Rezension

Der nonkonformistische Intellektuelle

16. November 2022 | Sebastian Klauke

Entstanden ist dabei gerade keine akademische Festschrift, sondern eine kritisch-solidarische Auseinandersetzung. Demirović selbst ist der Zeitschrift seit 1988 als Autor verbunden, von 2003 bis 2018 war er Redaktionsmitglied, seither ist er dem Beirat zugehörig. Wer wissen möchte, zu welchen Themen er sich äußerte, bekommt hier eine vorzügliche Übersicht, entlang der Brennpunkte aktueller Krisenprozesse. Es schreiben langjährige Weggefährt_innen und Co-Autor_innen: Julia Dück über Geschlecht und das komplex gegliederte Ganze, Bob Jessop über Demirovićs Blick auf das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas, Birgit Sauer über feministisch-materialistische Staats- und Demokratietheorie. Die Krise und Regulation des Kapitalismus in der EU steht im Fokus von Thomas Sablowski, Etienne Schneider und Felix Syrovatka. Jakob Graf wirft einen Blick auf die Pluralität der Naturverhältnisse und Ulrich Brand und Markus Wissen fragen nach emanzipatorischen Perspektiven im »Anthropozän«. Es schließen sich persönlich gehaltene Texte über Demirović von Joachim Hirsch, Joachim Beerhorst, Christina Kaindl und Bernd Riexinger an, die seine Verbindungen zur Linkspartei und den Gewerkschaften, zu Fragen von Staat, Politik, Partei und Klasse beleuchten. Abgerundet wird das Heft mit einem autobiographischen Gespräch, dessen Langfassung als Buch im Westfälischen Dampfboot erscheinen wird. Demirović berichtet hier insbesondere über seine akademische Sozialisation. Zuletzt ist er in dem Heft selbst mit dem zweiten Teil seiner Überlegungen über Wahrheitskämpfe im kapitalistischen Staat in Zeiten der Corona-Pandemie als Autor vertreten.

Es wird deutlich, wie vielfältig Demirović als kritischer Denker unterwegs ist. Längst nicht alle seine Themen konnten untergebracht werden, aber die vorliegende Auswahl überzeugt. Das liebevoll verfasste Editorial gibt hierüber Auskunft, ebenso über den Umstand, dass ihm eine geordnete akademische Laufbahn verschlossen blieb: So war er zwar im Rahmen des Berufungsverfahrens auf eine Soziologie-Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main auf Platz 1 gesetzt worden, aber der Senat der Universität und das hessische Wissenschaftsministerium lehnten seine Berufung ab - bei Lichte betrachtet aus ideologischen Gründen.

Die Beiträge sind ausnahmslos empfehlenswert. Wer sich näher mit dem umfangreichen Werk von Demirović auseinandersetzen will, findet hier Inspirationen und einen guten Ausgangspunkt. Die Beiträge von Brand/Wissen und Hirsch sind ebenso wie das Editorial über die Internetseite der Prokla frei abrufbar.

Bibliografische Angaben

Der nonkonformistische Intellektuelle: Gesellschaftstheorie und sozialistische Strategie (Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 52. Jg., Nr. 2, Juni 2022), 15 Euro, 180 Seiten, Verlag Bertz + Fischer, Berlin.

Sebastian Klauke ist Politikwissenschaftler und Soziologe aus Kiel.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/der-nonkonformistische-intellektuelle--2418.html   |   Gedruckt am: 25.04.2024