Ungleichverteilung in Deutschland: Ein aktueller Überblick

27. Mai 2021 | Kai Eicker-Wolf

Durch die Corona-Krise stehen verteilungspolitische Fragen wieder stärker im Mittelpunkt politischer Debatten: Wer muss die Krisenkosten tragen? Und wie wirkt sich die Krise auf die Einkommens- und Vermögensverteilung aus?

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst ein kurzer Überblick über die aktuell verfügbaren Zahlen zur Entwicklung der Verteilung in Deutschland erfolgen, der aus statistischen Gründen allerdings spätestens im Jahr 2019 und damit deutlich vor der Corona-Krise endet. Am Schluss des Beitrags wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen das aktuelle Krisengeschehen vermutlich auf die soziale Ungleichheit haben wird.

Lohnentwicklung, …

Zu Beginn soll ein Blick auf die Entwicklung der Einkommen der abhängig Beschäftigten – das heißt auf die Lohneinkommen – geworfen werden. Im Zeitraum 2000-2010 lagen in Deutschland die nominalen Lohnabschlüsse im Durchschnitt etwa 1,4 Prozentpunkten hinter dem gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum, das heißt hinter der Summe aus dem trendmäßigen Produktivitätswachstum und der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank in Höhe von 1,9 Prozent (vgl. Herzog-Stein u.a. 2020). Dies führte aufgrund der dadurch verursachten schwachen Entwicklung der Lohnstückkosten zu einer enormen Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, während sich die Binnennachfrage nur schwach entwickelte. Nach dem Jahr 2010 wurde der Verteilungsspielraum durch die Lohnpolitik zwar ausgeschöpft, was dann über die Konsumausgaben auch zur Belebung der Binnennachfrage beitrug. Allerdings weist Deutschland seit der Jahrtausendwende nach wie vor eine deutlich schwächere Lohnstückkostenentwicklung auf als der gesamte Euroraum.

Wird die preisbereinigte Entwicklung des durchschnittlichen realen vereinbarten Bruttostundenlohns seit Mitte der 1990er Jahre betrachtet, dann fällt die schwache Zunahme auf: Dieser stieg von seinem Ausgangswert in Höhe von rund 17,60 Euro auf 18,30 Euro im Jahr 2018 – und damit gerade einmal um vier Prozent. Zudem haben sich die Stundenlöhne insbesondere in den Jahren zwischen 1995 und 2008 stark auseinanderentwickelt, was in diesem Zeitraum insbesondere auf Reallohneinbußen in der unteren Hälfte der Lohnverteilung beruht (Fedorets u.a. 2020).

Stark gewachsen ist seit dem Ende der 1990er Jahre der Niedriglohnsektor in Deutschland. Im Niedriglohnsektor arbeiten alle Beschäftigten, die weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Median) erhalten. Der Anteil der zum Niedriglohn Arbeitenden an allen Beschäftigten stieg von 17 Prozent (1998) auf einen Höchststand von gut 24 Prozent im Jahr 2011 (vgl. Abbildung 1). Seitdem ist ein leichter Rückgang auf einen Wert von zuletzt knapp 22 Prozent zu verzeichnen (Kalina/Weinkopf 2020 und Fedorets u.a. 2020).

Abbildung 1: Entwicklung des Niedriglohnanteils, 1995-2018 in Prozent der Beschäftigten

Basis: tatsächliche Arbeitszeit. Quelle: Kalina/Weinkopf (2020), S. 7.

Abbildung 1 ist zu entnehmen, dass der Niedriglohnsektor selbst nach der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland nicht nennenswert geschrumpft ist: Dieser ist 2015 bei einer Höhe von 8,50 Euro gestartet und seitdem in mehreren Schritten auf aktuell 9,50 Euro erhöht worden. Im Niedriglohnsektor werden durch den Mindestlohn zwar im unteren Bereich besonders geringe Löhne verhindert, aber der Niedriglohnsektor selbst ist kaum geschrumpft. Dies liegt daran, dass der Mindestlohn deutlich unter der Niedriglohnschwelle liegt – diese beträgt 60 Prozent des mittleren Lohns (Median) und beläuft sich 2018 für Deutschland auf 11,21 Euro (Kalina/Weinkopf 2020: 4). Der Mindestlohn ist also selbst ein Niedriglohn. Im internationalen Vergleich fällt der deutsche Mindestlohn eher niedrig aus (Lübker/Schulten 2021): Unter den westeuropäischen EU-Ländern mit einem Mindestlohn liegt Deutschland auf dem sechsten und damit letzten Platz.

Der wichtigste Grund für die Ausweitung des Niedriglohnsektors seit Ende der 1990er Jahre ist die abnehmende Tarifbindung (Bosch/Kalina 2017a, 2017b und 2017c; Schreiner 2017). Ursächlich verantwortlich für die rückläufige Tarifbindung sind unter anderem eine abnehmende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die rückläufige Mitgliedschaft von Unternehmen in den Arbeitgeberverbänden, die Zunahme von Unternehmensmitgliedschaften im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung (so genannten OT-Mitgliedschaften), Outsourcing (Erwerb von bisher im Unternehmen selbst erzeugten Leistungen oder Gütern am Markt), die Auslagerung von Betriebsteilen und die (Teil-)Privatisierung von ursprünglich durch die öffentliche Hand erbrachten Dienstleistungen. Außerdem hat die Tarifbindung auch deshalb abgenommen, weil die Zahl der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen gesunken ist. Auch wenn die Abnahme der Tarifbindung und die dahinter liegenden Ursachen als Hauptgrund für die Zunahme von Niedriglohnbeschäftigung und für die zunehmende Differenzierung der Lohneinkommen anzusehen ist, so spielen doch auch andere Entwicklungen eine Rolle. Zu nennen sind vor allem die arbeitsmarktpolitischen Weichenstellungen (u.a. Liberalisierung der Leiharbeit) im Rahmen der Agenda-Politik während Kanzlerschaft Gerhard Schröders.

Mit Blick auf die Löhne ist auch der im internationalen Vergleich große Gender Pay Gap in Deutschland auffällig. So erhalten Frauen im Durchschnitt aktuell rund 19 Prozent niedrigere Löhne als Männer. Hieran hat sich in den vergangenen 15 Jahren kaum etwas verändert. Deutschland weist damit einen der höchsten Gender Pay Gaps in Europa auf (Schmieder/Wrohlich 2021). Ein zentraler Grund ist die familienbedingte Reduzierung der Arbeitszeit – Teilzeitarbeit ist im Durchschnitt schlechter bezahlt und geht mit verringerten Aufstiegschancen einher (Schrenker/Zucco 2020; für eine umfangreiche Diskussion vgl. Eicker-Wolf/Müller (2018).

Haushaltseinkommen …

Für die Einkommensverteilung sind insbesondere die Haushaltseinkommen relevant. Das Haushaltseinkommen fasst sämtliche Einkommen der Mitglieder eines privaten Haushalts zusammen, egal aus welcher Quelle diese Einkommen stammen (Lohneinkommen, Einkommen aus unternehmerischer Betätigung, Zinseinkommen aus Ersparnissen, Sozialtransfers usw.). Um unterschiedlich große Haushalte zu vergleichen, wird ein Pro-Kopf-Haushaltseinkommen ermittelt. Dafür wird das Gesamteinkommen des Haushalts durch die Zahl seiner Mitglieder geteilt, wobei eine so genannte Gewichtung vorgenommen wird: das erste erwachsene Haushaltsmitglied wird mit 1 gewichtet, alle weiteren Mitglieder ab 14 Jahren mit 0,5 und unter 14 Jahren mit 0,3 (Beispiel: das Gesamteinkommen einer Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern im Alter von 5 und 8 Jahren wird durch 2,1 geteilt).

Auf der Ebene der Haushaltseinkommen sind die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte von besonderem Interesse, da hier die Umverteilungsmaßnahmen des Staates berücksichtigt sind. Im Zeitraum seit 1991 hat sich die Einkommensungleichheit vor allem in den Jahren 2000 bis 2005 deutlich erhöht, um danach auf diesem Ungleichheitsniveau zu verharren (Grabka u.a. 2019, Grabka/Goebel 2020). Einen starken Beitrag zur wachsenden Ungleichheit der Haushaltseinkommen hat die Steuerpolitik in den ersten zehn Jahren nach der Jahrtausendwende geleistet (vgl. Eicker-Wolf/Truger 2017: 175 ff.). Während kleine Einkommen deutlich höhere Belastungen zu tragen haben als noch am Ende der 1990er Jahre, sind einkommensstarke Haushalte in erheblichem Umfang entlastet worden (vgl. dazu auch ausführlich Bach u.a. 2016a und 2016b).

Im Trend zugenommen hat in den vergangenen Jahren auch die Zahl der armutsgefährdeten Personen (vgl. Paritätischer Gesamtverband 2020). Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Trotz der vergleichsweise guten Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in Deutschland ist die Armutsquote im Zeitraum 2006-2019 kontinuierlich von 14 auf fast 16 Prozent gestiegen (Abbildung 2).

Abbildung 2: Entwicklung der Armutsquote in Deutschland 2005-2019

Quelle: Der Paritätische Gesamtverband (2020), S. 7.

… und Vermögensverteilung

Zur Vermögensverteilung sind für Deutschland keine längeren Zeitreihen vorhanden. Allerdings stehen sowohl für die Gesamtbevölkerung als auch für die Gesamtheit der privaten Haushalte sehr aktuelle Zahlen zur Verfügung, die – auch im internationalen Vergleich – eine sehr hohe Konzentration der Nettovermögen (Bruttovermögen abzüglich Schulden) nachweisen. Demnach besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung gut zwei Drittel des gesamten Nettovermögens (Schröder u.a. 2020). Noch wesentlich stärker ist der Reichtum beim reichsten Prozent konzentriert: Diese Personen vereinen 35 Prozent des Reichtums auf sich. Ähnlich hoch konzentriert ist das Nettovermögen, wenn private Haushalte zugrunde gelegt werden (Bach 2020 27 ff.): Die reichsten zehn Prozent besitzen 62 Prozent des Nettovermögens, auf das reichste Prozent der Haushalte entfallen 32 Prozent des gesamten Reichtums.

Langfristfolgen in ihrem Ausmaß noch nicht absehbar: Die Corona-Krise

Zu den unmittelbar spürbaren Krisenfolgen gibt die Erwerbspersonenbefragung des WSI vom Juni 2020 (Kohlrausch u.a. 2020: 12 ff.) und der Datenreport 2021 (Statistisches Bundesamt u.a. 2021: 481 ff.) Hinweise. Demnach sind Personen mit niedrigem Einkommen besonders häufig und besonders hart von den Krisenfolgen betroffen. Dies hängt insbesondere mit den Einkommenseinbußen durch Kurzarbeit zusammen. Allerdings treffen auch Freistellungen und Arbeitslosigkeit Personen mit niedrigen Verdiensten in größerem Umfang als andere Einkommensschichten. Hohe Einbußen verzeichnen zum Teil auch Selbständige und Freiberufler*innen – zum Beispiel im Gastgewerbe, das auch besonders hohe Einbußen hinnehmen muss. Das alles weist darauf hin, dass die Krise die Ungleichverteilung erhöht haben dürfte, und dass sich insbesondere am unteren Rand der Verteilung die Lage verschärft haben dürfte.

Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Korczak u.a. 2021) wird durch die Folgen der Pandemie die private Überschuldung steigen. Die Lage von Personen, die sich bereits in einer finanziellen Schieflage befinden, verschlechtert sich häufig weiter. Zudem laufen durch Einbußen beim laufenden Einkommen neue Personengruppen Gefahr, sich zu überschulden. Dies dürfte Spuren in der Vermögensverteilung hinterlassen und hier die Ungleichheit vergrößern.

Die langfristigen Folgen der Corona-Krise für die Einkommens- und Vermögensverteilung sind insgesamt noch schwer abzuschätzen. Diese hängen letztlich entscheidend davon ab, wie schnell die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zurückfindet, wie stark das Wachstum ausfällt, wie sich die Beschäftigung entwickelt und wie sich Einkommenszuwächse verteilen. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Wirtschaftspolitik: Wenn etwa die Finanzpolitik aufgrund der Schuldenbremse frühzeitig ihre Ausgaben zurückführt, dann dürfte ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit die Folge sein. Infolgedessen würde sich die Armutsquote in der langen Frist erhöhen. Außerdem droht eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in Lohnauseinandersetzungen weiter zu schwächen.

Literatur

Kai Eicker-Wolf ist Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftssekretär.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/ungleichverteilung-in-deutschland-ein-aktueller-ueberblick--2388.html   |   Gedruckt am: 23.04.2024