der „Nützlichkeit“ des Einzelnen zu fragen, stellt sich dabei als selbstverständlich und die Kategorie selbst als unhinterfragbar heraus. Obgleich Sarrazin in seinem Buch nicht nur über „Muslime“ oder „Migranten“ spricht, sondern Betroffene sozialer Ungleichheit insgesamt Zielscheibe sind, rücken in der „Sarrazindebatte“ bei der Frage, wer nützlich und wer unbrauchbar erscheint, insbesondere (Post-)Migrant_innen in den Fokus. Die diffamierende Rede gegen „die Unterschicht“ verschiebt sich in Richtung der „migrantischen Unterschicht“. Die Anschlussfähigkeit liegt in der Verknüpfung des neoliberalen Leistungsdiskurses mit dem rassistischen Sprechen über (Post-)Migrant_innen begründet. Die Fragen, wie sich diese Verknüpfung gestaltet, warum sie funktioniert und erwünscht ist und welche Konsequenzen sie hat, stehen im Zentrum der folgenden Betrachtungen.
Gerechte Leistung?
Der Leistungsdiskurs suggeriert: Wer genügend leistet, kann es zu „etwas“ bringen. Bei Debatten um „Integration“ werden Beispiele von armen und benachteiligten aber äußerst intelligenten und fleißigen Kindern angeführt, die es trotz der schlechten Ausgangslage aufgrund ihrer Leistungen geschafft hätten, in prestigeträchtige und gut bezahlte Berufe zu kommen. Harte Arbeit führe also zu sozialem Aufstieg. Fern von glücklichen Einzelbeispielen bedeutet „Leistungserfüllung“ jedoch keineswegs sozialen Aufstieg. Gerade das deutsche Bildungssystem diskriminiert Kinder aus (post-)migrantischen Haushalten strukturell, unabhängig von der Leistung der Einzelnen. Von der mantraartig beschworenen „Leistungsgerechtigkeit“ kann keine Rede sein. Auch im Bildungsbericht 2010 zeigt sich, dass „Kinder mit Migrationshintergrund selbst bei gleichem sozioökonomischen Status bis zu doppelt so häufig an Hauptschulen zu finden sind wie Kinder ohne Migrationshintergrund“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung: 8). Leistung wird also einerseits von allen gleich gefordert, andererseits aber nicht bei allen gleich bewertet. Leistung ist nicht nur in diesem Sinne uneindeutig. Ebenso wird sie nicht mehr im klassischen Sinne am Arbeitsaufwand gemessen, sondern einzig an den wirtschaftlichen Erfolgen (Dröge 2007: 13). Der verwertbare Output ergibt sich nicht notwendigerweise aus den investierten Anstrengungen, sondern vor allem aus der wirtschaftlichen Nachfrage und den Interessen gesellschaftlich dominierender Gruppen. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit der Einzelnen beinhaltet also in ihrer Konsequenz das Urteil darüber, wer brauchbar erscheint und wer unbrauchbar und unerwünscht ist. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen: bei den Vergabekriterien für Hartz IV, bei Einstellungsgesprächen oder Kündigungsgründen, in den Anforderungen für Aufenthaltstitel und in politischen Diskussionen um Einwanderung. Die herrschende neoliberale Logik, die Leistung immer mit Brauchbarkeit verknüpft, greift nicht nur institutionell bei Entscheidungsträger_innen, die Logik ist vielmehr allgemein verinnerlicht. Die Subjektivierungsform der Selbstregierung hat etwa Ulrich Bröckling (2007) in der Figur des „Unternehmerischen Selbst“ herausgestellt. Auch im öffentlich-medialen Diskurs verfestigt sich dieses nutzenbasierte Leistungsverständnis durch Äußerungen wie die von Guido Westerwelle über „spätrömische Dekadenz“ im Februar 2009 oder der wenige Monate später folgenden Ansage zum Klassenkampf von oben des Neo-Aristokratiers Peter Sloterdijk, demnach in Wahrheit die „Leistungsträger“ ausgebeutet würden von denjenigen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Leistung, insbesondere im Kompositum Leistungsgerechtigkeit, ist gesellschaftlich als Maßstab zur individualisierten Beurteilung anerkannt und gilt als objektive, flächendeckend anzuwendende Kategorie. In dieser Gesellschaft fungiert Leistung jedoch nur als notwendige und nicht als hinreichende Bedingung für Zugehörigkeit.
Rassismusfreie Leistung?
Dieses neoliberale Leistungsverständnis wird aktuell folgenreich mit rassistischen Praxen verknüpft. In dieser Verbindung mit der Leistungsideologie zeigt Rassismus, wie seine kontinuierliche Durchsetzungskraft auf Flexibilität rekurriert. Auch wenn aktuell zuweilen expliziter Biologismus im öffentlichen gesellschaftlichen Mainstream kritisiert wird, hat Rassismus nicht an Wirkmächtigkeit und Einfluss verloren, sondern vielmehr seine Form verändert. Biologistische Rasse-Konzepte werden abgelöst von kulturellem Rassismus, der sich gegenwärtig etwa im antimuslimischen Rassismus ausdrückt (Shooman 2011). Das rassistische Wissen geht nicht verloren oder wird durch den Leistungsdiskurs verdrängt, sondern verschränkt sich vielmehr mit diesem und entwickelt darin neue Stärke.
Diese Verknüpfung spiegelt sich im Integrationsdispositiv wider. Die Entgegnungen auf Sarrazin machen (Post-)Migrant_innen nicht mehr ausschließlich in biologistisch- bzw. kulturrassistischer Weise zu „Anderen“; im Herausstellen von „Musterbeispielen gelungener Integration“ wird ihnen – scheinbar – die Möglichkeit gewährt, sich durch Anstrengungen und „Leistungserbringung“ zu inkludieren (Friedrich/Schultes 2011). Das Postulat ist deutlich: Bedingung für „Integration“ ist es, sich so wie die „Musterbeispiele“ anzustrengen. Doch auch die „Integration“ der „Musterbeispiele“ besteht nicht darin - so wie es die Leistungsideologie verspricht -, dass sie nicht mehr als Migrant_innen markiert werden, sondern nur darin, dass sie vorläufig nicht mehr Gegenstand von Integrationsforderungen sind. So werden selbst die (post-)migrantischen „Leistungsträger“ nicht als „deutsche Leistungsträger“ gesehen, sondern als Migrant_innen, die sich durch ihre Leistung und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Beitrag (besonders in Form von Steuern) das „in Deutschland leben dürfen“ verdient haben. Derart bleiben sie immer ein Teil „der Anderen“, unabhängig davon, welche Leistungen sie erbringen (vgl. Haupt 2012). Denn die leistungsbasierte Individualisierung von Unterschieden kommt auch weiterhin nicht ohne Verweise auf Kultur, „Ethnie“ und Herkunft (im Klartext: „Rasse“) aus. Die als integriert geltenden Geanderten bleiben unerlässliche Bezugsgrößen für das Sprechen der weißen Leistungsgesellschaft. Diese Verknüpfung der neoliberalen Logik mit Rassismus ist jedoch nicht nur in Bezug auf (post-)migrantische „Leistungsträger“ zu finden; einzig die Unscheinbarkeit der Verbindung macht es nötig, sie so deutlich zu benennen. Wesentlich ausgeprägter ist sie in der Debatte um „Integrationsverweiger“ und Flüchtlinge.
Durch ihren Einsatz für den „Standort Deutschland“, seine Wettbewerbsfähigkeit und seine „Zukunftsfähigkeit“, so auch die Sprache der Bundesregierung, erscheinen Einige brauchbar, Andere nicht. Nicht gebraucht werden in der 'neoliberalen und rassistischen Logik diejenigen, die scheinbar nichts zur internationalen wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beitragen, weil sie nicht oder ungenügend ausgebildet erscheinen, zumindest aber nicht als verwertbar und flexibel genug gelten. Das betrifft selbstverständlich nicht nur (Post-)Migrant_innen, wie etwa klassistische Gesetzgebungen und Diskussionen zeigen. Im Zuge letzterer werden Menschen aus der sogenannten Unterschicht insgesamt naturalisiert.
Anhand der sukzessiv dominanter werdenden Formation von Rassismus und Leistung lässt sich zeigen, dass die gegenwärtigen Ausgrenzungsstrategien durchlässiger operieren als traditionellere Formen des Rassismus. Die Verknüpfung von Leistung und Rassismus zeigt ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Stärke, indem sie sowohl „Musterbeispiele gelungener Integration“ und „gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland“ als auch „Integrationsverweiger“ und unerwünschte Flüchtlinge erfasst.
Privilegien sichern
Das Interesse an der Aufrechterhaltung der Situation geht sowohl von den herrschenden Eliten als auch von einer sich verbarrikadierenden „Mittelschicht“ aus. Sie haben gemein das Bedürfnis, ihre gewohnten Privilegien insbesondere in Krisenzeiten zu sichern, um den Kampf um ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Ressourcen weiterhin siegreich zu gestalten (Bourdieu).
Die Sicherung der Ressourcen findet ihre Wirksamkeit gerade darin, dass sie die verschiedenen Kapitalsorten wie auch alle Lebensphasen umfasst. Die kulturellen, sozialen und symbolischen Ressourcen werden besonders effektiv über den eigenen privilegierten Nachwuchs gesichert. Auf Grund von strukturellem Rassismus im Bildungssystem sind die Übergänge in weiterführende Schulen und somit die möglichen Abschlüsse von (Post-)Migrant_innen stets schlechter als die des privilegierten Nachwuchses. Diesem bietet sich anschließend in der Regel die Möglichkeit, durch ein Universitätsstudium und bessere Arbeitsmöglichkeiten sein bereits erworbenes Kapital in ökonomisches Kapital umzuwandeln (u.a. Dirim/Mecheril 2010: 121). Nicht nur über das Bildungssystem, aber hier besonders nachhaltig, wird diesen Kindern und jungen Erwachsenen das Gefühl vermittelt, in dieser Gesellschaft etwas zu sagen zu haben. Derart werden vermeintlich über Leistung, eigentlich jedoch über wesentlich weniger zugängliche Ressourcen wie kulturelles und soziales Kapital, die Privilegien der gesellschaftlich dominierenden Gruppen gesichert. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Schlechterstellung der (Post-)Migrant_innen sich zwar im Bildungssystem deutlich zeigen lässt, seine Ursachen jedoch komplex sind (ebd.: 123). Hier interessiert einzig der Effekt, dass diese Tatsache die Sicherung der Ressourcen der Privilegierten stützt, auch wenn sie sie nicht vollständig erklärt.
Die Betonung von Leistung und angeblicher „Leistungsgerechtigkeit“ suggeriert also den Einzelnen, individuell für ihren Erfolg oder Misserfolg verantwortlich zu sein, ihn verdient oder auch nicht verdient zu haben. Wenn also Kinder von (Post-)Migrant_innen keine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, seien sie selbst schuld, eine Chance hätten sie gehabt. Unterdrückende Strukturen, durch die Menschen beim Kampf um die verschiedenen Ressourcen ausgeschlossen werden, können in dieser Logik nicht thematisiert werden, weil es sie in dieser Logik nicht gibt.
Herrschaft vorerst gesichert
Die Konsequenzen aus den Ausführungen sind in dreierlei Hinsicht in Richtung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgerichtet:
Wenn doch alle unabhängig von Herkunft Erfolg haben können, wie behauptet wird, kann es keinen strukturellen Rassismus geben. Rassismus wird also erstens durch die Individualisierung des Sozialen mit Bezügen auf „Leistungsgerechtigkeit“ verschleiert und kann von den Einzelnen folglich schwerer erkannt werden. Widerstände und Solidaritäten gegen Rassismus werden somit erschwert.
Zweitens bietet die behauptete Nichtexistenz von Rassismus gleichzeitig ein Einfallstor für rassistische Rede. Bei der Deutung, warum die Nicht-„Musterbeispiele für Integration“ „es“ nicht geschafft haben, entfällt Rassismus und damit verbunden die Sicherung von Privilegien durch die weiße Norm als Begründung für die Positionen vieler (Post-)Migrant_innen am unteren Ende sozialer Rangskalen. In herrschender Logik wird dann die Existenz einer „migrantischen Unterschicht“ auf eine vermeintliche Kultur der Leistungsverweigerung der (Post-)Migrant_innen zurückgeführt. Diese „Kultur der Leistungsverweigerung“, die „unsere“ Leistungsgesellschaft gefährde, wird dann je nach rassistischer Fasson mit Verweisen auf Gene, Kultur oder Religion fundiert.
Drittens werden nicht nur Widerstandspotenziale gegen Rassismus gebrochen und Rassismus durch die Dethematisierung als mögliche Begründung für Armut durch die Hintertür wieder in die Arena geschleust, sondern breitere Bündnisse gegen soziale Unterdrückung und Ausbeutung gebrochen bzw. verhindert. Im Zentrum der Debatten um „Unterschicht“ stehen in den letzten Jahren vor allem (Post-)Migrant_innen. Debatten um soziale Ungleichheit werden überlappt durch einen ordnungspolitischen und rassistischen Integrationsdiskurs. Die Klassenverhältnisse bleiben davon unberührt.
Insgesamt zeigt sich die Perfidität der Verschränkung von Leistung und Rassismus in ihrer vielfältigen und paradoxen Verknüpfung, die Leistung objektiv und Rassismus unmöglich erscheinen lässt.
Anmerkungen
[1] Wir danken Gürhan Güloglu, Beate Haupt, Isabelle Rispler, Hannah Schultes und Andrea Strübe für ihre Anmerkungen.
Dieser Text erschien zuerst in ZAG Antirassistische Zeitschrift Ausgabe 60 (2012). Wir danken für die Genehmigung zur Übernahme des Textes. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Literatur
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.
Selma Haupt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Historische Bildungsforschung, Postkoloniale Theorie und Gesellschaftsanalyse.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/die-leistung-der-leistung-wie-leistungsgerechtigkeit-rassismus-verdeckt--416.html | Gedruckt am: 03.12.2024