Das Problem der Parallelgesellschaften

2. März 2020 | Jan Peter Althoff

Der Historiker Klaus Bade hat 2006 in einem Interview mit Spiegel Online vier Kriterien genannt, an denen man Parallelgesellschaften erkennen könne:

Bade schlussfolgerte aus dieser – grundsätzlich angemessenen – Definition, dass es in Deutschland keine Parallelgesellschaften gebe. Diese Überlegung aber kann nicht überzeugen – zumal sie über zehn Jahre alt ist. Dass es in Deutschland sehr wohl Parallelgesellschaften gibt, zeigen die nachfolgenden Beispiele sehr eindeutig:

In München muss ein großes städtisches Wohnungsunternehmen regelmäßig die Zahl und/oder den Anteil der bei Bauprojekten vorgesehenen Sozialwohnungen reduzieren. Der Grund: Anwohnerproteste sind enorm und werden immer schärfer. Auf Informationsveranstaltungen herrscht eine aggressive Stimmung voller Ausfälle der Alteingesessenen (oft BesitzerInnen selbstgenutzten Wohnraums, die in einem gewissen Wohlstand leben) gegenüber einkommensschwächeren potentiellen ZuzüglerInnen. Ähnliche Vorgänge gibt es auch in anderen Städten. Ins Bild passt ferner die Weigerung zahlreicher Umlandgemeinden von Großstädten, zu deren Entlastung selbst sozialen Wohnungsbau zu betreiben. Der Tenor all dessen: Man bleibt lieber unter sich und Seinesgleichen.

So genannte »Gated Communities«, lange schon im Ausland verbreitet, gibt es mittlerweile auch hierzulande. So wurde 2005 in Aachen eine geschlossene Wohnanlage aus 29 Luxus-Eigentumswohnungen gebaut, der so genannte »Barbarossapark«. Ein Teil der historischen Stadtmauer Aachens und ein 2,50 m hoher Drahtzaun schirmen die gut situierten BewohnerInnen von den umliegenden Wohngebieten ab. Der Zutritt erfolgt durch ein Gittertor mit Videoüberwachung. Eine echte No-Go-Area also – genau wie andere geschlossene Wohnanlagen, die es inzwischen in vielen deutschen Städten gibt.

In vielen Großstädten sind ganz besondere Kitas für die Kleinsten längst Normalität. Nicht für alle wohlgemerkt, sondern dank hoher Gebühren exklusiv für die Kinder der Reichen und Schönen. Spielen auf Englisch oder gar Chinesisch, Yogakurse und vielfältigstes Öko-Essen, das alles bei bester Personalausstattung. Der größte Vorteil aber aus der Sicht der Eltern: Man bleibt unter sich. Und gewährleistet dies auch für den Nachwuchs.

In Hamburg scheiterte eine Schulreform, die unter anderem vorsah, ab 2010 statt der bisherigen vierjährigen Grundschule eine sechsjährige Primarschule einzuführen und zugleich das Recht der Eltern abzuschaffen, die Schulform ihrer Kinder zu wählen. Das Ziel: Ein längeres gemeinsames Lernen aller Kinder zu ermöglichen und die Konzentration von Jungen und Mädchen aus bildungsnäheren Elternhäusern in bestimmten Schulen zu beenden. Eine Bürgerinitiative verhinderte dieses Vorhaben durch einen Volksentscheid – auch an Schulen bleiben die Bessergestellten also offenbar lieber unter sich. Das Fernsehmagazin »Panorama« zitierte einen Hamburger: »Dass ein Arbeiterkind mit dem Kind eines Vorstandsvorsitzenden nachmittags miteinander spielt und davon profitiert, mag vielleicht manchmal funktionieren, aber in der Regel wird das nicht der Fall sein.« Und ein anderer: »Ich meine, man muss nicht die sozial Bevorteilten benachteiligen, um die sozial Schwächeren zu bevorteilen.«

Überhaupt bleibt man auf Schulen lieber unter sich. Bundesweit nimmt der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die auf Privatschulen gehen, seit Jahren stark zu. Mittlerweile liegt er bei zehn Prozent. Insbesondere akademische sowie einkommensstarke Elternhäuser sondern ihre Kinder gerne auf diese Weise vom Rest der Bevölkerung ab. Ein Sechstel der Schülerinnen und Schüler mit akademischen Eltern aus Westdeutschland geht auf Privatschulen, in Ostdeutschland sogar ein Viertel.

Mit sozial Schlechtergestellten wollen die Angehörigen der hier beschriebenen Bevölkerungsgruppen (nicht selten freiberuflich Tätige, Gutverdienende, Kapitalbesitzende, Manager und Unternehmerinnen) offenbar nichts zu tun haben. Zumindest nicht im unmittelbaren Lebensumfeld. Sie rotten sich in bestimmten Wohngebieten und Schulen, aber auch in bestimmten Sport- und Freizeiteinrichtungen, Krankenhäusern, Restaurants und Hotels zusammen, sind unter sich und bleiben unter sich – Parallelgesellschaften eben.

Dass sich in diesen Parallelgesellschaften bestimmte Formen der Kriminalität weit überdurchschnittlich finden, ist kein Geheimnis. Verwiesen sei etwa auf Steuerhinterziehung, aber auch auf das Vertreiben von MieterInnen durch Luxusmodernisierungen, das Nichtanmelden von Haushaltshilfen und Lohnbetrug im eigenen Unternehmen. Nicht wenige Anwaltskanzleien, Steuerberatungsbüros, Family Offices und Unternehmensberatungen haben sich darauf spezialisiert, beim Steuersparen, Mieter-Schikanieren und Lohndrücken die Grenzen des Legalen genau auszuloten – und bisweilen auch Wege aufzuzeigen, diese Grenzen möglichst risikoarm zu überschreiten. Werden deren Auftraggeber irgendwann dann doch erwischt, zeigen sie erstaunlich wenig Unrechtsbewusstsein: Von Steuerhinterziehern wie Uli Hoeneß oder Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel beispielsweise ist kaum je Bedauern ob ihrer begangenen Straftaten zu vernehmen, stattdessen beklagen sie sich über ihre angeblich ungerechte und überharte Behandlung. Man bejammert das eigene vermeintliche Opfer-Sein.

Gerade in den letzten Jahrzehnten haben sich diese Parallelgesellschaften zu einem echten Problem ausgewachsen. Und zwar nicht nur in Deutschland. Es gilt, rigoros dagegen vorzugehen. Eine Gesellschaft muss auf einem Minimum geteilter Werte und Regeln aufbauen. Sie kann es sich nicht leisten und nicht gefallen lassen, dass bestimmte Minderheiten diese Werte und Regeln mit Füßen treten.

Jan Peter Althoff ist Sozialwissenschaftler und freier Publizist.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/das-problem-der-parallelgesellschaften--2242.html   |   Gedruckt am: 25.04.2024