»Jobwunder«? Nein, die Agenda 2010 hat keine Arbeit geschaffen...

8. November 2018 | Patrick Schreiner

In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) seine »Agenda 2010« mit den Worten angekündigt:

»Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.«

Angebotsorientierte, arbeitgeberfreundliche Maßnahmen bestimmten daraufhin die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung: Einführung von Hartz IV (einschließlich einer Ausweitung von Sanktionen und Arbeitszwang auch zu schlechten Bedingungen), Ausweitung der Leiharbeit, Ausweitung des Niedriglohnsektors, Liberalisierung des Handwerks, Einschränkung des Kündigungsschutzes, Leistungsabbau bei der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Rentenversicherung. Die so genannten Lohnnebenkosten für Arbeitgeber wurden gesenkt. Die Überlegung hinter dieser Politik: Wenn Arbeit billiger werde und Arbeitslose in (fast) jedes Beschäftigungsverhältnis gezwungen würden, dann entstünden neue Arbeitsplätze. Selbst Schröders Konkurrentin und Nachfolgerin Angela Merkel zeigte sich angetan:

»Ich möchte Bundeskanzler Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat.«

Die Agenda 2010 hat eines ihrer Ziele, nämlich einen großen Niedriglohnsektor zu schaffen, durchaus erreicht. Weit über 20 Prozent der abhängig Beschäftigten hierzulande arbeiten mittlerweile für Niedriglöhne – auch im internationalen Vergleich ist dies ein hoher Wert. Schröder selbst lobte sich schon 2005 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos, er habe »einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.« Aber hat Schröder auch das eigentliche Ziel seines Maßnahmenpakets erreicht, nämlich Arbeit zu schaffen?

Gerne wird, um angeblich positive Auswirkungen der »Agenda 2010« zu belegen, auf die vergleichsweise positive Entwicklung des Arbeitsmarktes seit Mitte der 2000er Jahre verwiesen. So etwa vor Kurzem Alexander Hagelüken in der Süddeutschen Zeitung:

»Wer dem Jobrekord 2018 eine Kerze anzündet, darf den Namen der Partei eingravieren, die heute mit Schröder hadert und vielleicht auch deshalb orientierungslos abwärts taumelt: SPD.«

Und die neoliberale, arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) verkündete in einer Werbekampagne, die 2017 während des Bundestags-Wahlkampfes Druck gegen einen vermeintlich sozialeren Kurs des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz machen sollte:

»5,3 Millionen Arbeitslose – 12,5 Prozent Jugendarbeitslosigkeit – 1,8 Millionen Langzeitarbeitslose. Deutschland war der kranke Mann Europas. Jetzt stehen wir dank der Agenda 2010 wieder gut da.«

Dass die Zahl der Arbeitslosen gesunken ist, lässt sich in der Tat nicht leugnen – genauso wenig wie der Umstand, dass die Zahl der Erwerbstätigen und der abhängig Beschäftigten seit Mitte der 2000er angestiegen ist. Nun mag man argumentieren, dass die Realität aber ganz anders aussehe, weil diese günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt durch Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung »erkauft« worden und daher ganz und gar nicht positiv zu beurteilen sei. Gänzlich falsch wäre eine solche Kritik nicht. Wie das nachfolgende Schaubild zeigt, hat atypische Beschäftigung in der Tat massiv zugenommen:

Und doch ist eine solche Kritik an den unsozialen Folgen der Agenda 2010 aus mindestens drei Gründen unvollständig, wenn nicht fragwürdig. Erstens, weil der Trend zur prekären und atypischen Beschäftigung schon vor der Agenda 2010 einsetzte, sie diesen also »nur« fortsetzte oder verstärkte. Zweitens, weil man mit einer solchen Kritik Gefahr läuft, die zentrale Grundannahme von Schröder & Co. zu übernehmen und zu akzeptieren – dass nämlich Arbeit prekärer werden müsse, damit überhaupt neue Arbeit entstehen könne. Heiner Flassbeck hat zur Genüge und schon sehr früh begründet, warum diese Argumentation Humbug ist, vor einiger Zeit auch Michael Wendl hier auf Blickpunkt WiSo. Drittens ist eine solche Kritik an den unsozialen Folgen der Agenda 2010 schlicht deshalb unvollständig bzw. fragwürdig, weil sie unterstellt, die Agenda 2010 habe tatsächlich Arbeit geschaffen. Genau das hat sie aber eben nicht.

Um das zu beurteilen, kann man nämlich nicht wie Hagelüken und die INSM schlicht auf die Entwicklung der Arbeitsplätze oder der Arbeitslosigkeit schauen. Entscheidend ist vielmehr die Entwicklung der Zahl der gearbeiteten Stunden. Betrachtet man diese, so stellt man leicht fest: Ein nennenswerter Teil der »guten« Entwicklung bei den Arbeitsplätzen ist darauf zurückzuführen, dass Arbeit schlicht auf mehr Köpfe verteilt wurde. Das nachfolgende Schaubild zeigt sehr anschaulich, dass die Zahl der abhängig Beschäftigten deutlich schneller gewachsen ist als die Zahl der von diesen Menschen gearbeiteten Stunden:

Will man beurteilen, ob Arbeit neu entstanden ist, muss man daher alleine und ausschließlich die Entwicklung der Zahl der gearbeiteten Stunden betrachten. Nur wenn mehr Arbeitsstunden anfallen, und zwar unabhängig von der Zahl derer, die sie leisten, kann man davon sprechen, dass Arbeit geschaffen wird.

Der Arbeitsmarktforscher Joachim Möller vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kam 2013 in einem Beitrag für Spiegel Online zum Ergebnis, dass die Zahl der Arbeitsstunden 2012 höher gewesen sei als 2003 (dem Jahr der Schröder‘schen Regierungserklärung). Dass dem tatsächlich so war, lässt sich unschwer der blauen Kurve in obigem Schaubild entnehmen. Dort wird auch ersichtlich, dass die Zahl der gearbeiteten Stunden seitdem sogar noch weiter nach oben ging. Dieser Anstieg der Zahl der Arbeitsstunden sei, so Möller, der Beweis für den Erfolg der Agenda 2010. Er schreibt:

»Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Das Arbeitsvolumen lag 2012 mit 58,12 Milliarden Stunden um gut vier Prozent über dem Stand von 2003 mit 55,88 Milliarden Stunden. Man muss fast 20 Jahre, bis ins Jahr 1994, zurückgehen, um einen ähnlich hohen Wert zu finden. Der Arbeitsmarkterfolg der letzten Jahre ist also auch am Arbeitsvolumen ablesbar.«

Und am Ende seines Textes kommt Möller – trotz einiger halbwegs kritischer Nebenbemerkungen etwa zur Zunahme atypischer Beschäftigung – zu diesem überaus positiven Fazit:

»Sieht man sich die Situation am deutschen Arbeitsmarkt unvoreingenommen an, lässt sich nicht wegdiskutieren, dass sich Schröders Arbeitsmarktreformen unterm Strich ausgezahlt haben.«

Hat die Agenda 2010 also dazu geführt, dass die Zahl der Arbeitsstunden in Deutschland angestiegen ist? Die Antwort sei vorweggenommen: Nein. Möllers Behauptung, obwohl zumindest von den klügeren Befürwortern der Agenda 2010 immer wieder in ähnlicher Form wiederholt, kann nicht überzeugen – und zwar aus vier Gründen:

Erstens, weil ein Vergleich der Jahre 2003 und 2012 bzw. 2017 einem Vergleich von Äpfeln und Birnen gleichkommt. 2003 war ein Krisenjahr, 2012 und 2017 waren Aufschwungjahre. Man sollte, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen, nur Aufschwungjahre oder Krisenjahre miteinander vergleichen. Also beispielsweise das Jahr 2000 mit dem Jahr 2012 oder 2017. Dann fällt die Bilanz der Agenda 2010 zwar (scheinbar) immer noch günstig aus, relativiert sich aber um einiges.

Zweitens, weil der aktuelle Aufschwung schon seit mehreren Jahren anhält. Ein Aufschwung führt immer zu zusätzlichen Arbeitsstunden – und ein langer Aufschwung eben zu besonders vielen. Das ist nicht weiter überraschend, denn im Kapitalismus geht es immer auf und ab.

Drittens, weil dieser Aufschwung keineswegs von der Agenda 2010, sondern ganz wesentlich von der Binnennachfrage getrieben wird. Wenngleich noch höhere Löhne wünschenswert gewesen wären, so stiegen die Reallöhne in den letzten Jahren doch immerhin an. Damit ist dieser Aufschwung (und die Zunahme der Arbeitsstunden) ganz wesentlich auf eine Entwicklung bzw. Ursache zurückzuführen, die den Annahmen der Agenda 2010 vollständig widerspricht. Laut Agenda 2010 sollten ja niedrigere Lohn- und Lohnnebenkosten zur Schaffung von Arbeit führen. Tatsächlich aber steigt die Zahl der Arbeitsstunden wieder an, seitdem und weil die Löhne und Lohnnebenkosten wieder stärker steigen.

Viertens, weil Deutschland einen großen und in der Tendenz wachsenden Leistungsbilanzüberschuss verzeichnet. Es werden hierzulande also mehr Waren und Dienstleistungen produziert und ins Ausland exportiert, als anderswo produziert und von dort nach Deutschland importiert werden.

Seit der Agenda 2010 hat sich dieser Überschuss nochmals in etwa verdoppelt. Zugespitzt formuliert bedeutet ein Leistungsbilanzüberschuss einen Nettoexport von Produktion und Arbeit und dementsprechend dann auch einen Export von Arbeitslosigkeit in andere Länder. Schließlich verbucht ein Land nur dann Überschüsse, wenn andere Länder Defizite verbuchen. Bleiben derartige Ungleichgewichte nun aber dauerhaft bestehen, so führt dies zu weltwirtschaftlichen Verwerfungen bis hin zu Krisen. Dennoch setzte die Agenda 2010 als wirtschaftspolitische Strategie gezielt auf solche Überschüsse. Und die wirtschaftspolitische Mehrheit in Deutschland – einschließlich der aktuellen Bundesregierung – tut das nach wie vor. Nun ist aus den eben genannten Gründen eine solche Strategie allerdings alles andere als nachhaltig und vernünftig. Bereinigt man vor diesem Hintergrund – zugegebenermaßen etwas hemdsärmelig* und nur näherungsweise – die Zahl der Arbeitsstunden in Deutschland um den Anteil des Leistungsbilanzüberschusses am Bruttoinlandsprodukt, also um die auf den Leistungsbilanzüberschuss zurückzuführenden Arbeitsstunden, so bleibt vom vermeintlichen »Beschäftigungswunder« Agenda 2010 nicht mehr viel übrig:

Selbst die verbleibenden Arbeitsmarkt-Effekte, die man mit etwas gutem Willen der Agenda 2010 zuschreiben kann, entpuppen sich bei genauerer Betrachtung also als wenig überzeugend. Die auf den ersten Blick positive Entwicklung von Arbeit und Beschäftigung seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts beruht mithin wesentlich auf dem Überschuss in der Leistungsbilanz, also auf einer gesamtwirtschaftlich problematischen Entwicklung.

Dies ist umso bedenklicher, als eine bessere Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik damals möglich war und auch heute möglich ist. Letzteres hat beispielsweise das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) vor einiger Zeit mit einer »Modellsimulation einer erfolgreichen Wachstums- und Beschäftigungspolitik« gezeigt. Deutlich höhere öffentliche Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und andere Bereiche öffentlicher Dienstleistungen sowie hohe Lohnsteigerungen über mehrere Jahre hinweg sind das genaue Gegenteil der Agenda 2010. Und genau diese und ähnliche Maßnahmen würden zu mehr Arbeit und Beschäftigung führen und den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand erhöhen, so das IMK:

»Mit dem hier präsentierten wirtschaftspolitischen Wachstumsszenario kann gezeigt werden, dass es in einem 15-Jahreszeitraum unter realistischen Rahmenbedingungen möglich ist, eine zusätzliche Zunahme der Erwerbstätigen um rund 2 Millionen Personen zu erreichen.«

Es gilt, sich von der Agenda 2010 endlich ebenso zu verabschieden wie von den Mythen, die sich nach wie vor um sie ranken. Der 20. Jahrestag der rot-grünen Regierungsübernahme (die Regierung Schröder trat ihr Amt am 27. Oktober 1998 an) ist ein guter Zeitpunkt dafür. Und der Fall der SPD weit unter 20 Prozent ist ein guter Grund.


* Die Zahl der Arbeitsstunden in den jeweiligen Jahren wurden hier rechnerisch um den Anteil des Leistungsbilanzüberschusses am BIP reduziert (bereinigt) in der Annahme, dass die Höhe dieses Überschusses in etwa dem Ausmaß der exportierten Arbeitslosigkeit entspricht. Etwas hemdsärmelig ist diese Berechnung vor allem, weil der Export wohl nur unterdurchschnittlich arbeitsintensiv ist und weil auch schon 2003 ein Leistungsbilanzüberschuss bestand (was, nebenbei bemerkt, die Absurdität der damaligen Debatten um eine angeblich mangelnde »Wettbewerbsfähigkeit« der deutschen Wirtschaft aufzeigt.) Allerdings lag die auf diese Weise bereinigte Zahl der Arbeitsstunden noch 2017 so deutlich unter der des Jahres 2000, dass die Aussage dieses Artikels trotz der Hemdsärmeligkeit der Berechnung gültig bleiben kann. - Eine alternative Variante der Berechnung, die zu vergleichbaren Ergebnissen kommt, findet sich auf Maskenfall.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/187jobwunder171-nein-die-agenda-2010-hat-keine-arbeit-geschaffen--2267.html   |   Gedruckt am: 26.04.2024