Lernen aus der Covid-19-Pandemie?! Schlussfolgerungen für das Sozial-, Bildungs- und Erziehungswesen

23. Mai 2022 | Christoph Butterwegge

Schon der erste Lockdown zeigte, dass trotz eines hohen Lebens- und Sozialstandards und entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft mit gesichertem Wohlstand für alle, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne die ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.

Plötzlich riefen infolgedessen selbst viele Menschen nach dem Staat, die ihn früher »verschlanken« wollten und den Markt als Regulierungsmechanismus vorgezogen hatten. Daraus wurden aber nur insofern Schlussfolgerungen gezogen, als der Staat großflächige »Rettungsschirme« für Unternehmen aufspannte und einzelnen Personengruppen finanzielle Hilfen gewährte. Ebenfalls dringend erforderliche Maßnahmen der Umverteilung von oben nach unten blieben indes aus, obwohl ganz Reiche während der Covid-19-Pandemie noch reicher, die Armen jedoch zahlreicher geworden sind.

Nötig ist ein weiterer Ausbau des Sozialstaates

An ihre Grenzen stießen während der Covid-19-Pandemie die Tafeln. Viele mussten umgehend schließen, weil ihre meist älteren Ehrenamtler/innen aufgrund der Infektionsgefahr nicht mehr zur Verfügung standen oder die nötigen Lebensmittelspenden ausblieben – und dies zu einer Zeit, da Not am Mann bzw. an der Frau war. Hier zeigte sich die Ambivalenz des karitativen Engagements: Als die Not der von den Tafeln als »Kunden« bezeichneten Menschen am größten war, versagten sie am meisten. Nur ein hoch entwickelter, möglichst gut ausgestatteter Wohlfahrtsstaat kann die Versorgung der Bürger/innen selbst in einer pandemischen Ausnahme- und Krisensituation gewährleisten. Tafeln, Sozialkaufhäuser und Kleiderkammern gibt es schließlich nicht immer dort, wo Arme sie benötigen, sondern häufiger dort, wo sich reiche Mäzene, großzügige Spender und freiwillige Helfer/innen konzentrieren. Dies zeigt, dass wir nicht aus einem »Volk der Dichter und Denker« zu einem Volk der Stifter und Schenker werden dürfen. Almosen sind ein mittelalterlicher Weg der Armutsbekämpfung, nicht mehr.

Ohne die Transferleistungen des Wohlfahrtsstaates – genannt sei nur das Kurzarbeitergeld – wären erheblich mehr Menschen während der durch die Unterbrechung von Lieferketten und das Fehlen bestimmter Vorprodukte mit ausgelösten Rezession an den Rand des Ruins geraten. Auch war es richtig, dass der Arbeitslosengeld-II-Bezug für von der Coronakrise gebeutelte Soloselbstständige vorübergehend erleichtert wurde, indem man für sie die strenge Vermögensprüfung aussetzte und die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte. Warum sollte diese Regelung keine Dauerlösung und kein Vorbild für weitere Schritte zur Entbürokratisierung des Sozialstaates und zur Vereinfachung des Antragsverfahrens in der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein?

Anstatt mit einem bedingungslosen Grundeinkommen über allen Bürgern unterschiedlos denselben Geldbetrag auszuschütten, wie manche Beobachter forderten, und den Bismarck’schen Sozialversicherungsstaat damit zu zerstören, sollte man diesen zu einem inklusiven Wohlfahrtsstaat weiterentwickeln. Wenn das System der sozialen Sicherung trotz Umbrüchen im Arbeitsleben und sich wandelnder Lebensformen funktionsfähig erhalten werden soll, sind tiefgreifende Reformen erforderlich, die in Richtung einer solidarischen Bürgerversicherung zielen müssten.

Betroffene brauchen eine passgenaue Unterstützung

Soloselbstständige, Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler sowie Honorarkräfte gehörten nicht bloß zu den existenziell von der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Verwerfungen mit am stärksten Betroffenen, sondern auch zu den besonders gefährdeten Gruppen, die der bestehende Sozialstaat kaum zu schützen vermochte. Daher müssen sie baldmöglichst in eine solidarische Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung einbezogen werden.

Kleinstrentnerinnen und -rentner sowie Studierende, die mit ihrem regulären BAföG-Satz nicht auskamen und von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können), verloren wegen des Lockdowns, Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob – etwa in der Gastronomie –, der ihren Lebensunterhalt bis dahin mit gesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II beantragen konnten, waren Geldmangel und teilweise Studienabbrüche die Folge. Hieraus sollte der Schluss gezogen werden, dass Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden müssen. Leider geschieht am 1. Oktober 2022 das Gegenteil: SPD, Grüne und FDP haben beschlossen, die Entgeltgrenze der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von 450 auf 520 Euro anzuheben. Zu befürchten ist, dass künftig noch mehr Frauen in diese Armutsfalle tappen.

Menschen, die durch sämtliche Maschen des bestehenden Systems der sozialen Sicherung fallen, dürfen nicht in Wohnungslosigkeit, Überschuldung, Insolvenz und andere existenzielle Bedrängnisse geraten. Nötig wäre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf Personen, die Unterstützung benötigen, um in Würde leben und überleben zu können. Das gilt für prekär Beschäftigte, Leiharbeiter, Randbelegschaften ebenso wie für Soloselbstständige, manche Freiberuflerinnen und Kleinunternehmer, die über zu geringe finanzielle Rücklagen verfügen, um eine ökonomische Durststrecke überstehen zu können. Neben den Räumungsklagen und den Zwangsräumungen müssten auch Mieterhöhungen für eine Übergangszeit ausgesetzt werden.

Obdachlose könnten im Winter in leerstehenden Hotels und Pensionen untergebracht werden. Denn sonst droht diesem Personenkreis eine weitere Verelendung. Wenn die preiswerte Versorgung durch Lebensmitteltafeln und karitative Einrichtungen ausfällt, ohne dass die Regelbedarfe für Hartz IV, die Sozialhilfe sowie die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sachgerecht ermittelt und deutlich erhöht werden, wäre die befristete Gewährung eines Ernährungszuschlags von mindestens 100 Euro monatlich auf den Regelbedarf unabdingbar. Für den Fall, dass die Miete wegen Verdienstausfalls oder ausbleibender Aufträge nicht bezahlt werden kann, wäre eine Notfall-Komponente im Wohngeld die richtige Maßnahme.

Reformbedarf im Gesundheits-, Bildungs- und Erziehungswesen

Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsdienste haben sich in der pandemischen Ausnahmesituation als »systemrelevant« erwiesen. Krankenschwestern, Altenpfleger und Pflegehilfskräfte, die besonders schlecht bezahlt werden, galten auf dem ersten Höhepunkt der Covid-19-Pandemie als »Helden des Alltags«, ohne dass man untersucht hätte, warum ihr Gehalt, ihre Arbeitsbedingungen und ihr sozialer Status in den vergangenen Jahrzehnten stärker hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben waren. Sonst wären ökonomische Entwicklungsprozesse in den Blickpunkt geraten, die von der Öffentlichkeit bisher kaum hinsichtlich ihrer negativen Auswirkungen beachtet worden sind: Deutsche und ausländische Finanzinvestoren übernehmen immer mehr Krankenhäuser sowie Senioren- und Pflegeheime, weil diese aufgrund der kollektiven Alterung unserer Gesellschaft im demografischen Wandel hohe Renditen versprechen. Da die Personalkosten im Gesundheitswesen ein größeres Gewicht als in anderen Branchen haben, versuchen die Betreiber solcher Einrichtungen, die Gehälter zu drücken und Personal einzusparen, was zu einer Arbeitsverdichtung und wachsender Unzufriedenheit der Beschäftigten führt.

Damit alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Bildungschancen erhalten, müssen systemisch bedingte Ungleichheiten möglichst schon in den Kindertagesstätten und Schulen – so gut es geht – ausgeglichen werden. Dazu bedarf es einer Schulstrukturreform, einer besseren Ausstattung der Bildungseinrichtungen, kleinerer Gruppen/Klassen mit hervorragend ausgebildeten Lehr- bzw. Fachkräften und einer regelmäßigen Fortbildung des Personals. Auch die Einstellung von mehr Schulsozialarbeitern und Schulpsychologinnen könnte die soziale Benachteiligung der Kinder aus finanzschwachen Elternhäusern verringern. Ein flächendeckender Ausbau der individuellen Förderung, Beratung und Betreuung ist überfällig.

Am 18. Mai erschien zum Thema ein Buch des Autors mit dem Titel »Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona« bei Beltz Juventa.

Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/lernen-aus-der-covid-19-pandemie-schlussfolgerungen-fuer-das-sozial-bildungs-und-erziehungswesen--2411.html   |   Gedruckt am: 26.04.2024