Interview

Stefan Heinz: »Vergessene Gewerkschaftsfunktionäre zum Bestandteil einer kollektiven Erinnerungskultur machen«

23. Januar 2020 | Georgios Chatzoudis

Stefan Heinz über Alwin Brandes, den ersten Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiterverbandes, und dessen Leben in vier politischen Systemen. Der Historiker und Politikwissenschaftler Heinz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Herr Dr. Heinz, gemeinsam mit Prof. Dr. Siegfried Mielke haben Sie einen gewichtigen Band in der Reihe »Gewerkschafter im Nationalsozialismus« veröffentlicht. Auf mehr als 500 Seiten stellen Sie Leben und Wirken des Gewerkschafters Alwin Brandes vor – ein weithin unbekannter Mann. Was hat Sie bewogen, sich Alwin Brandes zu widmen?

Stefan Heinz: Alwin Brandes ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Er zählte zu den einflussreichsten und bekanntesten Gewerkschaftern in der Weimarer Republik. Brandes war bedeutender Akteur während der Novemberrevolution und von 1919 bis 1933 einer der Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) – damals nicht nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft der Weimarer Republik, sondern sogar die größte der Welt. Brandes war Repräsentant seiner Gewerkschaft auf internationaler Ebene und langjähriger Wirtschafts- und Sozialpolitiker im Reichstag. Nach 1933 war der aktive Gewerkschafter »Kopf« einer der bedeutendsten gewerkschaftlichen Widerstandsgruppen gegen das NS-Regime. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte er zu den scharfen Kritikern der Entwicklung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) zu einer zentralistischen Gewerkschaft unter Führung der SED in der Sowjetischen Besatzungszone. Der Lebensweg von Brandes ist verflochten mit bedeutenden Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts. Soweit es möglich war, engagierte sich der Gewerkschafter in den insgesamt vier politischen Systemen, in denen er lebte, für eine Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

In dem Maße, wie der zeitliche Abstand zum letzten Jahrhundert zunimmt und sich sowohl die Arbeitnehmerschaft als auch gewerkschaftliche Politik verändert haben, ermöglicht die Beschäftigung mit wichtigen Akteuren der Gewerkschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine Diskussion über gesellschaftliche Verhältnisse in Vergangenheit und Zukunft. Die vielfältigen Aktivitäten von Alwin Brandes, der für mehr als zehn Jahre an der Spitze des DMV, der Vorläuferorganisation der heutigen IG Metall, stand, waren Gründe genug für eine ausführliche Beschäftigung mit der Biografie des Gewerkschafters. Interessant ist, dass Brandes nach seinem Tod in der Rückschau von Gewerkschaftern unterschiedlich bewertet wurde. Den einen galt er als »rechter«, den anderen als »linker« Sozialdemokrat. Die einen beschrieben ihn als »mitreißenden Redner«, die anderen als eher »farblose Gestalt«.

Problematisch war, dass kein Nachlass von Brandes überliefert ist. Insofern mussten wir zahlreiche, zum Teil europaweit verstreute Quellen in verschiedensten Archiven einsehen. Ausgangspunkt für die Aufarbeitung des gewerkschaftspolitischen Lebensweges bildete die Frage nach Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten von Brandes. So erhofften wir, neue differenzierte Erkenntnisse zu gewinnen. Eine Leitfrage, die nach Handlungsspielräumen bei Entscheidungen von Brandes fragt, ließ sich aber nur dann hinreichend beantworten, wenn neben gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Faktoren den wichtigen Fragen nach innergewerkschaftlichen Differenzen intensiv nachgegangen wird. Schließlich entschieden diese ebenso über Erfolg und Misserfolg individuellen Handelns. All dies schließt die Frage nach dem Beitrag von Brandes zu Erfolgen und Misserfolgen gewerkschaftlicher Politik insgesamt ein. Brandes wird von uns als vielfältige Person seiner Zeit gesehen, die von Gesellschaft und Wirtschaft geprägt wurde. Zugleich gestaltete er diese mit einmal mehr und oft auch weniger Spielraum mit. Unsere Biografie fragt nach Kontinuitäten und Brüchen im Handeln von Brandes und Gründen dafür. Dieses Herangehen an eine Biografie ist spannend!

Der Untertitel des Buchs lautet »Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer« und deutet einmal mehr darauf hin, dass Alwin Brandes unterschiedliche politische Phasen in der neueren deutschen Geschichte durchlaufen hat. Dass dabei Brüche auftreten, erscheint nur folgerichtig. Im Kaiserreich sozialisiert, den Ersten Weltkrieg kritisch verfolgt, die Novemberevolution und die Weimarer Republik mit unterschiedlichen Positionen mitgestaltet, den Nationalsozialismus bekämpft und überlebt und die deutsche Teilung auf Seiten der Sowjetischen Besatzungszone noch aktiv erlebt. Die typische Biografie eines Gewerkschafters jener Zeit?

Stefan Heinz: Es gibt sicher eine Reihe Lebenswege, die in Grundzügen Ähnlichkeiten haben. Dennoch gab es nur wenige Gewerkschafter, die so wichtige Positionen wie Brandes sowohl in der Gewerkschaftsbewegung als auch in der Politik erlangten. Sein Aufstieg innerhalb des DMV begann vergleichsweise spät als lokaler Gewerkschaftsfunktionär in Magdeburg. Brandes erregte Aufsehen mit dem Aufbau einer besonders professionell und effektiv arbeitenden DMV-Verwaltungsstelle. Der Gewerkschafter gehörte eben nicht zu den »farblosen« Funktionären, die ihre Individualität für die Organisation opferten. Für Brandes gilt vielmehr, dass er mit Engagement und unter Inkaufnahme von erheblichen Risiken vom einfachen Mitglied zum DMV-Vorsitzenden avancierte. Er nahm Möglichkeiten seiner individuellen Einflussnahme bei strittigen Themen innerhalb des DMV häufig wahr und nutzte sie zur Stärkung seiner Position.

Schließlich verstand es Alwin Brandes, seine Stellung durch eine kluge Vermittlungstätigkeit im DMV zu festigen. Sein Wille, Konflikte prinzipiell lösungsorientiert zu bewältigen, war bereits in jungen Jahren erkennbar. Dieser Wille sollte sich in der Frühphase der Weimarer Republik besonders bewähren. Mithilfe der Arbeiter- und Soldatenräte strebte er beispielsweise im Zuge der Novemberrevolution eine grundlegende, aber »gemäßigte« sozialistische Perspektive an. Diese beinhaltete einen schrittweisen Prozess zur Umgestaltung der Herrschaftsstrukturen in Wirtschaft und Verwaltung. Brandes, der sich an einem speziellen Rätegedanken in einer »sozialen Volksrepublik« orientierte, kritisierte nach Ende der Revolution deutlich die zögerlichen Versuche der Sozialisierung der Industrie. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch zahlreiche Diskussionen um eine Verknüpfung von Aspekten des Rätesystems und parlamentarischer Demokratie sowie Debatten um die Frage der Fusion der »Rest«-USPD und SPD im Jahr 1922. Für diese setzte sich Brandes, der von 1917 bis 1922 USPD-Mitglied war, vergleichsweise früh und besonders intensiv ein. Später sprach er sich für eine engere strategische Kooperation von Sozialdemokraten mit bürgerlichen Kräften aus, soweit diese bereit waren, die Demokratie zu verteidigen. Alle diese Aspekte werden im Buch thematisiert und in den historischen Rahmen eingeordnet.

Weil sich Brandes’ Überlegungen – im Gegensatz zu den Positionen anderer radikalerer Akteure – durch Realitätsnähe auszeichneten und er stets eine vermittelnde Position zwischen dem »linken« und »rechten« Flügel im DMV einnahm, konnte er sich bei Konflikten im Verband eher als andere Funktionäre der Verbandsspitze durchsetzen. Dennoch hatte Brandes als DMV-Vorsitzender selbstverständlich nicht nur Freunde. Seine Vorstellungen für eine Demokratisierung der Wirtschaft wurden ebenso wie sein Einsatz für die wirtschaftlichen Interessen der DMV-Mitglieder sowohl vonseiten der Anhänger der KPD als auch der Nationalsozialisten bekämpft. Als Mitglied des »Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold«, der größten demokratischen Organisation der Weimarer Republik, und als Beisitzer des »Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik« setzte sich der aktive Demokrat gleichermaßen mit Kommunisten und Nationalsozialisten auseinander. Im Hinblick auf die Gefahren für die Demokratie erkannte Brandes im Sinne totalitarismustheoretischer Deutungen kaum Unterschiede zwischen nationalsozialistischer und kommunistischer Ideologie. So überrascht es nicht, wenn Brandes die »arbeiterfeindliche« Rolle von reaktionären Eliten in Politik und Wirtschaft sowie von Kommunisten und Nationalsozialisten in einem Atemzug anprangerte. Aus seiner Sicht zogen alle diese gefährlichen »Antidemokraten« an einem Strang, wenn es darum ging, die Sozialdemokratie im Parlament und die freigewerkschaftliche Politik im Betrieb zu schwächen.

Die intensiven innerverbandlichen Auseinandersetzungen, die Brandes mit den im DMV organisierten Kommunisten auszufechten hatte, nahmen Anfang der 1920er-Jahre viel Zeit in Anspruch. Anschaulich wird in der Studie, wie sich zum Ende der Weimarer Republik die Konfrontation zwischen Kommunisten und dem DMV-Vorsitzenden, der als »Bonzokrat« diffamiert wurde, verschärfte. Die Spaltung der Metallarbeiterschaft vertiefte sich in dieser Situation, wofür wir die Ursachen im Buch genau rekonstruieren. Brandes gehörte übrigens auch zu den Gewerkschaftern, die früh auf existenzielle Gefahren für die Gewerkschaften durch die NS-Bewegung aufmerksam machte und sich deshalb Angriffen ausgesetzt sah.

Ein besonders wichtiger Aspekt der Aktivitäten von Brandes ist sein Beitrag zum gewerkschaftlichen Widerstand gegen das NS-Regime. Brandes hatte im Frühjahr 1933 – trotz starker Bedenken – wie die meisten führenden Funktionäre der freigewerkschaftlichen Bewegung die »Anpassungspolitik« gegenüber der NS-Regierung mitgestaltet. Als Brandes und seine DMV-Kollegen nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 feststellen mussten, dass selbst eine entpolitisierte und auf die »Schutzfunktion« reduzierte Gewerkschaftsorganisation von den Nationalsozialisten nicht geduldet wurde, beteiligte er sich in führender Position an der Bildung eines Widerstandsnetzwerkes von ehemaligen Funktionären und einfachen Mitgliedern des DMV. Brandes leitete mehrere Jahre dieses reichsweite illegale Netzwerk, das mit mehreren hundert Gewerkschaftern in Verbindung stand – ein erstaunlich großes Netzwerk mit zahlreichen Querverbindungen zu anderen Widerstandsgruppen. Nicht zuletzt stand Brandes mit dem engeren Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 in Kontakt. Zur Koordination des Widerstandes in der Illegalität, unter anderem über Tarnunternehmen, konnten wir viele neue Forschungsergebnisse gewinnen.

Es gibt noch eine Reihe weiterer interessanter Besonderheiten des Lebensweges von Brandes, besonders sein spezieller Blick auf die Geschlechterverhältnisse in Betrieb und Gewerkschaft im Kontext von Veränderungen der Produktion und des Arbeitsmarktes. Auch dazu sei an dieser Stelle auf das entsprechende Kapitel im Buch verwiesen.

Welche biografische Bedeutung hat Ihren Ergebnissen zufolge die Erfahrung von Alwin Brandes, als Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Magdeburg auf Veranlassung des Reichswehrministers Gustav Noske wegen angeblicher Vorbereitung eines Militärputsches verhaftet worden zu sein? Wie verarbeitete ein Sozialdemokrat wie Brandes die erfahrene Repression durch eine sozialdemokratische Regierung beziehungsweise das erfahrene Leid, ein »Gefangener von Gustav Noske« zu sein?

Stefan Heinz: Diese Erfahrung der persönlich erlittenen Repression hatte sicher eine große Bedeutung für ihn. Die Verhaftung verursachte eine bittere Enttäuschung. Doch einen Schritt zurück: Alwin Brandes, schon 1866 geboren, war bereits im Kaiserreich, Ende des 19. Jahrhunderts, in die SPD eingetreten. Im Zuge seiner Kritik an der kriegsunterstützenden »Burgfriedenspolitik« seiner Partei trat er Ende 1917 zur USPD über. Obwohl die Vertreter der USPD zu Beginn der Novemberrevolution in Magdeburg im Vergleich zur SPD eine unbedeutende Minderheit bildeten, wurde Brandes aufgrund seiner führenden Stellung im Magdeburger DMV zu einem der Vorsitzenden des lokalen Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. In dieser Funktion gelang es ihm hier, mit seiner am Kompromiss mit allen gesellschaftlichen Gruppen orientierten Vorgehensweise schwere gewalttätige Auseinandersetzungen wie in anderen Regionen zu vermeiden. Dies änderte sich mit seiner Verhaftung, die im Auftrag des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) im April 1919 erfolgte. Wir haben dazu interessante Akten in den Archiven gefunden, die nicht bekannt waren. Der Verhaftung lag schlicht eine Intrige zugrunde. Brandes sollte gerade wegen des Erfolges seiner integrativen und zugleich prinzipientreuen Politik »ausgeschaltet« werden. Denn er hatte die Zurückdrängung der Rätebewegung scharf kritisiert. Stattdessen forderte er von der SPD die »Sicherung« der revolutionären »Errungenschaften«. Darüber hinaus war ihm nach wie vor die Umgestaltung der Wirtschaft und die konsequente Demokratisierung der staatlichen Institutionen wichtig. In Magdeburg wirkte er genau in diesem Sinne. Damit machte er sich aufseiten der SPD einige Feinde, die um seine Popularität wussten und in ihm eine Person sahen, die angeblich die Radikalisierung erheblich vorantrieb. Aufgrund des öffentlichen Drucks, einer klugen Verteidigungsstrategie und weil ihm die zur Last gelegten Straftaten – unter anderem »Bildung einer bewaffneten Gruppe«, »Bildung einer kriminellen Vereinigung«, »Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz« sowie »Hochverrat« – nicht nachgewiesen werden konnten, wurde er aus der Haft entlassen.

Obwohl Alwin Brandes nach seiner Freilassung aus der Haft desillusioniert schien, trugen die Auseinandersetzungen um die Inhaftierung wesentlich dazu bei, seine Popularität erheblich zu steigern. Kurioserweise begünstigten die von Vertretern der SPD lancierten Konflikte somit seinen Aufstieg im DMV erheblich. Zugleich musste sich auch Brandes eingestehen, wie im Laufe der Zeit die ursprüngliche »Rätefrage« in den Hintergrund trat, weil der Mehrheit diese Ideen zu weit gingen. Die Kommunisten orientierten sich bald an einem Rätemodell nach sowjetischem Muster, gegen das sich Brandes strikt positionierte. Da die KPD aus Sicht von Brandes nie eine Alternative darstellte und die USPD an Bedeutung verlor, sprach er sich interessanterweise bald wieder dafür aus, die Streitigkeiten zwischen USPD und SPD zu überbrücken. Er wollte somit die Handlungsfähigkeit der Mehrheitsströmung in der Arbeiterbewegung erhalten. Brandes kehrte im Jahr 1922 trotz aller Ärgernisse zurück in die Partei, aus der er mal gekommen war: die SPD. Als Parlamentarier setzte er sich für den Ausbau der demokratischen Beteiligung in Verbundenheit mit den Gewerkschaften ein. Neben der Forderung nach Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum unterstützte er wirtschaftsdemokratische Überlegungen, vor allem Maßnahmen einer »praktischen Sozialisierung«. Gemeint war die Gründung eines breiten Spektrums gewerkschaftlicher Unternehmen, an deren Gründung er erheblichen Anteil hatte.

Welches sind die zentralen und nachhaltigen sozial- bzw. arbeitspolitischen Errungenschaften von Alwin Brandes als Gewerkschaftsfunktionär?

Stefan Heinz: Im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen und parlamentarischen Tagespolitik stand sowohl im Kaiserreich als auch während der Weimarer Republik Brandes’ Einsatz für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, insbesondere für die weiblichen Beschäftigten. Auch für die Erkämpfung bzw. später für den Erhalt des Achtstundentages setzte er sich ein. Denn dieser war wichtiges Ergebnis gewerkschaftlicher Politik, das bereits Anfang der 1920er-Jahre von Unternehmerseite infrage gestellt wurde. Brandes’ Ziel, die Situation der Lohnabhängigen nach und nach zu verbessern und zugleich den Rahmen des wirtschaftlichen und politischen Systems mithilfe des demokratischen Staates zu verändern, schien jedoch gerade Mitte der 1920er-Jahre aufzugehen. Zu seinen Erfolgen konnte er auch die Einführung der staatlichen Arbeitslosenversicherung (1927) zählen, für die er sich bereits im Kaiserreich starkgemacht hatte. Wie sehr ihm dieses sozialpolitische Instrument am Herzen lag, zeigt sein Verhalten beim Scheitern des Regierungskabinetts von Hermann Müller (1930). Brandes gehörte zu den Abgeordneten, die nicht bereit waren, einer Verschlechterung der Leistungen zuzustimmen.

Auch in den Debatten um das auszubauende Schlichtungswesen, das er als »Schutzfunktion« für die Arbeitnehmer verstand und das vonseiten der Arbeitgeber zunächst infrage gestellt wurde, zeigte sich der DMV-Vorsitzende Brandes als Verfechter gewerkschaftlicher Interessen. Diese Interessen wollte er immer in einer staatlichen Sozialordnung verankert wissen. Erst 1930, als in der Weltwirtschaftskrise mithilfe der Notverordnungspolitik der Präsidialkabinette die Schlichtungsordnung zugunsten der Interessen der Unternehmer angewandt wurde, relativierte er seine ursprüngliche Befürwortung des Schlichtungswesens.

Ein wichtiger Aspekt von Brandes’ Bestrebungen, die Interessen der Metallgewerkschafter zu schützen, galt auch dem Ausbau des DMV zu einer umfassenden Industriegewerkschaft. In der Zeit seines DMV-Vorsitzes schlossen sich zahlreiche kleinere Verbände an. Brandes hatte auch erheblichen Anteil am Ausbau des Tarifvertragswesens. In der Zeit seines Vorsitzes führte der Verband ebenfalls eine Reihe erfolgreicher Lohnkämpfe. Im Buch wird jedoch auch deutlich, wie die Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation (1930/31) die Erwerbslosigkeit erhöhte und die Finanzkraft des DMV erschütterte. Selbst vergleichsweise erfahrene Funktionäre wie Brandes sahen sich in dieser Situation immer weniger in der Lage, Arbeitskämpfe erfolgreich zu führen. Freigewerkschafter wie er hofften nun, durch eine eher defensive Vorgehensweise gegenüber den Unternehmern und der Reichsregierung die Grundlagen einer reformorientierten Praxis wie Tarifrecht und Parlamentarismus über die Krise zu erhalten und als Ausgangspunkt für sozialpolitische Erfolge in Zeiten besserer Konjunktur nutzen zu können. Mit diesen Hoffnungen scheiterte Brandes. In dem entsprechenden Kapitel der Publikation wollen wir objektive und subjektive Hindernisse zeigen, mit denen sich die Gewerkschaftsbewegung unter den Bedingungen der katastrophalen Weltwirtschaftskrise auseinanderzusetzen hatte.

Welche Bedingungen sind dafür ausschlaggebend, dass heutzutage einige Gewerkschaftsführer bekannt sind, wie beispielsweise Hans Böckler, andere aber eher der Vergessenheit anheimgefallen sind? Anders gefragt: Welchen Stellenwert hat in der kollektiven Erinnerung Leben und Wirken von Gewerkschaftern sowie Gewerkschaftsarbeit?

Stefan Heinz: Um es konkret zu machen: Vergleicht man – ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten und andere prominente Gewerkschafter einzugehen – die Aktivitäten und die Bedeutung von Alwin Brandes mit Hans Böckler, so lässt sich feststellen, dass Brandes im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus als Gewerkschafter und Politiker die weitaus größere Bedeutung in der Gewerkschaftsbewegung zukommt. Eine so unangefochtene Stellung, wie sie Böckler in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland besaß, konnte Brandes allerdings nie erlangen. Der Hauptgrund dafür, dass Brandes in Vergessenheit geriet, liegt aus unserer Sicht darin, dass er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den wichtigen Jahren des gewerkschaftlichen Neuaufbaus für die Übernahme von besonderen Funktionen aufgrund seines hohen Alters nicht mehr zur Verfügung stand. Hans Böckler ist also noch ein bisschen näher dran an der Gegenwart, um es vereinfacht auszudrücken.

Inzwischen wächst erfreulicherweise wieder das Interesse, sich mit Gewerkschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert auseinanderzusetzen. Ich habe bereits vor ein paar Jahren in einem Interview mit Ihnen dazu viele Dinge gesagt und auf die positive Entwicklung hingewiesen. Und dieser Prozess geht weiter. Dennoch sind zahlreiche Gewerkschafter, die in der Weimarer Republik an der Etablierung der bis heute prägenden Sozialordnung beteiligt waren oder während der NS-Herrschaft Widerstand leisteten, in der kollektiven Erinnerung in Vergessenheit geraten. Das ist schade, da uns ihre Lebenswege auch heute durchaus etwas zu sagen haben und manche historische Ereignisse mittels biografischer Zugänge leichter zu erklären sind.

Aus unserer Sicht haben insbesondere die Mitglieder der heutigen DGB-Gewerkschaften allen Grund, die Erinnerung an einen der bedeutendsten Streiter für den Aufbau demokratischer Industriegewerkschaften und einen sehr aktiven Widerständler gegen das NS-Regime wachzuhalten. Gerade Gewerkschafter wie Alwin Brandes, aber auch andere wichtige Akteure des gewerkschaftlichen Widerstandes gegen das NS-Regime verdienen es auf jeden Fall, stärker als bisher in der bundesdeutschen Erinnerungskultur gewürdigt zu werden. Wir haben dazu in den letzten Jahren eine Reihe Veröffentlichungen vorgelegt.

Doch noch ein wichtiger Punkt: In Zukunft werden Forschungen zur Gewerkschaftsgeschichte lediglich dann Wirkungen in der Öffentlichkeit entfalten, wenn es ein Interesse gibt, das gefördert wird. Im Hinblick auf Gewerkschaftsgeschichte kann von einem wechselseitigen Verhältnis zwischen der Relevanz der Forschung, die Fakten rekonstruiert, und öffentlichem Interesse ausgegangen werden. Daraus leitet sich die Frage ab, ob und in welcher Form eine Art »Erinnerungsauftrag« in öffentlichen Debatten überhaupt wahrgenommen werden kann. Anders gesagt: Man kann viel erforschen, wenn es dafür finanzielle Förderer gibt. Doch ob die Ergebnisse eine öffentliche Relevanz haben, ist eine andere Frage. Ob also über die Geschichte der Gewerkschaften – Stärken und Schwächen historischer sozialer Bewegungen – in öffentlichen Debatten »gesprochen« wird, hängt auch vom innergewerkschaftlichen Interesse ab, das sich vor allem aus einer »Organisations-Erinnerung« speist. Diese muss sich auf historische Analysen stützen, die in der Wissenschaft erarbeitet werden. Das Anliegen, in Zusammenarbeit mit Akteuren der DGB-Gewerkschaften eine explizit gewerkschaftliche Erinnerungskultur weiterzuentwickeln, ist aber nach wie vor in zu geringem Maße entwickelt.

Im konkreten Falle geht es also nicht nur darum, den gewerkschaftspolitischen Lebensweg von Alwin Brandes zu analysieren. Sondern es geht auch darum, einen Beitrag zu leisten, das Gedenken an die vielen »vergessenen« Gewerkschaftsfunktionäre, für die Alwin Brandes exemplarisch steht, schrittweise zum Bestandteil einer kollektiven Erinnerungskultur zu machen. Dieses vielschichtige »Erinnern«, das auf die Betonung der Bedeutung von Arbeiter- und Gewerkschaftsgeschichte in Geschichtsdebatten abzielt, sollte sich durch die Förderung des Nachdenkens über die Komplexität historischer Entscheidungsabläufe entwickeln und zu aktuellen Reflexionen einladen. Eine Biografie über einen Gewerkschafter muss ein bisschen mehr »können«, als nur einen Lebenslauf nachzuerzählen. Wir hoffen, das ist uns gelungen.

Das Interview erschien zuerst auf L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.

Georgios Chatzoudis ist Journalist und Redaktionsleiter Online bei der Gerda-Henkel-Stiftung.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/stefan-heinz-vergessene-gewerkschaftsfunktionaere-zum-bestandteil-einer-kollektiven-erinnerungskultur-machen--2343.html   |   Gedruckt am: 26.04.2024