Prinzipien reiten statt investieren: Droht ein Comeback von schwarzer Null und Schuldenabbau?

19. Oktober 2021 | Kai Eicker-Wolf, Patrick Schreiner

Die Investitionsbedarfe in Deutschland und Europa sind enorm. Sie könnten gedeckt werden – wenn die neue Bundesregierung Prinzipien Prinzipien sein lässt und pragmatisch handelt.

Weil die Kreditaufnahme-Beschränkungen im Rahmen der Schuldenbremse und der Fiskalregeln auf europäischer Ebene ausgesetzt wurden, konnte mit massiven Maßnahmen auf den Wirtschaftsabschwung infolge der Corona-Krise wie auch auf die gesundheitspolitischen Herausforderungen reagiert werden. Allerdings droht mit dem Ende dieses Ausnahmezustands die Rückkehr zur Doktrin der so genannten »schwarzen Null«, mindestens aber der Schuldenbremse und des Schuldenabbaus. Gleichzeitig werden Forderungen nach weiteren kreditfinanzierten Investitionen immer lauter, um den bestehenden erheblichen Investitionsstau abzubauen und um die sozial-ökologische Transformation voranzutreiben.

Erheblicher Investitionsstau

In Deutschland herrscht ein großer Investitionsbedarf – nach gemeinsamen Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft und des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Höhe von rund 450 Milliarden Euro binnen zehn Jahren (Bardt u.a. 2019). Dabei besteht ein erheblicher Teil dieser Summe aus Mitteln, die für die dringend erforderliche sozial-ökologische Transformation notwendig sind. Und für die kommunale Ebene weist das aktuelle KfW-Kommunalpanel einen Investitionsstau von rund 150 Milliarden Euro aus (KfW 2021). Es gibt massive Investitionsbedarfe beispielsweise in den Bereichen erneuerbare Energien, schnelle Datennetze, öffentlicher Verkehr, Wasserstoffnetze, Schulen, Wohnen, energetische Gebäudesanierung und Krankenhäuser. Auf kommunaler Ebene entfällt der größte Teil davon auf die Schulen.

Eine Finanzierung der Investitionsbedarfe wäre auf Basis von höheren Steuereinnahmen oder durch die Aufnahme von Krediten möglich – oder durch eine Kombination beider. Eine Erhöhung der Steuereinnahmen – so richtig etwa die Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen auch wären – dürfte aufgrund der voraussichtlichen Regierungsbeteiligung der FDP kurz- bis mittelfristig nicht zu erwarten sein. Zugleich untersagt die Schuldenbremse aber eine Kreditfinanzierung von Investitionen fast komplett – nur der Bund darf in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kreditfinanziert investieren. Hinzu kommen Beschränkungen der Kreditaufnahme, die das europäische Recht vorgibt. Die Stichworte lauten hier Fiskalpakt und Maastrichter Vertrag. Auch wenn die Abschaffung oder zumindest eine Modifikation der Schuldenbremse in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Zustimmung findet, sind Änderungen an der grundgesetzlichen Schuldenbremse in der nächsten Zeit unrealistisch. Ganz im Gegenteil: Mittelfristig könnte sogar wieder das noch weitergehende Ziel der »schwarzen Null« drohen – profilieren sich Politikerinnen und Politiker fast aller Parteien doch gerne mit dieser Nullverschuldung.

Eine solche ideologische Haltung zu Staatsschulden ist keineswegs nur der voraussichtlichen Regierungspartei FDP zu eigen – vielmehr haben auch SPD und Grüne wiederholt ihre ideologische Verbohrtheit in Sachen Schuldenbremse und Staatsverschuldung unter Beweis gestellt (von den Unionsparteien ganz zu schweigen). So hat die SPD 2009 der Aufnahme der Schuldenbremse in das Grundgesetz zur benötigten Zwei-Drittel-Mehrheit verholfen, und beide Parteien unterstützten eine Landes-Schuldenbremse in einem Referendum 2011 in Hessen. 2012 hätte die (damalige Oppositionspartei!) SPD die europäische Schuldenbremse – den Fiskalpakt – verhindern können und tat es nicht.

Um trotz der genannten Hürden in ausreichendem Umfang investieren zu können, wäre eine Kreditfinanzierung von öffentlichen Investitionen auch jenseits der staatlichen Haushalte möglich.

Zur Frage, ob und auf welchem Weg kreditfinanzierte Investitionen trotz Schuldenbremse getätigt werden dürfen, ist vor rund einem Jahr eine umfangreiche Studie erschienen (Hermes u.a. 2020; zu den Bundesländern vgl. Scholz 2021). Danach ist eine solche Kreditaufnahme durch rechtlich selbständige Einrichtungen des Bundes realisierbar, erlaubt ist auch eine Tilgung dieser Kredite aus dem Bundeshaushalt. Bei diesen selbständigen Einrichtungen handelt es sich um juristische Personen des privaten (zum Beispiel eine GmbH) oder des öffentlichen Rechts (zum Beispiel eine Anstalt öffentlichen Rechts). Diese Einrichtung darf allerdings nicht nur dem Zweck dienen, finanzielle Mittel weiterzuleiten bzw. auszugeben, ihr muss vielmehr ebenfalls eine eigene Sachaufgabe zugewiesen werden. Außerdem ist für die Errichtung einer solchen Einrichtung ein Bundesgesetz erforderlich. Besonders geeignet erscheint als Gesellschaftsform die Anstalt öffentlichen Rechts, da der Gesetzgeber hier in Hinblick auf die nähere Ausgestaltung über eine große Entscheidungsfreiheit verfügt – so kann ein hohes Maß an Transparenz sowie politischer Steuerung und Kontrolle gewährleistet werden.

Einen Sonderfall stellt der Wohnungsbau dar. Soweit er durch die öffentliche Hand stattfindet, erfolgt er in der Regel durch kommunale bzw. Landesunternehmen. SPD, Grüne und FDP planen laut Sondierungspapier zudem, der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben erweiterte Möglichkeiten zum Wohnungsbau zu geben – was der erste Schritt hin zu einem Wohnungsunternehmen des Bundes sein könnte. Es bestehen also schon heute selbständige Einrichtungen außerhalb der öffentlichen Haushalte, bzw. sie sind – im Falle des Bundes – denkbar. Sie können sich selbständig verschulden und schaffen mit den Wohnungen zugleich Vermögenswerte, die der Verschuldung gegenüberstehen. Daher besteht hier kein Engpass beim Kapital (vom Eigenkapital im Falle von stark verschuldeten Kommunen abgesehen), sondern ein Mangel an Baukapazitäten und (vor allem in den Ballungsräumen) an Grundstücken.

Im Zuge der aktuellen Gespräche zur Regierungsbildung hat ifo-Chef Clemens Fuest mit einem anderslautenden Vorschlag einige Aufmerksamkeit gefunden. Dieser sieht vor, das Jahr 2022 (in dem die Schuldenbremse coronabedingt noch ausgesetzt ist) zu nutzen, um erhebliche Kredite aufzunehmen und diese für spätere Ausgaben in einer Rücklage zu parken. Ab 2023 würde die Schuldenbremse dann wieder regulär gelten. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm und der Ökonom Jens Südekum äußerten sich zustimmend, und DIW-Chef Marcel Fratzscher nannte gleich eine Größenordnung: 500 Milliarden Euro (Gillmann/Neuerer/Olk 2021, Neuerer 2021). Dieser Vorschlag hat den gravierenden Nachteil, dass heute die Bedarfe und Notwendigkeiten von morgen oder gar übermorgen noch gar nicht absehbar sind – die benötigten finanziellen Mittel also noch gar nicht kalkuliert werden können. Die staatliche Handlungsfähigkeit bliebe eingeschränkt, da die Schuldenbremse weiter gelten würde. Hinzu kommen verfassungsrechtliche Bedenken (Greive/Olk 2021).

So gesehen wäre eine Finanzierung der Zukunftsinvestitionen durch Einrichtungen oder Fonds jenseits des Bundeshaushalts dem Fuest-Vorschlag vorzuziehen. Allerdings hat auch diese Variante Nachteile: Nebenhaushalte – und faktisch handelt es sich bei solchen Einrichtungen und Fonds um nichts anderes – sind intransparent und undemokratisch. Denn faktisch würden Schulden nur versteckt. Im Extremfall könnte sich eine Regierung sogar für die »schwarze Null« feiern, während und weil sie (beträchtliche) Kreditaufnahmen außerhalb des regulären Haushalts tätigt. Die Schuldenbremse abzuschaffen oder zumindest Investitionen aus ihren Regelungen auszunehmen, muss daher politische Priorität haben und mittelfristig politisches Ziel bleiben.

Für den europäischen Fiskalpakt und die europäischen Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrags gilt dies genauso. Hinsichtlich der Möglichkeit einer Kreditfinanzierung durch Fonds und Einrichtungen jenseits der öffentlichen Haushalte sind deren Vorgaben sogar strenger als die deutsche Schuldenbremse. Zugleich scheinen derzeit die Aussichten auf eine investitionsfreundliche Reform auf europäischer Ebene deutlich günstiger. Neben Italien und Spanien fordert insbesondere Frankreich eine Lockerung der Kriterien. Während sich Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande noch sperren, scheint Deutschland sich erfreulicherweise der französischen Position anzunähern: Im Bundesfinanzministerium – geleitet vom Bundeskanzler in spe, Olaf Scholz (SPD) – arbeitet die Grundsatzabteilung schon seit Langem an Vorschlägen, wie ein überarbeitetes europäisches Schuldenregime aussehen könnte (Greive/Koch et al. 2021).

Die Tragfähigkeitsdebatte

In politischen Debatten wird regelmäßig unterstellt, dass heutige Generationen durch schuldenfinanzierte Leistungen auf Kosten zukünftiger Generationen lebten: Während die gegenwärtige Generation in den Genuss der staatlichen Leistungen komme, müsse die später anfallende Zahllast in Form von Steuern für Zins und Tilgung von nachfolgenden Generationen aufgebracht werden. Diese Argumentation hat 2009 zum Beispiel die wesentliche Grundlage für die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz gebildet (zur Debatte um die Schuldenbremse vgl. zum Beispiel Eicker-Wolf/Himpele 2011, Eicker-Wolf/Truger 2014, Rietzler/Truger 2017).

Diese Sicht auf die staatliche Verschuldung stellt eine unzulässige Analogie zur privaten Verschuldung dar. Im Falle der Staatsverschuldung werden – sieht man von Auslandsverschuldung ab – von einer Generation zur anderen nicht nur Zahlungsverpflichtungen, sondern auch die entsprechenden Vermögenstitel weitergegeben. Defizitfinanzierte Staatsausgaben legen zwar bestimmte Zahlungsströme für die Zukunft fest (ein Teil der Einnahmen des Staates fließt an dessen Gläubigerinnen und Gläubiger), es findet aber keine einseitige »Vererbung« nur von zu bedienenden Schulden statt. Und selbst wenn nur der Staat in seiner Position als Schuldner betrachtet wird, muss berücksichtigt werden, dass dieser – falls er mittels Staatsverschuldung öffentliche Investitionen tätigt – auch Vermögenswerte, etwa öffentliches Infrastrukturkapital, besitzt, die ebenfalls »vererbt« werden und die der reinen Zahllast gegengerechnet werden müssen. Bei den aktuell diskutierten Investitionen im Bereich der sozial-ökologischen Transformation geht es zudem darum, einen drohenden erheblichen Schaden durch Umwelt- und Klimakatastrophen abzuwenden.

Zum Teil wird auch von Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die These vertreten, dass eine steigende Staatsverschuldung zum Problem werden könne, wenn sie zu einer ständig steigenden Schuldenstandsquote (Schuldenstand gemessen als Anteil am BIP) führt. Letztlich drohe ein zu hoher Schuldenstand zu einer Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung zu werden. Nach der internationalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise ist es zu einer Kontroverse hinsichtlich der Frage gekommen, ab welcher Grenze ein Schuldenstand zu hoch sei. Die beiden an der Harvard-Universität beschäftigten Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff hatten 2010 in einem kurzen Aufsatz mit dem Titel Growth in a Time of Debt (Reinhart/Rogoff 2010) auf Basis empirischer Untersuchungen die These aufgestellt, dass Schuldenstandsquoten über 90 Prozent zu einem starken Wachstumseinbruch führten. Diese These, die weltweit für Aufsehen sorgte und die zunächst auch einen erheblichen wirtschaftspolitischen Einfluss ausübte (Tooze 2018: 405 ff.), wurde drei Jahre später durch einen Studenten widerlegt (Herndon u.a. 2013): Er wies Reinhart/Rogoff fehlerhafte Durchschnittsberechnungen, das versehentliche Weglassen von Datensätzen für drei Länder und eine willkürliche Gewichtung der Daten nach. Die Korrektur dieser Fehler hatte zum Ergebnis, dass sich das durchschnittliche Wachstum von Ländern mit einer vergleichsweise hohen Staatsverschuldung nur moderat verminderte. Insgesamt scheint es damit kaum möglich zu sein, für die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zumindest von entwickelten Industrieländern einen Grenzwert zu bestimmen.

Ein Blick auf lange Zeitreihen zu den Schuldenständen in Großbritannien, die Niederlande sowie die USA zeigt, dass eine hohe Schuldenstandsquote durch eine günstige Wachstumskonstellation auch wieder sinken kann. So wiesen alle drei Länder nach dem zweiten Weltkrieg Schuldenstände zwischen 120 und 270 Prozent auf. Nach langen Jahren des Wachstums erreichten alle drei in den 1970er bzw. 1980er Jahren Werte von deutlich unter 50 Prozent.

Die deutsche Schuldenstandsquote ist im Zuge der Corona-Krise leicht angestiegen und beläuft sich aktuell auf rund 70 Prozent. Sie ist auch im internationalen Vergleich damit nicht dramatisch hoch und liegt sogar um rund zehn Prozent unter dem Wert, den sie nach der internationalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2008 ff. erreicht hatte.

Schlussfolgerungen

In Deutschland, aber auch in der Europäischen Union insgesamt besteht angesichts des erheblichen Investitionsstaus kein Grund, auf kreditfinanzierte Investitionen zu verzichten – ganz im Gegenteil. Der Schuldenstand ist alles andere als besorgniserregend, und eine deutliche Steigerung der öffentlichen Investitionen zur Instandhaltung von Schulen, in erneuerbare Energien usw. ist angesichts der bestehenden Investitionslücken und der notwendigen sozial-ökologischen Transformation unumgänglich. Ein Verzicht auf einen deutlichen Anstieg der Ausgaben zum Erhalt und zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur jedenfalls würde auf lange Sicht wesentlich teurer werden: So drohen massive Umweltschäden, die letztlich in erheblichem Umfang von der öffentlichen Hand getragen werden müssen – wenn sie denn dann überhaupt noch zu regulieren sind.

Literatur

Kai Eicker-Wolf ist Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftssekretär.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/prinzipien-reiten-statt-investieren-droht-ein-comeback-von-schwarzer-null-und-schuldenabbau--2398.html   |   Gedruckt am: 29.03.2024