8. Dezember 2020 | Reinhard Bispinck
Dierk Hirschel, langjähriger Chefökonom des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und dann der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und im vergangenen Jahr auch Kandidat für den SPD-Vorsitz, hat die Herausforderung angenommen. Mit seiner 256 Seiten starken Streitschrift hat er ein kluges Buch vorgelegt, das ein breites Panorama an Themen aufspannt, scharf und facettenreich analysiert und zugleich versucht, ein tragfähiges Politikkonzept für eine »fortschrittliche Politik« zu skizzieren.
In acht Kapiteln geht er den maßgeblichen sozial-ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nach, die prägend waren für die heutige Problemlage. Hirschel startet mit einem knappen Abschnitt zur Corona-Pandemie, aber das ist nur der Auftakt für eine breitere Analyse der Hauptthemen: Das drohende »Jahrhundert der Ungleichheit« (S. 23) sei gekennzeichnet durch wachsende Ungleichheit bei Löhnen und Vermögen, zunehmende Armut und abnehmende soziale Mobilität. Als Ursache sieht er nicht quasi zwangsläufige Folgewirkungen von technischem Fortschritt und Globalisierung. »Politik macht den Unterschied« (S. 35). Sie habe in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren durch die Entfesselung der Finanzmärkte und die Deregulierung des Arbeitsmarktes die Spaltungsprozesse maßgeblich befördert. Die ökologische Krise ist für Hirschel eine Krise des fossilen Industriekapitalismus. Trotz partiellem Umdenken sei der Widerstand gegen einen Abschied vom »fossilen Betriebssystems« sehr hartnäckig. Die deutsche Klimapolitik hält er aufgrund der Macht der Energie- und Autokonzerne und des erfolglosen Emissionsrechtehandels für gescheitert. Der Autor konstatiert darüber hinaus eine Krise der Demokratie. Die parlamentarische Demokratie drohe zum Elitenprojekt zu werden. Die sinkende Wahlbeteiligung insbesondere der unteren und mittleren Arbeitnehmermilieus zeitigen problematische Folgen bei der politischen Repräsentation unterschiedlicher Interessen. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus versuchten mit sichtbarem Erfolg in diese Lücke zu stoßen. Die Bestandsaufnahme endet mit einem kurzen Überblick über die Flüchtlingskrise, ihre Ursachen und die zwiespältigen Lösungsansätze von praktischer Solidarität und Integration vor Ort bis zu »Festung Europa (S. 64 ff.)«.
So vorbereitet werden die Leser*innen mit Detailanalysen konfrontiert : »Rheinischer Kapitalismus 2.0«( S. 67) nennt Hirschel die aktuelle Variante unseres Wirtschaftssystems und führt sachkundig, detailreich und verständlich geschrieben durch die Prozesse der Digitalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung und ihre Folgen für Industrie und Dienstleistungsökonomie. Ausführlich setzt er sich mit der »Klassengesellschaft im Umbruch« (S. 97) auseinander und nimmt damit Bezug auf eine aktuell breit geführte Debatte. Er betont die Nützlichkeit der marxistischen Klassentheorie, nimmt aber auch die Forschung zu lebensweltlichen Milieus auf und lotet die Möglichkeiten zur Bildung »progressiver Mehrheiten in einer pluralen Klassengesellschaft« (S. 115) aus. Anschließend geht es um die »Krise der Gegenkräfte und Institutionen« (S. 118). Gemeint ist zum einen die Entwicklung des Sozialstaates und die Politik der Entstaatlichung mit negativen Folgen bei sozialer Sicherung, öffentlicher Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. Zum anderen analysiert Hirschel sehr kenntnisreich die Krise der Gewerkschaften (Mitgliederrückgang, bröckelnder Tarifschutz, schwaches politisches Mandat). Kritisch geht er auch mit seiner eigenen Partei ins Gericht und attestiert ihr eine veritable Entpolitisierung. Parallel zum Niedergang der SPD vollzog sich der Aufstieg der Umweltbewegung und der Grünen, dessen wichtigste Stationen knapp rekapituliert werden.
Wer Dierk Hirschel bis hierhin einigermaßen ernüchtert gefolgt ist, wartet gespannt auf die Alternativen. »Der Weg aus der Krise« (S. 165), dem das folgende umfangreiche Kapitel gewidmet ist, beginnt nicht zufällig in der Welt der Arbeit. Der Autor beschreibt zahlreiche neue Arbeitskämpfe und Proteste, insbesondere im ver.di-Bereich (Kita, Charité, Deutsche Post DHL, Ryanair, Amazon), aber auch in der Metallindustrie. Sie bieten Anhaltspunkte für eine bereits begonnene Revitalisierung der Gewerkschaften wie sie neben beteiligungsorientierter Tarifpolitik auch in Fusionen, Organisationsreformen und neuen Strategien zum Ausdruck kommt. Hirschel empfiehlt, von einem Management der Vielfalt zu einer »verbindenden Klassenpolitik« zu kommen. Das politische Mandat der Gewerkschaften müsse erweitert werden um relevante außerbetriebliche Themen (bezahlbares Wohnen, Gesundheitsversorgung u. a. m.).
Zu einer durchgreifenden Erneuerungsstrategie rät der Autor auch seiner Partei. Erforderlich sei eine neue »sozialdemokratische Erzählung (S. 194)«, das Lernen von anderen, wobei explizit die portugiesischen Sozialdemokraten und die britische Labour Party genannt werden. Sie zeigten : eine klassische sozialdemokratische Programmatik sei gesellschaftlich mehrheitsfähig. Die wichtigsten Bündnispartner zur Gewinnung neuer Mehrheiten für einen gesellschaftlichen Reformansatz sind, das kann nicht überraschen, Bündnis 90 / Die Grünen und die Linkspartei. Notwendig sei überdies ein Bündnis mit den neuen Jugend- und Sozialbewegungen (u. a. ATTAC, Campact, Fridays for Future). Eine knappe »Agenda fortschrittlicher Politik« (S. 220), die mobilisierungsfähige sozial-ökologische Reformprojekte ins Zentrum stellt, beschließt den Band.
Fazit: Ein lesenswertes Buch für politisch Interessierte und Aktive, das zwar keineswegs alle Fragen überzeugend beantworten kann, aber analyse- und meinungsstark die politische Diskussion belebt. Eine gendersensible Sprache hätte ihm gutgetan.
Dierk Hirschel: Das Gift der Ungleichheit. Wie wir die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen können. Dietz-Verlag, Bonn 2020. ISBN 978-3-8012-0570-6, 256 Seiten, 22 Euro.
Die Rezension erschien zuerst in den WSI Mitteilungen Ausgabe 6/2020. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. - Zum Weiterlesen sei auf ein ▸Interview mit Jacobin verwiesen, in dem Hirschel einige seiner Überlegungen genauer erläutert.
Reinhard Bispinck ist Ökonom und arbeitete von 1979 bis 2017 im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/das-gift-der-ungleichheit--2374.html | Gedruckt am: 08.10.2024