11. Oktober 2023 | Redaktion
»Die Löhne sind zu hoch.« »Wachstum kommt allen zugute.« »Der Sozialstaat ist unbezahlbar.« »Private Unternehmen sind effizienter als der Staat.« »Hohe Steuern bremsen die Wirtschaft.« Derlei Behauptungen machen Stimmung – für mehr Markt und weniger Politik, für mehr soziale Ungleichheit und weniger Umverteilung, für mehr Vereinzelung und weniger soziale Sicherheit. Sie sind Ausdruck eines neoliberalen Zeitgeists, der auf »unternehmerische Freiheit«, Konkurrenz, Privateigentum und »Eigenverantwortung« setzt.
Die meisten solcher Wirtschaftsmärchen lassen sich im Kern auf den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital zurückführen. Sie fallen nicht einfach vom Himmel, sondern sie hängen eng mit den Interessen einer bestimmten, privilegierten gesellschaftlichen Klasse zusammen. Und sie entfalten eine beträchtliche politische Wirkung zu deren Gunsten.
In diesem Buch nehmen Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf 101 dieser Wirtschaftsmärchen unter die Lupe: Sie zeigen auf, weshalb diese falsch sind oder in die Irre führen; wem sie schaden und wem sie nutzen; welche Denkmuster und Annahmen hinter ihnen stehen. Und sie veranschaulichen, wie gefährliche Feindbilder geschaffen werden: das vom teuren Hängemattenstaat etwa, von halsstarrigen Gewerkschaften, von selbstsüchtigen Politikerinnen, von faulen Armen oder von wirklichkeitsfremden Sozialromantikern.
Es lohnt sich, gegen derlei Behauptungen und Feindbilder zu streiten. Und zwar auch und gerade dann, wenn sie im vermeintlich objektiven Gewand hehrer Wissenschaft daherkommen. Denn die Dominanz des Neoliberalismus und des Kapitals ist keineswegs absolut. Sie ist angreifbar. So haben beispielsweise die große Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, das offensichtliche Scheitern manches neoliberalen Politikrezepts (etwa der Riester-Rente), manche Fehlprognose (etwa der nicht eingetretene Anstieg der Arbeitslosigkeit durch den gesetzlichen Mindestlohn) und der Klimawandel die Grenzen dieses Denkens aufgezeigt. Die 2000er Jahre, Hoch-Zeit des Neoliberalismus, sind vergangen. Es ist möglich, neoliberale Märchen zu demontieren.
Und für diese Auseinandersetzung gibt es nach wie vor auch genug politische Gründe. Denn auch wenn der Neoliberalismus seit einigen Jahren in der Defensive scheint, so bleiben die langfristigen Auswirkungen seiner Politik (wie die stark gestiegene Ungleichverteilung) bestehen. Außerdem beeinflussen viele seiner Ideen und Gesetze (wie die so genannte Schuldenbremse) nach wie vor die Wirtschaftspolitik.
Über neoliberale Märchen aufzuklären, bleibt also notwendig und möglich. Dieses Buch leistet einen Beitrag dazu.
Patrick Schreiner, Kai Eicker-Wolf: Wirtschaftsmärchen. Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales. 270 Seiten, 19,90 EUR, ISBN 978-3-89438-814-0. Erschienen im September 2023.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/wirtschaftsmaerchen-hundertundeine-legende-ueber-oekonomie-arbeit-und-soziales--2427.html | Gedruckt am: 05.12.2024