Zur politischen Ökonomie der Ungleichheit

13. November 2020 | Kai Eicker-Wolf

Soziale Ungleichheit und ihre negativen Folgen für Gesellschaft und Demokratie finden noch immer nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienten. Einen Mangel an Erkenntnis gibt es gleichwohl nicht.

Mitte des Jahres sorgten neue Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung für Aufsehen (Schröder u.a. 2020). Durch eine spezielle Untersuchung von besonders reichen Personen war es gelungen, die Vermögenskonzentration im Rahmen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) genauer zu ermitteln – beim SOEP handelt es sich um eine seit 1984 jährlich durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung von Privathaushalten in Deutschland. Gemäß dieser neuen Zahlen besitzen die reichsten zehn Prozent nicht wie bisher angenommen knapp 60 Prozent des gesamten Nettovermögens (Bruttovermögen abzüglich Schulden), sondern gut zwei Drittel davon. Sogar noch stärker als gedacht ist der Reichtum beim reichsten Prozent konzentriert: Dieses vereint 35 Prozent des Reichtums auf sich, bis dahin belief sich der entsprechende Wert auf 22 Prozent. Obwohl auch die Einkommensverteilung in Deutschland im Trend der vergangenen Jahre immer ungleicher ausfällt (Spannagel 2019), und generell eine steigende Ungleichheit auszumachen ist (vgl. z.B. Eicker-Wolf/Truger 2017), wird die Frage der Umverteilung in Deutschland kaum ernsthaft diskutiert. Dabei gibt es gute Gründe für eine solche Debatte.

Steigende Ungleichheit als weltweites Phänomen

Die zunehmende Ungleichverteilung in Deutschland ist kein singuläres Phänomen. Vielmehr haben die Untersuchungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty (2014, 2020) gezeigt, dass seit rund vier Jahrzehnten in zahlreichen Ländern eine zunehmende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zu verzeichnen ist. Auf einer breiten empirischen Grundlage hat Piketty herausgearbeitet, dass die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung insbesondere von der Steuerpolitik beeinflusst wird. Besonders radikal haben Steuersenkungen die Einkommens- und Vermögensverteilung in den USA verändert – entsprechende Daten finden sich auch in dem jüngst von Saez/Zucman (2020) publizierten Buch. Im Zuge des New Deal wurde das us-amerikanische Steuersystem in den 1930er Jahren zum vermutlich progressivsten der Welt: Einkommen wurden mit Spitzensteuersätzen von 90 Prozent belegt, Erbschaften mit 80 Prozent und Unternehmensgewinne mit 50 Prozent. Die massive Umverteilung in den USA begann mit der Präsidentschaft von Ronald Reagan und erreichte ihren Höhepunkt durch die Trumpschen Steuersenkungen. Laut Saez/Zucman haben im Jahr 2018 die 400 reichsten US-Amerikaner erstmals im Laufe der vergangenen 100 Jahre niedrigere Steuersätze gezahlt als die Arbeiterschicht. Dabei haben die beiden Ökonomen effektive Steuersätze zugrunde gelegt, die sämtliche Steuerarten berücksichtigen.

Zu bedenken ist mit Blick auf die in den vergangenen Jahren bereits erfolgte Umverteilung, dass dieser Trend durch Wechselwirkungen zwischen Einkommens- und Vermögensverteilung weiter angetrieben werden kann. Je höher das laufende Einkommen einer Person, desto größer ist in der Regel der Anteil, der gespart wird: Die Sparquote, also der Anteil der Ersparnis am Einkommen, nimmt mit steigendem Einkommen zu. Dabei ist die Tatsache von Relevanz, dass der Anteil der Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit und Vermögen (Einkommen aus Unternehmensgewinn, Vermietung von Wohneigentum usw.) am Einkommen einer Person mit zunehmender Höhe seines oder ihres Einkommens steigt: Vergrößern sich die Gewinn- und Vermögenseinkommen etwa aufgrund einer sinkenden Unternehmenssteuersenkung, dann wird dies in Verbindung mit dem geschilderten positiven Zusammenhang von Einkommen und Sparquote unter sonst gleichen Bedingungen die Ungleichverteilung der Vermögen steigern.

Erhöht sich das Vermögen einer Person durch hohe Ersparnisse, so wird sie aus dieser Vermögensbildung in Zukunft höhere Kapitaleinkommen beziehen und so ihr Gesamteinkommen weiter vergrößern.

Gesellschaftliche und politische Folgen von Ungleichheit

Eine steigende und hohe Ungleichverteilung verschärft soziale Probleme und unterminiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt – dies ist der zentrale Befund der Forschungsarbeiten von Richard Wilkinson und Kate Pickett (2009).

Laut Wilkinson/Pickett existiert zum Beispiel ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der sozialen Benachteiligung und dem Bildungsniveau, die mit zahlreichen Faktoren wie einer förderlichen Wohnsituation, dem Vorhandensein von Büchern im Haushalt usw. zusammenhängt. Länder mit einer weniger ungleichen Verteilung der Einkommen schneiden bei Bildungsvergleichstests besser ab. Tatsächlich wäre es demnach auch unter bildungspolitischen Gesichtspunkten wichtig, das soziale Gefälle in Gesellschaften so weit wie möglich abzubauen. Ein schlechtes Ergebnis bei internationalen Vergleichen von Bildungsniveaus ist dabei nur einer von vielen negativen Folgen einer steigenden Ungleichheit – auch die Auflösung sozialer Bindungen und das Ausmaß von Gewalttaten, Drogenmissbrauch, Übergewicht sowie psychischen Erkrankungen fallen nach Wilkinson/Picket umso stärker aus, je ungleicher die Einkommen in einer Gesellschaften verteilt sind.

Der angesprochene Zusammenhang von Einkommensverteilung und Bildung bedeutet im Übrigen gerade nicht, dass »mehr Bildung« oder eine bessere Bildungspolitik alle sozialen Probleme beheben könnten. Neoliberale behaupten gerne, dass Bildungspolitik besser sei als Umverteilung, ja dass mehr Bildung Umverteilung sogar unnötig mache ( http://www.annotazioni.de/post/811 ). Schließlich, so argumentieren sie, seien die Einkommen von Menschen mit besseren Bildungsabschlüssen höher und deren Arbeitslosigkeitsrisiko geringer. Wenngleich letzteres stimmt, ist die Schlussfolgerung daraus doch falsch, dass mehr (individuelle) Bildung für alle zu weniger sozialer Ungleichheit (in einer Gesellschaft) führe. Denn Bildung ist ein relativer Wert: Wer weniger Bildung erhalten hat als andere, ist sozial höchstwahrscheinlich schlechter positioniert – und zwar selbst dann, wenn die eigene Bildung sehr hoch ist. So wichtig eine gute Bildungspolitik auch ist, so kann sie Sozialstaat und Umverteilung doch keineswegs ersetzen.

Mit dem Zusammenhang von sozialer und politischer Ungleichheit hat sich Lea Elsässer (2018) auf Basis der repräsentativen Daten des Politbarometers (ZDF) und des DeutschlandTrends (ARD) befasst. Nach den Ergebnissen ihrer empirischen Arbeit entsprechen politische Entscheidungen auf der Bundesebene in dem von ihr untersuchten Zeitraum 1980 bis 2013 insbesondere den Interessen der oberen Berufs- und Einkommensgruppen, während politische Anliegen von ärmeren Bevölkerungsgruppen keinen systematischen Einfluss ausgeübt haben. Dabei spielen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament – und damit auch die Zusammensetzung der Bundesregierung – keine Rolle. Elsässer problematisiert in diesem Zusammenhang auch, dass verstärkt Entscheidungen getroffen worden sind, die die soziale Ungleichheit verschärft haben. Und sie wirft die Frage auf, ob die fehlende politische Einfluss unterer sozialer Klassen nicht als Ursache für das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien angesehen werden muss.

Im letzten Punkt trifft sich ihre – jedoch sehr vorsichtig geäußerte – Vermutung mit den politischen Einschätzungen von Thomas Piketty, die auf einer Analyse von umfangreichen Daten zum Wahlverhalten basiert. Für ihn stellt der aktuell in zahlreichen Ländern aufkommende Nationalismus und Rassismus eine Entwicklung dar, die direkt mit der seit den 1980er Jahren ansteigenden Ungleichheit der Einkommen und der Vermögen zusammenhängt: Die wachsende Ungleichheit – nach seiner Analyse wie erläutert wesentlich verursacht durch eine zu geringe Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen – habe bei den unteren und mittleren Schichten Frustration erzeugt. Dies sei letztlich die Grundlage für nationalistische Bewegungen.

Steuerpolitik und neoliberale Agenda

Die wohl größten Erfolge des Neoliberalismus– der ideologisch die Interessen von Unternehmen, Vermögenden und Hocheinkommensbezieherinnen und -beziehern bedient – dürften in den vergangenen Jahrzehnten im Bereich der Steuerpolitik liegen. Hier ist es weltweit gelungen, mit entsprechenden Thesen und Behauptungen eine Politik der Steuersenkungen durchzusetzen: Leistungsträger dürften durch ihre Steuerlast nicht entmutigt werden, Unternehmen brauchten ausreichend Gewinne um zu investieren, Staaten stünden beim Werben um Unternehmensinvestitionen im internationalen Steuerwettbewerb, im Falle einer zu hohen Erbschaftssteuer drohe die Zerschlagung mittelständischer Unternehmen und der Verlust von Arbeitsplätzen – die Aufzählung ließe sich lange fortführen.

Die mit der Senkung von Spitzensteuersätzen einhergehende enorme Ungleichverteilung findet in politischen Debatten allerdings wenig oder keine Beachtung. So ist die Steuerpolitik der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder komplett in Vergessenheit geraten, während diese Regierung bis heute mit den unsozialen Hartz-Gesetzen und ihren Auswirkungen in Verbindung gebracht wird. Dabei dürften die Steuersenkungen jener Zeit einen größeren Einfluss auf die Einkommensverteilung gehabt haben als die Sozialpolitik: Allein die Senkung der Einkommensteuerspitzensatzes von 53 auf 42 Prozent brachte einem Einkommensmillionär oder einer Einkommensmillionärin eine Erhöhung seines bzw. ihres Nettoeinkommens in Höhe von 100.000 Euro (vgl. Eicker-Wolf 2004).

Eine progressive Wirtschaftspolitik, die die soziale Ungleichheit und ihre geschilderten Folgen beseitigen oder zumindest abmildern will, müsste im ersten Schritt zunächst einmal den hohen Stellenwert der Steuerpolitik für verteilungspolitische Fragen erkennen und zum Thema machen. In einem zweiten Schritt wären dann steuerpolitische Forderungen zu entwickeln, die insbesondere hohe Spitzensteuersätze im Bereich der Unternehmens-, Einkommens- und Vermögensteuer propagieren. Über die Durchsetzung einer solchen Politik würden letztlich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse entscheiden – in den vergangenen 40 Jahren lag das große Übergewicht hier auf Seiten der Wohlhabenden.

Literatur

Eicker-Wolf, Kai (2004): (Um-)Steuern für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Alternativen zu leeren Kassen und zur Umverteilung von unten nach oben, in: Kindler, Holger/Regelmann, Ada-Charlotte/Tullney, Marco (Hrsg.): Die Folgen der Agenda 2010, Alte und neue Zwänge des Sozialstaats, Hamburg.

Eicker-Wolf, Kai/Truger, Achim (Hg.) (2017): Ungleichheit in Deutschland – ein »gehyptes Problem«?, Marburg.

Elsässer, Lea (2018): Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Frankfurt/New York.

Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert, München.

Piketty, Thomas (2020): Kapital und Ideologie, München.

Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2020): Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert, Berlin.

Schröder, Carsten/Bartels, Charlotte/Göbler, Konstantin/Grabka, Markus M./König, Johannes (2020): MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, DIW Wochenbericht 29/2020.

Wilkinson, Richard/Pickett, Kate (2009): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin.

Vom Autor ist beim Büchner-Verlag aktuell erschienen: Money for nothing? Das Bedingungslose Grundeinkommen in der Kontroverse. 127 Seiten, ISBN 978-3-96317-199-4, 18,00 Euro.

Kai Eicker-Wolf ist Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftssekretär.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/zur-politischen-oekonomie-der-ungleichheit--2372.html   |   Gedruckt am: 23.04.2024