15. November 2018 | Klaus Dörre
Lange schien es, als gehöre das Wort »Klasse« in die Asservatenkammer verstaubter Ideen und gescheiterter Konzepte. In individualisierten Gesellschaften mit ihren pluralen Lebensstilen war es für viele analytisch ohne Wert, und politisch galt es als verzichtbar. Das beginnt sich angesichts der rechten Wahlerfolge zu ändern.
Auslöser der neuen Klassendiskussion sind vor allem die hohen Arbeiteranteile in der stets klassenübergreifend zusammengesetzten Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen. Dass Teile der Lohnabhängigen die populistische Rechte als legitimen Anwalt ihrer Interessen begreifen, ist zumindest teilweise ein hausgemachtes Problem der politischen Linken. So spielte die Klassenfrage bei der Wahl Donald Trumps eine entscheidende Rolle: »Klasse ist in diesem Kontext sehr bedeutsam. Ich denke, dass – obwohl Trump mit seinen Attacken auf moralische Grundsätze jedes Maß gesprengt hat – die Arbeiter_innen eher im Hinblick auf Klasse denn auf Gender abgestimmt haben. Diese Kategorie scheint mir die Hauptmotivation bei den Wahlen gewesen zu sein. Während Gender und ›race‹ lange Zeit sehr bedeutsam waren, steht mittlerweile die Klassenfrage wieder auf der Tagesordnung. Damit einher geht, dass identitätspolitische Strategien zunehmend infrage gestellt werden.«(1)
Ausschlaggebend für den Wahlerfolg Trumps ist laut Hochschild eine rechte deep story. Danach reihen sich Arbeiter in einer Warteschlange ein, die vor einem Berg wartet, der für sie den amerikanischen Traum vom kleinen Aufstieg verkörpert. Doch in der Schlange geht es nicht vorwärts. Während man selbst vergeblich wartet, werden andere bevorzugt, die in der Wahrnehmung der Wartenden deutlich weniger geleistet haben, um sich den Traum vom besseren Leben zu erfüllen.
Ungeachtet aller Unterschiede zur US-amerikanischen Situation fällt es nicht schwer, eine solche deep story auch bei Arbeiter_innen in der Bundesrepublik aufzuspüren. Diese Geschichte handelt ebenfalls von Warteschlangen am Berg der Gerechtigkeit.(2) Schon die rechtsaffinen jungen westdeutschen Arbeiter_innen, die ich von Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre befragen konnte, verorteten sich in einer Schlange, die auf bessere Zeiten wartete. Ihr Gesellschaftsbild unterschied sich kaum von dem sozialdemokratisch orientierter Altersgenoss_innen. Gerechtigkeitsvorstellungen adressierten sie an einen nationalen Wohlfahrtsstaat, der diese Ansprüche jedoch immer weniger gewährleisten konnte. Hauptgrund war, so jedenfalls die Wahrnehmung, ein Internationalismus, der die Seiten gewechselt hatte. Unternehmen agierten zunehmend inter- und transnational, die sozialen Folgen der globalen Landnahme mussten jedoch weiterhin in der nationalen Arena bewältigt werden. Lohnabhängige hatten, das jedenfalls behauptete der dominante Globalisierungsdiskurs, Opfer zu bringen, um die nationale Wirtschaft wettbewerbsfähig zu halten. Abstriche bei Beschäftigungssicherheit, Löhnen, Renten und Gesundheit galten als zwingend nötig, um den (west-)deutschen »Sozialkapitalismus« an die Globalisierung anzupassen und die Vereinigung mit der ehemaligen DDR zu bewältigen.
Was in den Unternehmen begann, wurde mit der Agenda-Politik der Regierung Schröder zu Beginn der 2000er Jahre offizielle Leitlinie staatlicher Politik. Das Versprechen einer Wiedergeburt des »Sozialkapitalismus« mittels marktzentrierter Strukturreformen beantwortete ein Teil derer, die in der Schlange darauf warteten, dass sich ihre Opferbereitschaft auszahlte, mit reaktivem Nationalismus. Wohl reflektierten diese Lohnabhängigen wachsende soziale Unsicherheit und Ungleichheit, doch im internationalen Vergleich galt ihnen die Bundesrepublik noch immer als Wohlstandsinsel. Die Inselbewohner glaubten, das eigene Stück vom Kuchen nur bewahren zu können, sofern die Schleusen zu dieser Insel möglichst eng gehalten würden. In ein bipolares Innen-Außen-Schema eingepasst, verwandelte sich alltägliche Sozialkritik in eine Legitimation für die Ausgrenzung fremder, angeblich leistungsunwilliger, kulturell nicht integrierbarer Gruppen. Niemand hatte etwas gegen die Ausländer. Wer sich anpasste, hart arbeitete und Leistung brachte, war willkommen. All jene, die »wir nicht gerufen« hatten, die nur kamen, weil bei ihnen »zufällig Hunger oder Krieg herrschten«, sollten der Wohlstandsinsel fernbleiben oder sich zumindest am hinteren Ende der Warteschlange anstellen.
Zwei Ereignisse haben der rechtspopulistischen deep story eine neue Wendung verliehen: die europäische Finanz- und die sogenannte Flüchtlingskrise. Über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass es nicht mehr für alles reicht, scheint im Zuge des Krisenmanagements plötzlich Geld im Überfluss vorhanden zu sein – zunächst zur Rettung maroder Banken und kriselnder Staatsfinanzen an der südeuropäischen Peripherie, dann für mehr als eine Million Geflüchteter, die 2015 deutsches Staatsgebiet erreichten. Seither ist das Schlangestehen aus der Sicht (nicht nur) rechtsaffiner Arbeiter_innen sinnlos geworden. Das auch, weil sich die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik im öffentlichen Diskurs dramatisch verbessert hat. Die Unternehmen haben in der Dekade nach der globalen Finanzkrise gut verdient, und die Erwerbstätigkeit ist auf ein Rekordniveau gestiegen. Das hat vor allem bei den jüngeren Lohnabhängigen gerade auch im Osten der Republik ein Ende der Bescheidenheit ausgelöst. Vom Boom kommt bei denen, die so lange gewartet haben, jedoch wenig an. Nach eigenem Empfinden weder arm noch prekär lebend, möchten rechtspopulistisch orientierte Arbeiter_innen und Angestellte als »ganz normal« gelten. Trotz aller Anstrengungen gelingt ihnen das aber nur teilweise. Als Chiffre für ein gutes, weil normales Leben klagen sie das Deutschsein dafür umso heftiger ein.
Die Radikalisierung der darin angelegten Innen-Außen-Abgrenzung bezeichnet in der rechtspopulistischen deep story einen Umschlagspunkt. Im binären Deutungsmuster wird Solidarität zu einer exklusiven Ressource. Solidarisch verhält man sich bevorzugt unter seinesgleichen, seien es nun die Stammbeschäftigten im Betrieb, zu denen man selbst gehört, oder die Angehörigen der eigenen Nation. Je geringer ihre Hoffnung ist, trotz individueller Anstrengungen Anschluss an die prosperierende Gesellschaft zu finden, desto stärker tendieren Teile der Lohnabhängigen dazu, die wahrgenommene Verteilungsungerechtigkeit als Konflikt zwischen produktiven Inländern und leistungsunwilligen, kulturell nicht integrierbaren Ausländern zu interpretieren. Während man sich selbst vergeblich hinten angestellt hat, wird »den Flüchtlingen« plötzlich »alles« gegeben. Nun dürften sich, so die Wahrnehmung, Menschen in der Reihe der Anspruchsberechtigten vordrängeln, die selbst keinen Beitrag geleistet haben. Nicht nur im Osten, auch in Niederbayern und dem Ruhrgebiet empfinden Lohnabhängige das als zusätzliche Abwertung. Selbst in wohlhabenden Regionen wie dem Ingolstädter Speckgürtel, wo es als besonderer Makel gilt, im Prosperitätszug nicht mitfahren zu können, stößt man auf ein ähnliches Lebensgefühl. Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer ist eine mögliche, für rechtsaffine Arbeiter_innen eine subjektiv naheliegende Reaktion.
Das lässt sich ändern – mit inklusiver, demokratischer Klassenpolitik, lautet eine Antwort, die ich teile. Doch was genau ist mit Neuer Klassenpolitik gemeint? Nötig sei die Rückkehr zu einer nationalstaatlich abgesicherten, wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungspolitik, lautet eine der gegenwärtig diskutierten Antworten. Bei der Sammlungsbewegung »Aufstehen« klingt vieles wie eine Rückkehr zur – idealisierten – Sozialdemokratie Willy Brandts.(3) Zweifellos: Ein starker Sozialstaat, höhere Löhne und gerechte Steuern, Entspannungspolitik und Verteidigung der Demokratie wären allemal besser als der Status quo ante. Doch genügt das, um der rechten deep story eine progressive Wendung zu verleihen? Ich bezweifele das.
Auch rechtsaffine Lohnabhängige ahnen, dass die wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismen eine dramatische Transformation durchlaufen werden: »Weil die Sache ist ja die bei PEGIDA: Ist ja nicht so, dass die auf die Straße gehen und hier sonst welche Parolen brüllen und alle die Ausländer irgendwo verbrennen wollen. Die gehen halt auf die Straße, weil irgendwas mit dem System nicht stimmt«, erklärt uns ein aktiver Gewerkschafter, der mit der äußersten Rechten sympathisiert, im Interview.(4) Wie bei anderen rechtsaffinen Arbeiter_innen, die sich ähnlich äußern, ist der alltagsweltliche Systembegriff des Befragten verschwörungstheoretisch aufgeladen. Dennoch offenbart sich eine Weltsicht, die, wie diffus auch immer, grundlegende Veränderungen einklagt. Ein bisschen mehr Sozialpolitik und ein wenig Gerechtigkeit werden rechtspopulistische Welterklärungen, die sich allmählich verfestigen, kaum grundlegend korrigieren. Im günstigsten Fall handelte es sich um eine konservierende Klassenpolitik, die zu retten sucht, was vom sozialdemokratischen Sozialstaatsprojekt des 20. Jahrhunderts noch zu retten ist.
Wenn sie mehr will, muss die Linke mutiger werden. Sie benötigt eine transformative Klassenpolitik, die die Systemfrage nicht der völkischen Rechten überlässt. Eine politische und gewerkschaftliche Linke, die eine inklusive demokratische Klassenpolitik entwickelt, diese mit einem pragmatischen Humanismus in der Migrationspolitik verbindet und mit einer neo- bzw. öko-sozialistischen Zielsetzung versieht, würde die Neue Rechte in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Um glaubwürdig zu sein, muss eine solche Politik bei den Schwächsten der Gesellschaft ansetzen. Eine Dehumanisierung von globalen Migrationsbewegungen, die voraussichtlich viele Jahrzehnte anhalten werden, darf sie deshalb unter keinen Umständen hinnehmen. Migration ist Zuwanderung, und Zuwanderung bedeutet Einmündung in die Klassenstruktur der aufnehmenden Gesellschaft. Die Schaffung neuer und eine Verteidigung alter wohlfahrtsstaatlicher Standards, die Migrant_innen eine positive Einmündung erleichtern, gehört selbstverständlich zum Kernbestand inklusiver Klassenpolitik. Gleiches gilt für das Recht auf Asyl und das Bleiberecht nach der Genfer Flüchtlingskonvention, das nicht durch eine ständige Ausweitung angeblich sicherer Herkunftsstaaten ausgehöhlt werden darf. Ein Nansenpass, der die Hauptverantwortung von Industrieländern für den Klimawandel anerkennt, wäre ein wichtiger Schritt, um legale Einwanderungsmöglichkeiten zu schaffen und Schritt für Schritt zu erweitern. Die Aufstockung von Entwicklungshilfe auf jene 0,7 Prozent des BIP (und deren tatsächlicher Verwendung im Interesse der Empfängerländer), die für Industriestaaten seit Langem vereinbart ist, aber nur selten erreicht wird, sowie die Bereitstellung jener Gelder, die weltweit nötig wären, um den globalen Hunger zu beseitigen, gehören ebenfalls zu den Maßnahmen, die sofort umzusetzen wären. Finanzieren ließe sich all das mittels demokratischen Rückverteilens gesellschaftlichen Reichtums – von oben nach unten und von den Stärksten zu den Schwächsten. Die steuerpolitische Abschöpfung von Digitalisierungsrenditen wäre hier ein erster wichtiger Schritt. Dabei könnte ein europäischer und später internationaler Streikfonds helfen, der Arbeitskämpfe in transnationalen Wertschöpfungsketten möglich macht. Living wages, also Löhne zum Leben, die deutlich über den gesetzlichen Mindestlöhnen liegen und an den jeweiligen nationalen bzw. regionalen Niveaus ausgerichtet sind, gehören ebenso zum klassenpolitischen Repertoire wie eine intelligente, ökologisch ausgerichtete Industrie- und Dienstleistungspolitik. Entsprechende Ansätze könnten mit einer Arbeitszeitpolitik verbunden werden, die eine kurze Vollzeit für alle zu einem branchenübergreifenden europäischen Thema macht. Mittelfristig hätten eine europäische Arbeitsversicherung und eine europäische Doppelstaatsbürgerschaft (alle sind europäische Bürger und zugleich Staatsbürger in dem Land, in welchem sie leben) klassenpolitische Ansätze zu flankieren.
Eine solch inklusiv-demokratische Klassenpolitik, die Europa neu zu begründen hätte, fände – dies signalisiert die stabile Solidarität mit Geflüchteten – auch in den akademisch gebildeten Mittelklassen und im humanistisch orientierten Bürgertum Rückhalt. Umso wichtiger ist, dass sie die Zielsetzungen für die von ihr anvisierte gesellschaftliche Transformation offenlegt. Gegen die rechtspopulistische Revolte lässt sich die Demokratie nur verteidigen, wenn Entscheidungsbefugnisse auf die Wirtschaft und die großen transnationalen Konzerne ausgeweitet werden. Entscheidungen über das Wie, Was und Wozu von Produktion und Investition berühren kollektive Überlebensinteressen. Deshalb dürfen sie nicht länger kleinen Minderheiten mit faktisch uneingeschränkter Verfügungsmacht überlassen bleiben. Eine bloße Rückkehr zu klassischer sozialdemokratischer Verteilungspolitik bliebe hinter dieser Anforderung zurück.
»Unsere Vision ist und bleibt diejenige einer sozialen und ökologischen Wirtschaftsdemokratie […]. Mehr Demokratie ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Digitalisierung zu einer wirklichen Chance für die Menschen wird […]. Im Kern geht es darum, die Verteilungsfrage auszuweiten. Neben der steuerlichen Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im Nachhinein braucht es eine gerechte Verteilung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht. Indem Betroffene zu Mitbestimmenden gemacht werden, wirkt man der Entstehung ungerechtfertigter und schädlicher Ungleichheiten entgegen«, heißt es in einem programmatischen Papier zur Wirtschaftsdemokratie, das die Schweizer Sozialdemokraten beschlossen haben. Dahinter sollte nicht zurückfallen, wer gegen harte Widerstände aufstehen will. Die Schweizer Sozialdemokraten sprechen aus, was auch in Deutschland zu einer Prämisse transformativer Klassenpolitik werden muss. Wir befinden uns inmitten einer großen gesellschaftlichen Transformation, in der »Pflästerlipolitik« nicht mehr ausreicht. Gefragt sind glaubwürdige, ausstrahlungsfähige Alternativen zum Kapitalismus, ohne die Klassenpolitik zahn- und wirkungslos bleiben wird.
(1) Arlie Hochschild: Warum Trump? Fremd in ihrem Land: Interview mit Arlie Russell Hochschild. In: Karina Becker / Klaus Dörre / Peter Reif-Spirek: Arbeiterbewegung von rechts? Frankfurt/M. 2018.
(2) Mit verschiedenen Forschungsgruppen gehe ich diesen Geschichten seit mehr als 30 Jahre nach. Vgl. dazu: Klaus Dörre: In der Warteschlange. Rassismus, völkischer Populismus und die Arbeiterfrage. In: Ebd.
(3) Gemeinsam für ein gerechtes und friedliches Land (2. Entwurf).
(4) Klaus Dörre / Sophie Bose / John Lütten / Jakob Köster: Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte. In: Berliner Journal für Soziologie 2/2017, https://link.springer.com/article/10.1007/s11609-018-0352-z.
Dieser Artikel erschien zuerst in: Sebastian Friedrich / Redaktion analyse & kritik: ▸Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Bertz + Fischer Verlag.
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/aufstehen-fuer-einen-neuen-sozialismus-transformative-nicht-konservierende-klassenpolitik-ist-das-gebot-der-stunde--2271.html | Gedruckt am: 03.12.2024