19. Juni 2019 | Enrico Sergio Levrero, Matteo Deleidi, Giovanna Ciaffi
In den letzten 20 Jahren hat man auf europäischer Ebene die Schärfe der finanzpolitischen Vorgaben noch über das Ausmaß hinaus erhöht, das der 1992er Vertrag von Maastricht vorsieht. 2012 gipfelte dies im Europäischen Fiskalpakt.
Der »Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion«, der so genannte Fiskalpakt, wurde von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens unterzeichnet. Er sieht die Einhaltung zweier Regeln für die öffentlichen Finanzen vor: (i) einen substanziell ausgeglichenen Haushalt, genauer gesagt, das Verbot, dass das strukturelle Defizit des öffentlichen Sektors über den Konjunkturzyklus hinweg 0,5 Prozent des BIP übersteigt, und (ii) dass die öffentliche Schuldenquote jedes Jahr um ein Zwanzigstel der Differenz zwischen ihrem tatsächlichen Niveau und dem Maastricht-Zielwert von 60 Prozent sinkt.
So sehr die Europäische Kommission seit 2012 verschiedenen Ländern auch Ausnahmen von den Regeln des Fiskalpakts gewährt hat, kann man sich – auch im Hinblick auf einige Reformvorschläge, die sogar noch zusätzliche fiskalpolitische Verschärfungen vorsehen [1] – doch fragen, was passieren würde, wenn einzelne Länder verpflichtet wären, die bisher vorgesehenen Fiskalregeln einzuhalten. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die fiskalpolitischen Regeln auf die Entwicklung der Staatsschuldenquote (das Verhältnis zwischen Staatsverschuldung und Bruttoinlandsprodukt) hätten.
Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzustellen, dass hinter dem Fiskalpakt und den Positionen der Europäischen Kommission die Vorstellung steht, dass Haushaltsdefizite zu einer Verringerung der privaten Investitionen führen und sich negativ auf das Wachstumspotenzial der Wirtschaft auswirken. Der keynesianische Standpunkt ist ein anderer: In Volkswirtschaften ohne Vollbeschäftigung werden höhere öffentliche Ausgaben zu höheren Einkommen führen – sowohl direkt als auch infolge des Anstiegs der privaten Investitionen, die der Anstieg der öffentlichen Ausgaben und damit der Einkommen bewirkt.
Nach den Vorstellungen, die den Vorgaben der Europäischen Kommission zugrunde liegen, resultieren die vermeintlichen negativen Auswirkungen einer expansiven Finanzpolitik in erster Linie aus dem erwarteten Anstieg der Kosten für die Bedienung der öffentlichen Schulden. Wenn solche Politiken nicht durch die Ausgabe von neuem Geld finanziert werden, was in den Verträgen der Europäischen Zentralbank ja ausdrücklich verboten ist, würden sie schließlich zu einem Anstieg der Zinssätze führen und damit an die Stelle der privaten Ausgaben treten. Die Werte der Fiskalmultiplikatoren seien dann niedrig oder sogar negativ, was zu einem Anstieg der Staatsschuldenquote und damit – aufgrund des höheren Risikos bei den Staatsschulden – zu einem weiteren Aufwärtsdruck auf die Zinsen führen würde. Selbst eine Stabilisierung dieses Verhältnisses könne dann nur mit Primärüberschüssen erreicht werden, um den steigenden Zinsaufwand auszugleichen. Darüber hinaus könne nur eine restriktive Finanzpolitik, die die Staatsschuldenquote und damit die Zinsen senkt, effektiv Ressourcen für Wachstum und Beschäftigung freisetzen – und damit zumindest mittelfristig einen expansiven Charakter haben [2].
Soweit das wirtschafts- und finanzpolitische Denken hinter den europäischen Verträgen. Wie von keynesianischen Autoren vorhergesagt, hat die Anwendung dieser Idee einer »expansiven Austerität« allerdings zu einem Anstieg (und nicht zu einem Rückgang) der Staatsschuldenquote in jenen Ländern geführt, die gezwungen waren, eine entsprechende Politik der Haushaltskonsolidierung zu betreiben, insbesondere im Zuge der Staatsschuldenkrise 2009-2010. Wie selbst der Internationale Währungsfonds mittlerweile zugab [3], waren die Fiskalmultiplikatoren tatsächlich höher als zuvor geschätzt. Daher waren die negativen Auswirkungen von Ausgabenkürzungen auf Einkommen und Steuereinnahmen größer als ursprünglich prognostiziert. Born, Müller und Pfeiffer (2015) haben gezeigt, dass in Zeiten von »fiskalischem Stress« Ausgabenkürzungen die Produktion über einen längeren Zeitraum um etwa einen Prozentpunkt reduzieren, während sie gleichzeitig (zumindest für einen bestimmten Zeitraum) zu einem Anstieg der Staatsschuldenquote und der Zinsen langfristiger Staatsanleihen führen [4]. Hall (2012) wies ebenfalls darauf hin, dass seit der Finanzkrise 2008 die Verringerung der öffentlichen Defizite mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zusammenhängt – ganz im Gegensatz zu dem, was von den Anhängern vermeintlich expansiver Sparmaßnahmen behauptet wurde. Die Folge war, dass Sparmaßnahmen nicht die erwarteten Ersparnisse gebracht haben (siehe auch Batini, Callegari und Melina, 2012). Die Schäden durch die Haushaltskonsolidierung und die Ineffektivität von Sparmaßnahmen waren in Volkswirtschaften mit im Vergleich höheren Fiskalmultiplikatoren – wie den südeuropäischen Ländern (siehe Sanchez und Sebastian 2013) – höher, was zu einem starken Rückgang der Beschäftigung in diesen Ländern führte. Wie Truger (2013) betonte, führte die Haushaltskonsolidierung unter der Annahme eines Multiplikatorwertes von 1 von 2009 bis 2012 zu einem BIP-Rückgang von 3,5 Prozent für den Durchschnitt des Eurogebiets im Vergleich zu einem Basisszenario ohne Konsolidierungsmaßnahmen, mit gleichwohl erheblichen Unterschieden zwischen den Ländern: Die Verluste betragen 4,3 Prozent in Italien, 5,7 Prozent in Spanien, 10,3 Prozent in Portugal, 13,7 Prozent in Griechenland und 14,8 Prozent in Irland.
Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit denen von Das und El Husseuiny (2018), die – auf der Grundlage von Daten für 175 Länder von 2000 bis 2014 – gezeigt haben, wie Kürzungen der öffentlichen Ausgaben zu einer höheren öffentlichen Schuldenstandsquote bei etwa der Hälfte der Länder weltweit führen können. Zugleich gibt es inzwischen zahlreiche Studien, die hohe Fiskalmultiplikatoren sowohl bei den gesamten öffentlichen Ausgaben als auch bei den öffentlichen Investitionen nachweisen [5]. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die Einhaltung des Fiskalpakts (im Gegensatz zu dem, was expansive Austeritätspolitik propagiert) nur schwerwiegende negative Folgen für das Wohlergehen der Bevölkerung haben kann. Dies wäre auch dann der Fall, wenn man davon ausginge, dass die Wachstumsrate des realen BIP trotz fiskalischer Konsolidierungsmaßnahmen konstant bliebe. Wie Gattei und Iero (2014) gezeigt haben, wäre es auch unter dieser Hypothese im Falle Italiens tatsächlich notwendig, einen durchschnittlichen Primärüberschuss von 4,4 Prozent für zwanzig Jahre zu erreichen und aufrechtzuerhalten – was natürlich, wie die Autoren betonen, negative Auswirkungen auf die Dynamik des BIP haben müsste und eine deutliche Reduzierung der Sozialausgaben und der öffentlichen Investitionen mit sich brächte.
Die Berechnungen von Gattei und Iero können fortgeführt werden, indem man zeigt, dass, wenn man die möglichen negativen Auswirkungen der Haushaltskonsolidierung auf die Einkommensentwicklung berücksichtigt, die öffentliche Schuldenstandsquote sogar steigen (statt sinken) kann, was die Einhaltung der im Fiskalpakt vorgesehenen Werte innerhalb eines bestimmten Zeithorizonts praktisch unmöglich macht. Der Artikel ▸»Una stima degli effetti macroeconomici del Fiscal Compact« zeigt (unter der Annahme, dass die Einkommensentwicklung von Veränderungen der Gesamtnachfrage abhängt), dass eine restriktive Fiskalpolitik, die den Regeln des Fiskalpakts folgt, nicht unbedingt zu einer Verringerung der öffentlichen Schuldenstandsquote führt. Selbst wenn diese Verringerung schließlich erreicht würde, würde sie auf Kosten erheblicher Nettovermögensverluste des Privatsektors und einer erheblichen Verarmung der Bevölkerung erfolgen.
Wenn die Europäische Kommission daher in den kommenden Jahren die strikte Einhaltung der im Fiskalpakt festgelegten Regeln durchsetzen würde, könnten die sozialen Kosten und die Schäden für das Wachstumspotenzial des Wirtschaftssystems sehr hoch sein. Insbesondere würden sie keineswegs zwingend eine Verbesserung der öffentlichen Schuldenstandsquote bedeuten. Eine Reform der europäischen institutionellen Architektur, die darauf abzielt, einen größeren Spielraum für öffentliche Ausgaben einzuräumen [6] oder alternativ Einkommenstransfers in Länder einzurichten, die einen starken fiskalischen Konsolidierungsbedarf haben, und/oder eine zwischen den Ländern des Währungssystems vereinbarte Reform im Geld- und Währungsregime [7] zu durchzuführen, scheinen daher die einzigen gangbaren Wege zu sein, um einen wirtschaftlichen Rückfall in den betroffenen Ländern und eine zunehmende Verarmung ihrer Bevölkerungen zu vermeiden.
Batini, N., Callegari, G. und Melina, G. (2012). Successful austerity in the United States, Europe and Japan, IMF Working Paper No. 12/190.
Blanchard O.J. und Leigh D. (2013), Growth forecast errors and fiscal multipliers, American Economic Review, 103(3), S. 117-120.
Born, B., Müller G., und Pfeiffer J. (2015). Do financial markets reward austerity? in A. Weichenrieder (Hg.), Austerity and economic growth—Concepts for Europe, S. 19–24. Frankfurt, Germany: Sustainable Architecture for Finance in Europe (SAFE), Policy Letter Collection No.1.
Ciccone, R. (2013), Public debt and aggregate demand: some unconventional analytics, in Levrero E.S., Palumbo A., Stirati A., Sraffa and the Reconstruction of Economic Theory, Vol. 2: Aggregate demand, Policy Analysis and Growth, Palgrave Macmillan.
Das, S. e El Husseiny, I.A. (2018), Paradox of Austerity: Multi-Country Evidence, Emerging Markets Finance and Trade.
Deleidi M., Iafrate F. und Levrero E.S. (2019), Public investment fiscal multipliers: an empirical assessment for European countries, forthcoming.
Gattei, G. e Iero A. (2014), Fiscal Compact: quanto ci costi?, Economia e Politica.
Gechert, S. (2015), What fiscal policy is most effective? A meta-regression analysis, Oxford Economic Papers, 67(3).
Guglielmi A., Minenna M., Signani C. und Suarez J. (2017), Re-denomination risk down as time goes by, Rapporto Mediobanca, Gennaio.
Hall, D. (2012), Austerity, economic growth, and multipliers, Working Paper, Public Services International Research Unit (PSIRU), London, UK.
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Levrero E.S. (2012), L’Euro e la crisi del debito, in Cesaratto S. e Pivetti M. (Hg.), Oltre l’austerità, 2012, www.micromega.net, S. 192-207.
Pisani-Ferry, J. (2018), Euro area reform: an anatomy of the debate, CEPR, Policy Insight no. 95, Oktober.
Realfonzo, R. (2019), L’Europa malata e le riforme necessarie, Economia e Politica.
Sanchez, P.G. und Sebastian M. (2013), May austerity be counterproductive? Working Papers on International Economics and Finance (DEFI) [13-07], Asociación Española de Economía y Finanzas Internacionales.
Schaltegger, C. A. und Weder M. (2012), Are fiscal adjustments contractionary? Public Finance Analysis 68 (4):335–64. DOI:10.1628/001522112X659529.
Schaltegger, C. A. und Weder, M. (2014), Fiscal adjustment and the costs of public debt service: evidence from OECD countries, Applied Economics. DOI: 10.1080/00036846.2014.907479.
[1] Für eine Übersicht über die verschiedenen Vorschläge zur Reform der institutionellen Architektur Europas siehe Pisani-Ferry, J. (2018).
[2] Schaltegger und Weder (2012; 2014) argumentieren unter Verwendung von Paneldaten für 21 OECD-Länder von 1970 bis 2009, dass große fiskalische Anpassungen durch Ausgabenkürzungen vorgenommen werden sollten, um deutlich niedrigere langfristige Zinssätze und einen deutlichen Anstieg der privaten Investitionen zu erreichen.
[3] Siehe IMF (2012) und Blanchard O.J. und Leigh D. (2013), die Multiplikatorwerte zwischen 0,7 und 1,5 aus der Krise 2007/08 nennen, während sie vom Internationalen Währungsfonds zuvor auf etwa 0,5 geschätzt wurden.
[4] Eine Senkung der öffentlichen Konsumausgaben um 1 Prozent des BIP würde die Zins-Spreads für mindestens ein Jahr um etwa 80 Basispunkte erhöhen und erst nach etwa 6 Quartalen zu einem deutlichen Rückgang der Renditen von Staatsanleihen führen. Die Ergebnisse sind auch für bestimmte Teilproben robust. Wird dagegen der öffentliche Konsum in expansiven Zeiten reduziert, sinken die Spreads um etwa 20 Basispunkte. Auch in diesem Fall ist die Wirkung dauerhaft.
[5] Siehe neben den bereits zitierten Texten auch Gechert, S. (2015). Zu öffentlichen Investitionen siehe auch Deleidi M., Iafrate F. und Levrero E.S. (2019).
[6] Wie Realfonzo (2019) zeigt, wäre es in diesem Fall notwendig, einen größeren Haushalt der Europäischen Union zu haben, der für Umverteilungspolitik verwendet wird – zur Erhöhung der Einnahmen und zur Senkung der Ausgaben in Ländern, die positive Schocks erleben, und gleichzeitig zur Senkung der Steuerlast und Erhöhung der öffentlichen Ausgaben in Ländern, die negative Schocks erleben. Auch sollte eine europäische Staatsverschuldung aufgenommen werden, um Ausgaben für Investitionen in materielle und immaterielle Infrastrukturen zu finanzieren, die in ökonomisch schwächeren Regionen getätigt werden.
[7] Gemeint ist eine gemeinsam getragene Reform, um die Probleme anzugehen, mit denen ein Land bei einer einseitigen Entscheidung über den Austritt aus dem Euro konfrontiert wäre. Dies betrifft auch die Belastung durch jenen Anteil der öffentlichen Schulden, der nicht in Landeswährung überführt werden kann. Siehe Levrero (2012) und Guglielmi, Minenna, Signani und Suarez (2017).
Dieser Artikel erschien zuerst in italienischer Sprache auf ▸economiaepolitica.it. Übersetzung: Patrick Schreiner.
Enrico Sergio Levrero ist Associate Professor in Politischer Ökonomie an der Universität Roma Tre.
Matteo Deleidi ist Research Associate an der Universität Roma Tre und am University College London.
Giovanna Ciaffi ist Post-Graduate-Studentin an der Universität Roma Tre.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/die-oekonomischen-und-sozialen-kosten-des-europaeischen-fiskalpakts--2314.html | Gedruckt am: 05.12.2024