Die Verteilung vor Steuern ist das Problem

21. Februar 2019 | Dean Baker

In den letzten Wochen wurden in den USA mehrfach mutige Forderungen nach einer starken Erhöhung progressiver Steuern erhoben. Das ist vernünftig, geht aber nicht weit genug.

Zunächst schlug die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (Demokratin aus New York) einen höheren Spitzengrenzsteuersatz für Einkommen über 10 Millionen Dollar vor. Dies ließ einige rechte TV-Kommentatoren geradezu in Rage geraten, wobei viele von ihnen zugleich offenbarten, dass sie den Unterschied zwischen einem Grenzsteuersatz und einem Durchschnitts-Steuersatz nicht kennen. (Der von Ocasio-Cortez vorgeschlagene 70-prozentige Satz würde nur für Einkommens-Bestandteile über 10 Millionen Dollar gelten.)

Vor kurzem schlug dann die demokratische Senatorin Elizabeth Warren eine Vermögenssteuer vor, die für Menschen mit einem Vermögen von mehr als 50 Millionen Dollar gelten würde. Diese Steuer könnte Amazon-Chef Jeff Bezos zwingen, mehr als 3 Milliarden Dollar pro Jahr an das Finanzministerium zu überweisen.

Angesichts der enormen Zunahme der sozialen Ungleichheit in den letzten vier Jahrzehnten und angesichts der Verringerung der Progressivität des Steuersystems ist es in der Tat vernünftig, Pläne zur Verbesserung des Systems zu entwickeln. Aber die wichtigere Ursache für den Anstieg der Ungleichheit war ein Anstieg der Ungleichheit der Vor-Steuer-Einkommen - und nicht die Senkung der hohen Steuersätze. Es empfiehlt sich, sich die Faktoren anzusehen, die zu einer Zunahme der Ungleichheit bei den Markteinkommen geführt haben, anstatt nur einfach progressive Steuern zu nutzen, um einige der Gewinne der sehr Reichen zurückzuholen.

Zahlreiche gesetzliche und institutionelle Veränderungen haben es den Reichen ermöglicht, so viel reicher zu werden. (Das ist das Thema meines kostenlosen Buches »Rigged«.) Um nur das Offensichtlichste zu nehmen: Staatlich erteilte Patent- und Urheberrechtsmonopole wurden in den letzten vier Jahrzehnten ausgeweitet. Vieles, was vor 40 Jahren noch nicht einmal patentierbar war, wie etwa Zellen, Lebewesen und Geschäftsmethoden, bringen ihren Besitzern heute Dutzende oder Hunderte von Milliarden Dollar ein.

Wenn Ihnen die Bedeutung dieser Monopole für die Ungleichheit nicht klar ist, dann stellen Sie sich mal die Frage, wie reich Bill Gates wäre, wenn es keine Patente oder Urheberrechte auf die Microsoft-Software gäbe. (Dann könnte jeder Windows auf seinen Computer kopieren, ohne Gates auch nur einen Cent zu zahlen.) Auch viele andere Milliardäre erwirtschafteten ihr Vermögen aus Urheberrechten an Software und Unterhaltungelektronik oder aus Patenten auf Pharmazeutika, medizinische Geräte und andere Bereiche.

Zudem hat die Regierung Regeln geschaffen, die es Vorständen ermöglichen, die Unternehmen auszunehmen, für die sie arbeiten. Die Vergütung eines Vorstandsvorsitzenden beläuft sich heute in der Regel auf fast 20 Millionen US-Dollar pro Jahr, da bleiben selbst die Renditen für die Aktionäre dahinterher zurück. Man wird kaum argumentieren können, dass die heutigen Vorstandsvorsitzenden, die das 200- bis 300-fache des Gehalts der normalen Arbeiter erhalten, eine bessere Arbeit für ihre Unternehmen leisten als jene in den 1960er und 1970er Jahren, die nur das 20- bis 30-fache erhielten.

Eine weitere Quelle der sozialen Ungleichheit ist der Finanzsektor. Die Regierung hat Vermögen in vielerlei Hinsicht geschützt, am offensichtlichsten mit der Rettungsaktion für Großbanken vor einem Jahrzehnt. Sie hat die Branche auch bewusst so strukturiert, dass massive Vermögen durch das Schaffen fragwürdiger, kreativer Finanzinstrumente entstehen konnten.

Gleichwohl: Es gibt keinen Grund, eine Volkswirtschaft so auszurichten, dass die meisten Gewinne aus dem volkswirtschaftlichen Wachstum denen oben zufließen. Leider war genau dies in den letzten vier Jahrzehnten aber weitgehend die Politik, die wir gesehen haben. Nun können wir die Ungerechtigkeiten einfach ignorieren, die in der heutigen Wirtschaft eingebaut sind, und schlicht versuchen, die großen Gewinner zu besteuern. Genau dies wird ja vorgeschlagen. Es gibt jedoch zwei grundlegende Probleme mit diesem Vorgehen, ein praktisches und ein politisches.

Das praktische Problem ist, dass die Reichen nicht dumm sind. Sie werden nach Wegen suchen, um die verschiedenen, jetzt vorgeschlagenen progressiven Steuern zu vermeiden oder zu umgehen. Sowohl Ocasio-Cortez als auch Warren haben sich bei ihren Steuervorschlägen auf den Rat einiger Top-Ökonomen bezogen, aber selbst die beste Steuer kann umgangen werden. (Ist es Jeff Bezos 3 Milliarden Dollar pro Jahr wert, US-Bürger zu bleiben? Als Nicht-Staatsbürger würde er die Vermögenssteuer nicht zahlen.)

Das bedeutet, dass wir deutlich weniger Einnahmen erzielen würden, als eine statische Schätzung heute vermuten lässt. Auch würde die Steuergestaltungs-Branche wachsen. Das ist aus wirtschaftlicher Sicht eine komplette Verschwendung: Wir würden Leute haben, die clevere Methoden entwickeln, um zu versuchen, Einkommen und Vermögen zu verstecken, und die in einigen Fällen dabei selbst sehr reich werden.

Das politische Problem besteht darin, dass die Menschen der Idee, dass das am Markt erzielte Einkommen irgendwie rechtmäßig sei, eine gewisse Legitimität beimessen - im Gegensatz übrigens zu Einkommen aus einem staatlichen Transferprogramm, wie beispielsweise Lebensmittelmarken. Die Reichen werden in der Lage sein, Unterstützung von vielen Nicht-Reichen zu gewinnen, indem sie behaupten, dass die Regierung ihnen das, was sie sich redlich verdient haben, weggenommen hat.

Im Gegensatz dazu ist es für den Milliardär eines Pharmaunternehmens sehr viel schwieriger, sich moralisierend zu beschweren, wenn ein mit öffentlichen Mitteln entwickeltes und zu Generikapreisen verkauftes Medikament ihm den Markt für sein 100.000 Dollar pro Jahr teures Krebsmedikament zerstört hat. In gleicher Weise könnten Konzernvorstände es schwer haben, auf Verständnis zu stoßen, wenn neue Regeln es den Aktionären leichter machen, die Vorstandsvergütung wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen.

Es ist gut, dass der Anstieg der Ungleichheit in der Präsidentschaftskampagne 2020 wahrscheinlich ein großes Thema sein wird. Es ist wichtig, sorgfältig darüber nachzudenken, wie wir sie am besten umkehren können.

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf truthout.org. Wir danken für die Genehmigung zur Übersetzung und Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Patrick Schreiner.

Dean Baker ist ein US-amerikanischer Volkswirt und Publizist. Mit Mark Weisbrot betreibt er das Center for Economic and Policy Research (CEPR).

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/die-verteilung-vor-steuern-ist-das-problem--2288.html   |   Gedruckt am: 25.04.2024