Die Arbeitsmarkt-Fehlprognosen der Mindestlohn-Gegner hatten (auch) ideologische Gründe

11. Juli 2019 | Patrick Schreiner

Eine Studie zu den prognostizierten und den tatsächlichen Arbeitsmarkt-Effekten des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland zeigt: Beim Erstellen pessimistischer Arbeitsmarkt-Prognosen wurden keineswegs nur wissenschaftliche Kriterien angewandt.

Deutschland hat seit dem 1. Januar 2015 einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Im Vorfeld seiner Einführung wurden wiederholt wissenschaftliche Prognosen zur Entwicklung des Arbeitsmarktes veröffentlicht, die teils medial breit aufgegriffen wurden. Gemeinsames Merkmal vieler dieser Arbeiten war, dass sie den Mindestlohn strikt ablehnten – und dies mit horrenden Arbeitsplatzverlusten begründeten. In einer aktuellen Studie untersuchten nun drei Mitarbeiter der Geschäfts- und Informationsstelle für den Mindestlohn bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), wie sehr und weshalb diese Prognosen danebenlagen. Sie schreiben:

Unmittelbar vor Einführung des Mindestlohns gab es drei besonders beachtete wissenschaftliche Studien zur Abschätzung der Beschäftigungseffekte nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns (Arni et al. 2014a,b, Knabe et al. 2014a,b, Henzel und Engelhardt 2014). Sie kamen zu geschätzten Beschäftigungsverlusten von mindestens 426 Tsd. Arbeitsstellen. Knabe et al. (2014a,b) prognostizierten in der auch von den Medien am stärksten aufgegriffenen Modellvariante einen Verlust von rund 900 Tsd. Arbeitsplätzen (ifo Institut 2014). Auf frühere Studien, die insbesondere aus den Jahren 2007 bis 2009 stammen und sich damals noch auf eine mögliche Anfangshöhe eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro pro Stunde bezogen, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Allerdings lagen auch hier die Beschäftigungseffekte in einer ähnlichen Größenordnung von bis zu 1,2 Mio. Arbeitsplätzen.

Diese Prognosen waren schlicht falsch:

Weder deskriptive Zeitreihenanalysen noch die inzwischen vorliegenden Ex-Post-Evaluationen deuten darauf hin, dass die vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns getroffenen Vorhersagen von substanziellen negativen Beschäftigungseffekten durch den Mindestlohn eingetroffen sind.

Das alleine ist nun weder überraschend noch neu. Interessant ist aber, was die Autoren als Grund für das Scheitern der Mindestlohn-Arbeitsmarkt-Prognosen nennen: unter anderem eine übertriebene normative Prägung (oder besser: ideologische Voreingenommenheit?) der Mindestlohn-Gegner.

Für die Frage, warum hingegen die zuerst genannten Modelle derart deutlich von den bislang beobachteten Wirkungen abweichen, gibt es eine Reihe von Erklärungen, die sich grob in zwei Bereiche einteilen lassen. Zum einen spricht einiges dafür, dass die Einordnung der vorhandenen nationalen wie internationalen Evidenz ebenso wie die Art und Weise der Modellierung von Beschäftigungsreaktionen stärker als wünschenswert normativ geprägt waren. Zum anderen, und zum Teil damit auch verbunden, gibt es mehrere inhaltliche Gründe, weshalb die Beschäftigungseffekte weniger stark sind als erwartet. Hierzu zählen beispielsweise im Vorfeld nicht ausreichend gewürdigte andere Anpassungskanäle der Unternehmen.

Kritiker des Mindestlohns führen zur Rechtfertigung der eigenen Fehlprognosen gerne an, dass die gute Konjunkturlage für die günstigere Arbeitsmarktentwicklung verantwortlich sei. Dieses Argument lassen die BAuA-Autoren zu Recht nicht gelten: Zwar dürfte die gute wirtschaftliche Lage Preiserhöhungen durch Unternehmen – und damit die Finanzierung der möglicherweise gestiegenen Arbeitskosten – erleichtert haben. Allerdings sei Konjunktur als relevanter Faktor in den für die Prognosen genutzten Arbeitsmarkt-Modellen gar nicht berücksichtigt worden – weshalb man sie nun auch nicht nachträglich als Rechtfertigung für das eigene Scheitern heranziehen dürfe.

Es bleibt zu hoffen, dass diese gescheiterten »wissenschaftlichen« Ansätze in zukünftigen politischen und medialen Debatten um den Arbeitsmarkt an Einfluss verlieren.

Die Studie von Oliver Bruttel, Arne Baumann und Matthias Dütsch »Beschäftigungseffekte des gesetzlichen Mindestlohns: Prognosen und empirische Befunde« erscheint demnächst in Perspektiven der Wirtschaftspolitik. Die im Text genannten Quellenangaben beziehen sich auf: Arni, P., W. Eichhorst, N. Pestel, A. Spermann und K. F. Zimmermann (2014a), Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland: Einsichten und Handlungsempfehlungen aus der Evaluationsforschung, Schmollers Jahrbuch 134(2), S. 149–82; Knabe, A., R. Schöb und M. Thum (2014a), Der flächendeckende Mindestlohn, Diskussionsbeiträge Economics 2014/4; Knabe, A., R. Schöb und M. Thum (2014b), Der flächendeckende Mindestlohn, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15(2), S. 133–57; Henzel, S. R. und K. Engelhardt (2014), Arbeitsmarkteffekte des flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland, ifo Schnelldienst 67(10), S. 23–29; ifo Institut (2014), Der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro gefährdet bis zu 900.000 Arbeitsplätze, Pressemitteilung vom 19. März 2014.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/die-arbeitsmarkt-fehlprognosen-der-mindestlohn-gegner-hatten-auch-ideologische-gruende--2316.html   |   Gedruckt am: 29.03.2024