Sechs Lügen über den internationalen Handel

18. Oktober 2018 | Dean Baker

Nach 500 Tagen der Präsidentschaft von Donald Trump ist klar, dass zwischen seinen Aussagen und der Wahrheit kein systematischer Zusammenhang besteht. Er prahlt sogar mit seinem mangelnden Interesse an der Wahrheit, indem er darauf hinweist, dass er keine Ahnung hatte, was das US-Außenhandelsdefizit mit Kanada war, als er den kanadischen Premierminister Justin Trudeau mit einem angeblichen »100 Milliarden Dollar Handelsdefizit« konfrontierte. (Die tatsächliche Zahl liegt bei etwa 20 Milliarden Dollar.)

Aber Donald Trumps Verachtung für die Wahrheit sollte nicht dazu führen, dass auch der Rest von uns zu Lügnern wird. In der Tat ist es wichtiger denn je, dass die Argumente fortschrittlicher Menschen in der Realität gründen. Dies gilt insbesondere für den internationalen Handel, wo das Lügen schon lange vor dem Eintritt von Donald Trump in die Politik Standard war. Hier sind sechs verbreitete Lügen, die es verdienen, zurückgewiesen zu werden, wann immer sie auftauchen.

1. Jeder profitiert vom internationalen Handel.

Das ist nicht einmal das, was die Lehrbücher erzählen. Die Lehrbücher sagen uns, dass es im internationalen Handel Gewinner und Verlierer gibt. Dabei, so sagen sie, gewinnen die Gewinner mehr, als die Verlierer verlieren. Das bedeutet, dass die Gewinner die Verlierer entschädigen könnten, so dass es allen besser ginge. In der realen Welt findet dieser Ausgleich allerdings nie statt, also verlieren die Verlierer einfach nur.

Wenn das schwer zu verstehen ist, dann nehmen wir einmal an, dass die USA 300.000 hochqualifizierte Ärzte aus anderen Ländern zusätzlich ins Land holen. Dies würde das Gehalt der US-amerikanischen Ärzte wahrscheinlich um jeweils rund 100.000 Dollar pro Jahr auf mehr oder weniger das europäische Niveau senken. Was wiederum jährlich fast 100 Milliarden Dollar (700 Dollar pro Familie) an Gesundheitskosten einsparen würde. Ein großer Gewinn für den Rest der Bevölkerung, aber ein großer Verlust für die amerikanischen Ärzte. Das ist im Kern die Geschichte des internationalen Handels, nur dass dieser nicht die Ärzte, sondern die Produktionsarbeiter der Konkurrenz ausgesetzt hat.

2. Der Verlust von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe ist auf das Produktivitätswachstum zurückzuführen – und nicht auf den internationalen Handel.

Das ist ein ökonomischer Taschenspielertrick. Die Produktivität in der Fertigung steigt in der Regel um 2 bis 3 Prozent pro Jahr. (In den letzten zwölf Jahren allerdings viel weniger.) Dies entspricht auch in etwa der jährlichen Wachstumsrate der Nachfrage. Das bedeutet, dass die erhöhte Nachfrage nach Gütern typischerweise die durch das Produktivitätswachstum verloren gegangenen Arbeitsplätze wieder wettmacht.

Die Daten dazu sind eindeutig. In den drei Jahrzehnten von Dezember 1970 bis Dezember 2000 sank die Beschäftigung in der US-Industrie nur um 100.000 Jobs, weniger als 1 Prozent. Im Gegensatz dazu haben die USA von 2000 bis 2007 (vor dem Crash) mehr als 3,4 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verloren, das waren mehr als 20 Prozent der Gesamtbeschäftigung.

Dies war auf die Explosion des Handelsdefizits in diesen Jahren zurückzuführen, das in den Jahren 2005 und 2006 mit fast 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seinen Höhepunkt erreichte. Das wären heute 1,2 Billionen Dollar pro Jahr. Es gab Vorteile durch billige Importe, aber es ist unglaublich unehrlich, den enormen Arbeitsplatzverlust, der mit der Ausweitung des Handelsdefizits in diesen Jahren verbunden war, nicht anzuerkennen.

Fazit: Zwar gingen in den letzten 50 Jahren rechnerisch viel mehr Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe durch Produktivitätsgewinne verloren als durch den internationalen Handel. Das ist zwar wahr – aus den genannten Gründen aber völlig irrelevant.

3. Es ist unvermeidlich, dass weniger gut ausgebildete Beschäftigte ihre Arbeitsplätze an Entwicklungsländer verlieren.

Dies ist ein großartiges Beispiel dafür, wie das Klassendenken unserer Eliten das klare Denken behindert. Es ist absolut richtig, dass es Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern gibt, die bereit sind, in Fabriken zu einem Bruchteil der Löhne zu arbeiten, die US-Industriearbeiter erhalten. Dies bedeutet, dass die Öffnung für den Handel Druck auf die Löhne der US-Produktionsarbeiter und der weniger gebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Allgemeinen ausübt. Sie müssen entweder große Lohnkürzungen akzeptieren oder verlieren ihre Arbeitsplätze.

Komplizierter wird es nur dadurch, dass es auch Millionen von sehr klugen und fleißigen Menschen in den Entwicklungsländern gibt, die gerne in den Vereinigten Staaten als Ärzte, Zahnärzte, Anwälte oder andere hoch bezahlte Fachleute zu einem Bruchteil des Gehalts der US-Fachleute arbeiten würden. Sie könnten sich nach US-Standards weiterbilden und bei Bedarf Englisch lernen. Das würde das Gehalt in hochbezahlten Berufen senken und damit zu Einsparungen für die Verbraucher führen, aber das wird nicht zugelassen. Bei den Freihandelsabkommen geht es um die Senkung der Löhne von weniger gut ausgebildeten Beschäftigten, während hoch bezahlte Fachkräfte weiterhin Schutz vor dem internationalen Wettbewerb genießen.

4. Außenhandelsdefizite kosten keine Arbeitsplätze.

Es ist unter Experten sehr beliebt zu behaupten, dass Handelsdefizite keine Arbeitsplätze kosten. Das behaupten sie, obwohl das Defizit in diesem Jahr auf über 600 Milliarden Dollar (3 Prozent des BIP) zusteuert. Als Grund verweisen sie auf die aktuelle US-Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent. Es stimmt zwar, dass ein Handelsdefizit nicht unbedingt Arbeitsplätze kosten muss. In einer Volkswirtschaft ohne Vollbeschäftigung aber verringert ein Anstieg des Handelsdefizits um 100 Milliarden Dollar die Nachfrage und die Beschäftigung in der gleichen Weise, wie ein Rückgang der Investitionen um 100 Milliarden Dollar die Nachfrage und die Beschäftigung verringert.

Das hohe US-Handelsdefizit der letzten zehn Jahre war gewiss ein wesentlicher Faktor für die schwache Erholung des US-Arbeitsmarktes nach der Rezession von 2001. Die Nachfragelücke aus dem Handelsdefizit wurde schließlich mit der durch die Immobilienblase erzeugten Nachfrage geschlossen. Das ist kaum ein gutes Modell für die Zukunft.

5. Es ist wichtig, dass andere Länder »unser« geistiges Eigentum respektieren.

Diese Argumentation ist im Handelskrieg zwischen Trump und China immer wieder aufgetaucht. Es wurde gesagt, dass die USA ein Interesse daran hätten, dass China für das geistige Eigentum von US-Unternehmen bezahlt, das es angeblich stiehlt.

Nun ist klar, dass der US-Konzern Pfizer ein Interesse daran hat, dass seine Arzneimittelpatente von China respektiert werden, ebenso wie Microsoft mit seinen Software-Urheberrechten und Patenten. Trifft das aber auch auf die vielen Menschen zu, die nicht in nennenswertem Umfang Aktien dieser oder anderer Unternehmen besitzen?

Die Standardhandelstheorie sagt uns, dass, wenn China und andere Länder aufgrund weicherer Patent- und Urheberrechtsregelungen weniger Geld an Pfizer und Microsoft zahlen müssten, sie mehr Geld für andere Produkte, die die USA produzieren, ausgeben könnten. Mit anderen Worten: Das Geld, das sie an diese Unternehmen bezahlen, erhöht das Handelsdefizit in anderen Bereichen.

Innovationen muss man unterstützen – aber das ist eine andere Frage. Für die Finanzierung von Innovationen im 21. Jahrhundert gibt es weitaus effizientere Mechanismen als Patent- und Urheberrechtsmonopole.

6. Entwicklungsländer mussten Produktions-Arbeitsplätze in den USA vernichten, damit Menschen der Armut entkommen konnten.

Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern haben in den letzten drei Jahrzehnten enorme Verbesserungen ihres Lebensstandards erlebt, insbesondere in China. Sie leben nun nicht mehr in der Nähe oder unterhalb der Armutsgrenze, sondern genießen einen mittleren Lebensstandard.

Das ist in der Tat eine großartige Geschichte, aber es ist nicht wahr, dass dieser Anstieg des Lebensstandards auf Kosten der Industriearbeiter in den Vereinigten Staaten und anderen reichen Ländern gehen musste. In den 1990er Jahren wuchsen die Länder Ostasiens (die großen Erfolgsgeschichten) sogar noch schneller als im letzten Jahrzehnt. Dies war eine Zeit, in der sie große Handelsdefizite aufwiesen, mit Ausnahme von China, das einen nahezu ausgeglichenen Handel hatte.

Grundsätzlich gibt es keinen Grund, warum diese Länder nicht auf einem Weg weitermachen konnten, auf dem die Binnennachfrage das Wachstum ankurbelte und durch ausländische Investitionen finanziert wurde. Allerdings schlug 1997 die ostasiatische Finanzkrise zu. Die Vereinigten Staaten führten die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) organisierte Rettungsaktion an und setzten im Wesentlichen durch, dass diese Länder in Zukunft hohe Handelsüberschüsse als Bedingung für die Gewährung von Hilfe erzielen mussten.

Der Übergang von laufenden Handelsdefiziten zu laufenden Handelsüberschüssen war eine Forderung des IWF und kein wirtschaftliches Entwicklungsgesetz. Wenn diese Länder weiterhin Importeure ausländischer Investitionen sein dürften (das Standard-Lehrbuchmodell) und den Wachstumspfad der 90er Jahre beibehalten würden, wären sie heute viel reicher. Tatsächlich wären Länder wie Südkorea und Malaysia jetzt pro Kopf reicher als die Vereinigten Staaten.

Kurz gesagt, es ist einfach nicht wahr, dass die Verheerungen für die US-Fabrikarbeiter, die ihren Arbeitsplatz in den Vereinigten Staaten verloren haben, irgendwie eine notwendige Voraussetzung dafür war, dass Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern der Armut entkommen konnten. Andere Wege hätten in diesen Ländern ein noch schnelleres Wachstum ermöglicht.

Der Weg zu einer realitätsnäheren Handelspolitik

Es scheint wahrscheinlich, dass Trumps Handelskrieg in Flammen aufgeht, wenn Trump irgendwann das Interesse an ihr verliert und wieder die Jagd nach der kenianischen Geburtsurkunde von Präsident Obama aufnimmt. Trumps rücksichtsloses Handeln verdient all die Lächerlichkeit und Verachtung, die sie erhalten habt.

Wir sollten jedoch nicht zu einer Handelspolitik zurückkehren, die auf Lügen beruht. Wir brauchen eine Handelspolitik, bei der es darum geht, den Lebensstandard der arbeitenden Menschen in den Industriestaaten und in den Entwicklungsländern anzuheben – und nicht nur darum, den Reichen das Geld zuzuschanzen.

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache im Real-World Economics Review Blog. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Patrick Schreiner.

Dean Baker ist ein US-amerikanischer Volkswirt und Publizist. Mit Mark Weisbrot betreibt er das Center for Economic and Policy Research (CEPR).

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/sechs-luegen-ueber-den-internationalen-handel--2241.html   |   Gedruckt am: 19.04.2024