Grundrechte, Gesundheit und Klassenunterschiede: Linke Politik in der Krise

14. Mai 2020 | Miguel Montero

Politik sucht den Ausstieg aus dem Corona-Shutdown, das Kapital macht entsprechenden Druck, Impfgegner und Verschwörungstheoretikerinnen malen das Gespenst einer Diktatur an die Wand: Einige Überlegungen zu den laufenden Corona-Debatten in Politik und Medien.

Linke Beiträge zur Debatte über die Krise: Gefahren der Vereinfachung

In der ersten Phase des konzentrierten, zeitweilig stromlinienförmig Beschließens und Umsetzens der Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungen waren Einwände hauptsächlich in bürgerlichen Medien zu lesen. Es sind meistens JuristInnen, wie etwa der Professor für öffentliches Recht Mathias Hong, die die Einschränkungen der Grundrechte und die teilweise drakonischen Ausschöpfungen der Handlungsspielräume durch die Landesregierungen kritisieren.

Im Zuge der Debatte um die Exit Strategie ist dieses Diskursfeld aufgebrochen. Armin Nassehi beschreibt diese Entwicklung wie folgt.

»Anders verhält es sich nun angesichts von Diskussionen um das schrittweise Zurücknehmen dieses Zustandes. Dieser lässt sich viel weniger im Krisenmodus selbst bewerkstelligen. Jetzt reagiert die Gesellschaft wieder, wie sie es stets tut: in der Vielheit ihrer Stimmen und der Mehrdimensionalität ihrer Problemlösungskapazitäten. Und hier fällt nun auf, dass sie eben nicht aus einem Guss ist. Wir erleben derzeit Zielkonflikte, die koordiniertes Handeln schwierig machen.

Müsste man aus medizinischer Perspektive für einen längeren Verbleib im Modus eines konktaktreduzierten Alltags bleiben, wird man aus wirtschaftlichen Gründen für eine möglichst frühe Rückkehr zur Rücknahme von Kontaktverboten plädieren, und zwar auf der Produktions- wie auf der Konsumtionsseite. Wer im ersten Fall an übertriebene Vorsicht denkt und im zweiten nur an wirtschaftliche Gewinninteressen, hat nicht begriffen, wie vernetzt und abhängig das eine vom anderen ist.«

Diese Zielkonflikte offenzulegen, und in die Debatte über den Exit und die Post-Corona Phase einzugreifen, erscheint mir zentral. Jetzt eröffnet sich ein Feld der öffentlichen Diskussion, das wir nicht ungenützt lassen dürfen. Erschreckend ist aber, dass die Öffnung dieser Diskursräume von vielen Linken nicht dazu genutzt wird, um über die Verfasstheit der Gesellschaft nachzudenken und Formen linken Handelns auszuloten. Stattdessen rekurrieren einige Linke auf einen diskursiven doppelten Rückwärtssalto: Das Ausmaß der Pandemie wird heruntergespielt und die Einschnitte der Grundrechte überzeichnet. Bezeichnend ist, dass einige Linke, wohl aus dem Bedürfnis heraus, sich Klarheit in dieser unübersichtlichen Gemengelage zu verschaffen, nicht davor zurückschrecken, Argumente der Rechtsradikalen übernehmen. Schlichtweg gruselig ist die Attitüde mit der sich etwa Anselm Lenz und Co zu Verteidigern des Grundgesetzes hochstilisieren, Bündnisse mit kenfm und Organe von Verschwörungstheoretikern wie Rubikon eingehen und die Mär einer Gleichschaltung der Berichterstattung durch die Medien wiederholen.

Robert Misik warnt vor dem Charme monokausaler Erklärungsversuche, die nur dazu dienen, Komplexität zu reduzieren, aber die letztlich die Gefahr bergen, linke und rechte Erklärungsschemata deckungsgleich und damit austauschbar zu machen.

»Linke, die gerade noch über den Tunnelblick von Leuten lachten, die jeden Unsinn glauben, wenn er nur per Youtube oder Whatsapp verbreitet und mit dem Beiklang der «unterdrückten Wahrheit» versehen wurde, begannen nun auch irgendwelchen Allgemeinmedizinern aus der Provinz zu lauschen, die erklärten, sie wüssten, was uns die Mächtigen über Covid-19 verheimlichten. (…). Plötzlich war auch die Neigung, Verschwörungstheorien zu glauben, relativ gleich oder, wie man auch sagen könnte: gerecht verteilt. Etwa von der Art: Das Virus wird von ruchlosen Regierenden benützt, um eine autoritäre Herrschaft zu etablieren, die Meinungsfreiheit und Bürgerrechte einzuschränken.«

Zwei diskursive Eigenheiten dieses Diskurses sind auffallend: seine Fokussierung auf medizinische Überlegungen und das Heraufbeschwören totalitärer Szenarien: Genau diejenigen, die die Dominanz der Virologie in der Debatte monieren, fokussieren sich ganz auf die virologische Ebene und streiten, zudem noch als Laien, darüber ob z.B. der schwedische Weg zielorientierter sei, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Gleichzeitig wird den Maßnahmen der Bundesregierung unterstellt, die Demokratie unterwandern zu wollen. Mangels Belege für dieses Vorhaben werde diese Diskurse mit apokalyptischer Voraussagen unterlegt, wie etwa Arno Luik in den Nachdenkseiten:

»Wir sollen durchsichtig werden. Wir sollen zwangsdiszipliniert werden.«

Oder noch kruder, die Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand e.V.i.Gr. in ihrer Mail vom 2.5.2020

»Eines ist für uns in Berlin jetzt final sicher:

Wir leben derzeit in einer Diktatur.

Teile der Regierung wollen uns gezielt fertig machen und schrecken auch vor Terror in Form von Folter-artigen Methoden nicht zurück.

Wohlgemerkt: Diese systematische Gewalt richtet sich gegen friedliche Menschen, die Grundgesetze verteilen wollen.

Es stellt sich die Frage, wie lange die Verantwortlichen diese Taktik noch aufrechterhalten wollen.

Denn die Proteste werden drastisch zunehmen, wenn diese historische Wirtschaftskrise erst einmal ihre volle Kraft entfaltet.

Werden sie bürgerkriegsähnlichen Zustände in Kauf nehmen? Sie tun jedenfalls viel dafür, um diesen Eindruck zu erwecken.«

Linke Ansätze in Zeiten der Krise: Widersprüche, Kräfteverhältnisse und Klassen

Die Hoffnung, dass die aktuelle Krise den Neoliberalismus quasi per Automatismus zu Fall bringen wird, ist schlichtweg falsch; die Interpretation, Staatshilfen seien bereits ein Eingeständnis der Unausweichlichkeit eines Systemwechsels, eine Chimäre. Thomas Wohlfahrt beschreibt in seinem Kommentar im Neuen Deutschland neoliberale Wirtschaftssysteme funktional, nämlich als einen Schutzwall gegen gesellschaftliche Veränderungen.

Albert Portillo weist darauf hin, dass dieser »Krisenoptimismus« den historischen Kontext wie auch die Machtstrukturen außer Acht lässt.

»Dies führt zu einer systematischen Aushebelung strategischer Überlegung zugunsten einer Taktiererei, die das wundersame Herbeiführen eines bestimmten Ereignisses zur Folge haben wird. Uns wird gesagt, dass durch den Einsatz angemessener Instrumente der politischen Kommunikation und des diskursiven Marketing aus dem Nichts heraus die Artikulierung der Forderung eines populären Subjekts, das nur darauf wartet, angesprochen zu werden, erfolgen wird.« (Übersetzung des Autors)

Gleichzeitig werden die Verschiebungen ausgeblendet, die sich auf europäischer Ebene nicht erst seit der Finanzkrise im Jahr 2008, sondern auch in dem langen Zyklus, der neoliberale Politiken in ganz Europa fest verankert hat und in dem Deutschland eine Vormachtstellung einnimmt.

Die (Schein-) Debatte über Kurven, Modelle und pseudo-wissenschaftliche Erkenntnisse verdeckt die eigentliche Herausforderung: über die Handlungsfelder linker Politik nachzudenken, die Krise zu nutzen, um die kapitalistische Produktionsweise infrage zu stellen. Drei Themenkomplexe, über die wir nachdenken sollten, sind durch die Krise noch einmal deutlich geworden: die Ausbeutungsverhältnisse in der Arbeitswelt, die Auseinandersetzung mit den Kräfteverhältnissen und die Klassenverhältnisse.

Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus

Die Krise verstärkt bestehende Widersprüche und Spaltungen, die die Gesellschaft schon seit Jahre prägen (prekäre und regulär Beschäftigte, Männer und Frauen). Deutlich geworden ist das paradoxe Gefälle zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung prekärer Berufe und ihrer mangelnden Anerkennung vermittels der Gehälter. David Graeber weist in einen Interview in Die Zeit darauf hin: auffallend ist, dass gerade die systemrelevante Jobs die am gering entlohnten sind.

»wer wie viel verdient, das ist eine politische Machtfrage. Durch die aktuelle Krise wird jetzt noch deutlicher: Mein Lohn hängt überhaupt nicht davon ab, wie sehr mein Beruf tatsächlich gebraucht wird.«

Fraglich ist aber, ob die zumindest deklamatorische Aufwertung der systemrelevanten Prekären sich in Zukunft in entsprechende Lohnerhöhungen niederschlagen wird oder ob sich diese Beschäftigten sich am Ende nicht doch mit mickrigen Einmalzahlungen zufriedengeben werden müssen.

Die Kräfteverhältnisse in der Zeit nach der Krise

Die Rettungsprogramme und die Ausweitung der Hilfen für Arbeitslose, KurzarbeiterInnen und Selbstständige werden die Debatte um Kürzungen und Umstruktierung staatlicher Haushalte verschärfen, Vorschläge zur Sanierung öffentlicher Haushalte mittels erheblicher Umverteilung werden garantiert bereits erstellt. Dazu wieder Thomas Wohlfahrt im Neuen Deutschland:

»man sollte sich nicht durch falsche Hoffnungen auf einen vermeintlich automatisch wieder auferstehenden Sozialstaat täuschen lassen. Zwar hat die ordnungspolitische Bewältigung der Krise mit einem späten, aber gleichwohl bemerkenswerten Rigorismus längst begonnen. Ihre sozialpolitische Bewältigung allerdings muss erst noch ausgehandelt werden.«

Entscheidend wird hier sein, die Kräftverhältnisse auszuloten, die nicht nur Schlimmeres verhindern, sondern grundlegende Veränderungen herbeiführen können. Beinahe verzweifelt und resigniert wirken Apelle wie etwa der von Jutta Allmendinger, die darauf setzt, dass Politik sich an den Einsatz systemrelevanter Berufsgruppen erinnert, um nach der Krise deren Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Klassenverhältnisse einbeziehen

Letztlich ist diese Krise auch eine Chance, die Klassenverhältnisse in Deutschland stärker in den Fokus zu nehmen. Die Auflösung der Klassen und die Verunmöglichung klassischer linker Politik sind das Narrativ, das letztlich grundlegende Veränderungen ausschließt. Tatsächlich hat aber gerade die Arbeitsteilung in der Krise die zugrundeliegenden Klassenunterschiede noch einmal auf den Punkt gebracht. Der Soziologe Andreas Reckwitz versucht sich an einer interessanten ad hoc Analyse des heutigen Klassengefüges in Deutschland im Kontext der Krise:

»Das ist zentral: Auch wenn sich das Social Distancing an alle richtet, betrifft die Krise die sozialen Milieus in sehr unterschiedlicher Weise. Generell stellt sich die Sozialstruktur der Spätmoderne als die einer Drei-Klassen-Gesellschaft dar: die neue Mittelklasse der Akademiker, die traditionelle Mittelklasse und die neue prekäre Klasse (service class) stehen einander gegenüber.

In der Risikokonstellation der Corona-Krise werden die Karten nun neu gemischt: In jeder dieser drei Klassen existieren Subsegmente, die krisenfest sind und andere, die heftig im Wind stehen. So gibt es ein Segment in der service class, dass sicher gut durch die Krise kommt, nämlich die Infrastrukturberufe, also etwa die viel gelobten Kassiererinnen in Supermärkten und Drogerien.

Dagegen gibt es im Bereich Verkehr, Gastronomie und Hotel viele Existenzen, die gerade vor dem Nichts stehen. All jene Dienstleistungen, bei denen es nicht um Grundversorgung geht und bei denen man zugleich auf engen Kundenkontakt oder kurzfristige Nachfrage angewiesen ist, haben enorme Probleme.

Auch innerhalb der neuen Mittelschicht gibt es eine Spaltung: da sind die in der Wissensökonomie Beschäftigten, deren Gehälter einfach weiterlaufen und bei denen sich die Arbeit lediglich an den heimischen Schreibtisch verlagert hat. Auf der anderen Seite stehen viele Kulturschaffende, der ganze Kunst-, Musik- und Theaterbetrieb, die Soloselbstständigen – ein Segment, das von immer neuer Nachfrage lebt oder auf öffentliche Kontexte angewiesen ist; es ist in eine bedrohliche Situation geraten.«

Zurecht weist Reckwitz in einem Interview darauf hin, dass die Klassenunterschiede noch einmal kulturell gebrochen werden, d.h. dass die prekär beschäftigte neue Mittelklasse kulturell sich nicht nur vom der alten Mittelklasse sondern auch vom Dienstleistungsprekariat unterscheidet.

»Die Einkommensunterschiede zwischen den Mittelklassen und der Unterklasse darf man nicht vernachlässigen. Die Unterschiede zwischen den Gruppen, die ich neue und alte Mittelklasse nenne, liegen jedoch größtenteils nicht auf der Ebene von Einkommen und Vermögen. Es sind vornehmlich kulturelle Differenzen, die wirken. Da geht es um alltägliche kulturelle Praktiken, die Art, wie man lebt und was einem im Leben wichtig ist, wie man arbeitet und seine Freizeit verbringt. Diese kulturellen Differenzen sind mehr als ein Sahnehäubchen auf einem ökonomischen Fundament. Kultur ist mächtig, sie prägt die Alltagswelten und die Art und Weise, wie wir leben. Und das kulturelle Kapital, das heißt das Bildungskapital, ist ein zentraler Parameter, in denen sich neue und alte Mittelklasse unterscheiden.«

Ernüchternd, vielleicht aber auch erhellend, ist allerdings Reckwitz' Schlussfolgerung: Momentan laufe die Hauptkonfliktlinie keineswegs zwischen Links und Rechts, sondern vielmehr zwischen zwei Optionen, die einem entfesselten, wirtschaftsorientierten oder einem staatsnahen und wohlfahrtsorientierten Liberalismus. Laut Reckwitz läuft die jetzige Entwicklung darauf hinaus, das bestehende System einzuhegen und in einen fürsorgenden, liberalen Kapitalismus zu überführen.

»Dieser Transformation vom Dynamisierungsliberalismus zu einem «einbettenden Liberalismus» wird die Corona-Krise einen Schub geben: Die Notwendigkeit einer staatlichen Vorsorge für Krisenfälle und eines robusten öffentlichen Gesundheitsnetzes, die gegenwärtig teilweise schmerzhaft fehlen, sind dann weitere Mosaiksteine in einer Renaissance des spätmodernen Staates und seiner öffentlichen Funktionen des «Allgemeinen».

Auch die Globalisierungsprozesse – etwa wenn es um globale Mobilität geht – werden wohl staatlich künftiger stärker reguliert werden.«

Sind das tatsächlich die die einzigen Alternativen?

Handlungsfelder linker Politik: Diskurs-, Handlungs-, und Bündnisfähigkeit

Hans-Jürgen Urban warnt in der FR vor der Verklärung des Vorkrisenzustandes; der Wunsch in eine Normalität zurückzukehren, die behaftet ist mit grundlegenden Ungleichheiten und Verwerfungen.

»Doch das vielleicht nachhaltigere Problem liegt woanders. Es reicht bis weit in die Gesellschaft hinein. Es ist die immer wieder durchbrechende Sehnsucht nach der Normalität der guten alten Vorkrisenzeiten. Ob Vorhaben der Regierungen, ob Szenarien der Wirtschaftswissenschaften, ob Pläne von Theatern, Konzerthäusern oder anderen Einrichtungen, nahezu alle Entwürfe fragen nach Wegen zurück. Zurück zur wachsenden Wirtschaft, zum stabilen Arbeitsmarkt, zu verlässlichen Kultursubventionen, zum gewohnten Alltagsleben. Rückkehr wird geradezu zum Signum der Krisenpolitik. Doch die romantische Sehnsucht nach den alten Zuständen ist fatal. Offenbar verklärt der Blick aus dem Auge des Orkans die Vergangenheit. Der deutsche Vorkrisenkapitalismus taugt nicht als konkrete Utopie fortschrittlicher Politik. Soziale Ungleichheit, Klimakrise, Rechtspopulismus und andere Missstände sollten auch im Angesicht der Krise nicht so schnell in Vergessenheit geraten.«

Diskursfähigkeit

Diskursfähig zu werden, heißt Alternativen zu skizzieren und zur Debatte stellen. Die Herausforderungen beziehen sich nicht nur auf die gegenwärtige Krise, sondern auf das Post-Krisen-Szenario. Sam Gindin sieht eine Öffnung der Diskussionsräume auch für Linke, die es jetzt zu nutzen gilt. Besonders eindeutig ist dies in der Frage nach der Ausgestaltung und Ausstattung des Gesundheitswesens und der demokratischen Entscheidungsfindung. Die internationale Dimension der Krise, wie etwa die Abhängigkeit der WHO von privaten Geldgebern oder die mögliche Auswirkungen der Pandemie auf arme Länder, die »andere Triage«, wie Mike Davis sie nennt, wird weitestgehend in der Debatte ausgeklammert.

Spannend sind die Überlegungen von Hans-Jürgen Urban. Urban nennt zwei zentrale Konfliktachsen, die es mit Argumenten zu unterlegen gilt: den »Transformationskonflikt um künftige Gesundheits- und Sozialpolitik«, in dem es um eine Verstetigung der aktuellen Sozialpolitiken geht, die erst einmal auf Zeit angelegt sind. Darüber hinaus geht es um den Ausbau des Gesundheits- und Pflegesystems jenseits kapitalorientierter Strategien sowie um die Umsetzung der Erkenntnisse über die besondere Vulnerabilität bestimmter Gruppen (Soloselbstständige, prekär Beschäftigte). Erstaunlich ist m.E., wie schnell Politik reagiert hat. Die Erkenntnisse über den besonderen Handlungsbedarf waren offenbar vorhanden, nach Abflauen der Krise muss ein Weiter-so verhindert werden.

»Grundlegende Korrekturen in Produktions- und Verteilungsverhältnisse« machen eine deutliche Priorisierung des ökologischen Umbaus in der Phase des Wiederaufbaus notwendig. Staatliche Hilfen, die lediglich eine schnelle Wiederaufnahme industrieller Produktion ungeachtet der Umweltbilanz gewährleisten sollen, wären fatal. Urban spricht auch die Eigentumsfrage an.

»Politische Interventionen etwa durch Schadstoffgrenzen und Produktauflagen sind unverzichtbar. Aber auch Eingriffe in die Eigentums- und Verfügungsrechte. Gelten muss: Wo öffentliches Geld fließt, muss öffentliches Eigentum entstehen und öffentliche Einflussnahme folgen. Schon die Miteigentümerschaft der öffentlichen Hand ermöglicht Einflussnahme auf Unternehmenspolitiken.«

Mike Davis plädiert in diesem Zusammenhang für eine programmatische Verschärfung der Debatte über die Ungleichheit hin zu einem Diskurs, die auf die Eigentumsverhältnisse abzielt:

»The current pandemic expands the argument: capitalist globalization now appears to be biologically unsustainable in the absence of a truly international public-health infrastructure. But such an infrastructure will never exist until social movements break the power of Big Pharma and for-profit healthcare. This requires an independent socialist design for human survival that goes beyond an updated New Deal. Since the days of Occupy, socialists have put the struggle against income and wealth inequality on Page One: a great achievement to be sure. But now we must take the next step of advocating social ownership and the democratization of economic power, with the healthcare and pharmaceutical industries as immediate targets.«

Neben diese beiden Diskursachsen gehört eine dritte: das Ausbuchstabieren einer Care-Society, die das Machtgefälle zwischen Männer und Frauen, das in der Krise deutlich geworden ist, klar infrage stellt. Die meisten der sogenannten systemrelevanten Berufe sind frauendominiert. In der Debatte um den Exit ist die Rückkehr zur Normalität in der Arbeitswelt unhinterfragt von der Öffnung der Kindergärten entkoppelt worden, was viele Alleinerziehende, meistens Frauen, vor eine schier unlösbare Herausforderung stellt. Jana Hensel und Jutta Allmendinger problematisieren dieses Machtgefüge, das sich bis in die Expertenkommission der Leopoldina fortsetzt. Einen etwas breiteren Ansatz hat die argentinische Soziologin Maristella Svampa vorgestellt, die einen Übergang zu einer »pflegenden Gesellschaft« fordert. Care, das ist der enorme Zugewinn dieser Option, meint hier keineswegs nur die Pflege älterer Menschen, sondern tatsächlich die gesamte Bandbreite der Pflegearbeiten, die insbesondere auch die unbezahlten Arbeiten im familiären Umfeld mit einbezieht. Eine breite Debatte über die Verteilung dieser Arbeiten, über ihre Bezahlung und Anerkennung ist ein weiteres Diskursfeld, das sich in der Krise eröffnet. Die Chance besteht darin, die Anknüpfung an Diskurse wie den von Silvia Federici zu suchen, die Reproduktionsarbeit und die inhärenten Machtverhältnisse in das Zentrum ihrer Analyse stellt.

Handlungsfähigkeit

Wenig hilfreich ist bei dieser Überlegung ein Zurückfallen in klassische linke Kampagnenpolitik, wie sie etwa das Institut für Gesellschaftsanalyse & Friends vorschlägt. Die Aufzählung der richtigen Themen erinnert stark an Politikmodelle, die bereits in der Vergangenheit ihre Nutzlosigkeit gezeigt haben. Recht zu haben mit den Themen entledigt uns noch nicht der Verantwortung, eine klare Analyse der Kräftefelder zumindest zu versuchen.

Zentral ist hierbei eine ehrliche Diskussion über die Verankerung der Linken in Gewerkschaften und Parteien. Sam Gindin sieht gerade die Gewerkschaften in einer zentralen Rolle.

»Three points are critical here. First, widespread worker participation demands the expansion of unionization to provide workers an institutional collective to counter employer power. Second, such local and sectoral participation cannot be developed and sustained without involving and transforming states to link national planning and local planning. Third, it is not only states that must be transformed but working-class organizations as well. The failure of unions over the past few decades both in organizing and in addressing their members’ needs is inseparable from their stubborn commitment to a fragmented, defensive unionism within society as it currently exists, as opposed to a class-struggle trade unionism based on broader solidarities and more ambitiously radical visions. This calls for not just ‘better’ unions, but for different and more politicized unions.«

Wichtig für diesen Ansatz, der im Kern darauf hinausläuft, Räume für die Klassenorganisation zu erkunden und dann auch gezielt auf- bzw. auszubauen, ist das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeiten. Gindin spricht die mangelnde Verwurzelung der Linken in den (noch existierenden) Organisationen und Milieus der ArbeiterInnenklasse an.

»Andrew Murray, chief of staff at the British/Irish union UNITE has noted the difference between a left that is ‘focused’ on the working class and one that is ‘rooted’ in it. The greatest weakness of the socialist left is its limited embeddedness in unions and working-class communities. Only if the left can overcome this gap – which is a cultural gap as much as it is a political one – is there any possibility of witnessing the development of a coherent, confident, and independently defiant working class with the capacity and capacity-inspired vision to fundamentally challenge capitalism.«

Hoffnung sollten wir uns auch nicht bzgl. des systemüberwindenden Potentials zivilgesellschaftlichen Engagements machen. Zivilgesellschaftliche Solidarität ist kein Anzeichen für eine nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie ist vielmehr Ausdruck der Fähigkeit der Gesellschaft, im Alltag aber eben auch in Krisen Unterstützung zu leisten, meistens im Nahbereich und ohne den Anspruch, allgemeinere Fragen aufzuwerfen. Zivilgesellschaftliche Solidarität generiert auch nicht, wie etwa Jutta Allmendinger behauptet, eine Bringschuld seitens des Staates, die Verhältnisse nach der Krise nachhaltig zu verändern. Im Gegenteil, oftmals springt sie dort ein wo Institutionen nicht präsent sind oder schlichtweg versagen.

Der Soziologe Heitmeyer beschreibt diese Beschränkung wie folgt:

»Ich habe allerdings den Eindruck, dass auch viel Gesellschaftsromantik zurzeit unterwegs ist, die durchaus ein Problem darstellt, denn die Hoffnung, dass sich nun alles ändert, zum Positiven hin, kann ich nicht erkennen. Denn wir leben letztlich in einem kapitalistischen Staat und da ist es ja so, dass der Finanzkapitalismus kein besonderes Interesse an gesellschaftlicher Integration hat, sondern da geht es um die Kriterien von Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Effizienz, und da muss man aufpassen, dass das jetzt nicht auch auf Menschen zunehmend angewandt wird und Menschen und Menschengruppen danach bewertet werden. Diese Gefahren sind alle vorhanden und können nicht jetzt durch die Solidaritäten einfach dazu führen, dass sich Strukturen verändern. Das ist naiv zu glauben, dass daran sich nun weitreichende Neuentwicklungen der gesamten Gesellschaft festmachen lassen.«

Solidarität ergänzt und ersetzt teilweise staatliches Handeln, ist aber begrenzt und keine zeitliche endlos abrufbare Ressource, wie Branko Milanovic in Die Zeit erinnert.

»Wir wissen aus der Geschichte, dass es während Kriegen und Epidemien anfangs immer Wellen der Solidarität gab. Diese lösten sich aber mit der Zeit auf. Wenn große Schocks andauern, entsteht Druck auf das soziale Gefüge. Deshalb glaube ich, wird die Zeit nach der akuten Pandemie die schwierigste sein. Das sage ich auch im Hinblick auf Staaten mit hoher Ungleichheit wie Brasilien, Südafrika, sogar Indien und den USA.«

Solidarität, die nicht nur auf Krisen reagiert, sondern auch in der Normalität agiert und sich politisch artikuliert, lebt von und in gewachsenen Milieus, die, auch keine neue Erkenntnis, gerade im Kapitalismus gezielt zerrüttet worden sind. Darüber können auch die unzähligen staatlichen Programme zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements nicht hinwegtäuschen.

Sinnvoll wäre auch eine ehrliche Bestandsaufnahme über die Verwurzelung der Linken in der Zivilgesellschaft, denn solidarisches Handeln kann neue Formen des Miteinanders und der Politisierung begründen.

Alex Demirović beschreibt zutreffend die Bedeutung solidarischen Handelns.

»In der aktuellen Krise ist Solidarität notwendig, und die Menschen zeigen sie in der Selbstorganisation in Stadtteilen, in der Nachbarschaftshilfe, in Streiks um Absicherung bei Arbeitslosigkeit, um Löhne, um Schutz am Arbeitsplatz (in den USA, Spanien, Italien, Frankreich), in einfallsreichen digitalen Aktivitäten in einem unerwarteten Ausmaß.«

Nur ist es nicht die Linke, die solidarisches Handeln fördert. Ähnlich wie im Jahr 2015 sind die Kirchen, Nachbarschaften und Bürgervereine die Protagonisten solidarischen Handels. Klar, da sind auch Linke drin, aber nicht als solche erkennbar und folgerichtig eben nicht mit linker Politik gleichgesetzt.

Sind linke Strukturen in solidarischen Netzwerke der Zivilgesellschaft eingebettet? Generieren sie selber solidarisches Handeln?

Bündnisfähigkeit.

Letztlich ist die Anschlussfähigkeit der Diskurse und Handlungsansätze an bereits bestehende Ansätze außerhalb des eigenen Milieus zentral. Nehmen wir zum Beispiel die Debatte über die Maßnahmen gegen das Virus. Teilweise wird in juristischen Kreisen offener und besser fundiert über die mangelnde Legitimität der ergangenen Einschränkungen debattiert. Dies bezieht sich sowohl auf die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 des Grundgesetzes wie auch auf Fragen des Datenschutzes und Rechte besonders vulnerabler Gruppen (Strafgefangene, ältere Menschen usw.). Die Suche nach einer solchen Anschlussfähigkeit setzt natürlich die Abkehr von hysterischen Szenarien voraus, die nur der Selbstvergewisserung der eigenen Community dienen. Zentral wäre dafür auch eine offene Auseinandersetzung mit Standpunkten anderer Zirkel (hier etwa JuristInnen).

Deutlich wird auch, dass jede der einzelnen Diskurs- und Handlungsachsen eine Vielzahl von potentiellen Bündnismöglichkeiten eröffnet. Voraussetzung ist allerdings die Etablierung eigener Diskursfelder, die die Formulierung konkreter Ansätze und Alternativen ermöglicht. Wenig hilfreich sind Bündnisse mit Rechten, Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern. Wenig hilfreich sind aber auch der Rückfall in traditionelle Kampagnenpolitiken oder die Erwartung, dass sich die Umstände alleine aus einer Einsicht in die offensichtlichen Unzulänglichkeiten des aktuellen Systems von alleine verändern werden.

Miguel Montero ist Sozialwissenschaftler aus Berlin.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/grundrechte-gesundheit-und-klassenunterschiede-linke-politik-in-der-krise--2366.html   |   Gedruckt am: 29.03.2024