Die Wirtschaft und das Wahlergebnis in Italien

10. September 2018 | Walter Paternesi Meloni, Antonella Stirati

Italiens Wahlergebnisse von 2018 - mit dem Wahlerfolg der Fünf-Sterne-Bewegung, dem relativen Bedeutungsgewinne der Lega und den deutlichen Verlusten sowie dem daraus resultierenden Zerfall der Demokratischen Partei - haben international viel Aufmerksamkeit erregt und vielleicht sogar für einige Überraschungen gesorgt. Der Anti-Euro- und Anti-Austeritäts-Charakter eines Großteils der vor den Wahlen geführten Rhetorik der beiden jetzt an der Macht befindlichen Parteien verursachte fast eine institutionelle Krise im Land und provozierte verschiedene europäische Staatschefs und Kommentatoren zu breiten Reaktionen von verärgert bis arrogant.

In diesem kurzen Beitrag geht es uns nicht um eine soziologische und politische Analyse der Wahl, die wir auch gar nicht vornehmen können. Wir präsentieren vielmehr Daten zu den wirtschaftlichen Trends in Italien, zur Ungleichheit und Einkommensverteilung im letzten Jahrzehnt sowie weitere Informationen zu den Ereignissen vor der Krise 2008. Wir glauben, dass all dies dazu beitragen kann, einige Missverständnisse auszuräumen und besser verstehen zu lassen, warum eine Mehrheit der Italiener klar gegen ein »Mehr von demselben« gestimmt hat - auch wenn es vielleicht weniger klar ist, wofür sie gestimmt haben.

Wir werden auf das sehr umstrittene und komplexe Thema der Einwanderung nicht eingehen, das in der innenpolitischen Debatte in Italien und anderen europäischen Ländern eine zentrale Rolle spielt und das gleichzeitig die europäische Uneinigkeit und die Unfähigkeit offenbart, sich ihr gemeinsam zu stellen. Dennoch glauben wir, dass die folgenden Informationen darauf hindeuten, dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme auch ohne Einwanderung so groß sind, dass sie die italienische Politik in diese Richtung bewegt hätten. Mit anderen Worten, wir glauben nicht, dass die Sorge um die Einwanderung notwendigerweise der Hauptgrund für die politische Wende Italiens ist. Vielmehr legt dieser Artikel nahe, dass in Italien, wie auch in anderen europäischen Ländern, die Spar- und Kürzungspolitik, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die zunehmende Armut nicht mit Integration und zivilisierter sowie geordneter Steuerung der Einwanderung vereinbar sind.

Italiens Doppelrezession und ihre Folgen

Die Krise von 2008 traf Italiens Wirtschaft hart, wie Abbildung 1 zeigt. Der erste Rückgang aber war zunächst nicht größer als der deutsche.

Abbildung 1: Italiens reales Bruttoinlandsprodukt (Mrd. Euro, preisbereinigt). Quelle: OECD Economic Outlook.

Beide Länder verfügen über einen großen Industriesektor, der bekanntlich empfindlicher auf wirtschaftliche Schwankungen reagiert als der Dienstleistungssektor. Nach der Krise setzte eine Erholung ein, die jedoch durch die europäische »Spread-Krise« (das heißt sinkende Preise und steigende Zinsen auf öffentliche Anleihen in Italien und anderen »peripheren« EU-Ländern) und die darauffolgende Spar- und Kürzungspolitik unterbrochen wurde. Letztere führte zu einem Rückgang der laufenden Ausgaben und der öffentlichen Investitionen (wie in den Abbildungen 2 bis 5 dokumentiert) und zu einem Anstieg der gesamten Steuereinnahmen um 18 Milliarden Euro im Zeitraum 2011-2013, was aber hauptsächlich auf eine Zunahme der indirekten Steuern zurückzuführen ist. Als Folge dieser Maßnahmen ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) trotz einer gewissen Erholung der Exporte stark zurück (minus 73 Mrd. Euro real, das bedeutet minus 4,5 Prozentpunkte). Die Industrieproduktion sank deutlich stärker als das BIP: Zwischen 2007 und 2009 ging sie um ein Viertel zurück, erholte sich dann 2010/11 um 7 Prozentpunkte, fiel danach aber wieder und lag 2015 immer noch leicht unter dem Niveau von 2009.

Abbildung 2: Laufende Ausgaben des italienischen Staates, einschließlich Zinszahlungen (Mrd. Euro, preisbereinigt). Quelle: OECD.Stat (COFOG).

Abbildung 3: Italiens öffentliche Investitionen (Mrd. Euro, preisbereinigt). Quelle: OECD.Stat (COFOG).

Abbildungen 4 and 5: Laufende Ausgaben des italienischen Staates nach Aufgabenbereichen (Mrd. Euro, preisbereinigt). Quelle: OECD.Stat (COFOG).

Die allgemeine Arbeitslosigkeit, die 2007 bei 6,2 Prozent lag, stieg von 8,4 Prozent im Jahr 2010 auf 12,4 Prozent im Jahr 2013 und liegt derzeit knapp unter 11 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit (junge Leute zwischen 15 und 29 Jahren) stieg in zwei Jahren - zwischen 2011 und 2013 - um mehr als 10 Prozentpunkte, was auf den Rückgang des BIP und die Rentenreform zurückzuführen ist. Letztere verringerte durch die Anhebung des Renteneintrittsalters die Möglichkeiten jüngerer Beschäftigter, ältere Menschen zu ersetzen, die in den Ruhestand treten. Dieselbe Reform hat auch zu einer steigenden Arbeitslosigkeit bei älteren Beschäftigten geführt, die durch die Krise ihren Arbeitsplatz verloren haben. Es gibt etwa 500.000 Arbeitslose im Alter von 50 oder mehr Jahren, mehr als dreimal so viele wie 2006. Die meisten von ihnen haben große Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden.

Die Spar- und Kürzungspolitik hat nicht nur die Arbeitslosigkeit erhöht und das BIP und das verfügbare Einkommen der Haushalte gesenkt, sondern auch die öffentlichen Dienste und den Sozialstaat getroffen. Und zwar insbesondere das nationale Gesundheitswesen und die öffentliche Bildung, die als zwei Hauptpfeiler des allgemeinen Wohlfahrtssystems Italiens angesehen werden können. Das Gesundheitssystem erfuhr zwischen 2011 und 2013 reale Kürzungen um 7 Prozent, das öffentliche Bildungssystem hat in einem längeren Prozess des Abbaus zwischen 2007 und 2015 etwa 20 Prozent seiner Mittel verloren. Dies führte unter anderem zu massiven Kürzungen der finanziellen Unterstützung für leistungsstarke Studierende aus einkommensschwachen Familien sowie zu großen Schwierigkeiten für hochqualifizierte Jugendliche, einen Arbeitsplatz in den öffentlichen Bildungs- und Forschungssystemen zu finden. Sowohl pro Kopf als auch im Verhältnis zum BIP liegen die öffentlichen Ausgaben Italiens in diesen spezifischen Bereichen und auch insgesamt (einschließlich aller öffentlichen Dienstleistungen und einschließlich sozialstaatlicher Leistungen) derzeit und seit jeher unter denen anderer europäischer Länder vergleichbarer Größe und Entwicklung. Auch die öffentlichen Investitionen gingen stark zurück, was sich auch sichtbar im Zustand der öffentlichen Gebäude und der Infrastruktur widerspiegelte.

Nun könnte man argumentieren, dass diese Maßnahmen notwendig waren, um die hohe Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP einzudämmen, die ja angeblich die Ursache der »Spread-Krise« war, und so wurden sie der Öffentlichkeit auch verkauft. Aber: Wie in der Tat vorhersehbar, führte die Spar- und Kürzungspolitik zu einem Anstieg der Staatsschuldenquote (Abbildung 6), weil sie das Volkseinkommen (der Nenner dieser Quote) und damit die Steuereinnahmen senkte.

Abbildung 6: Staatsverschuldung Italiens (Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Quelle: Ameco.

Mit anderen Worten ist Italien ein anschauliches Beispiel dafür, dass fiskalische Konsolidierungen anhaltend »perverse« Auswirkungen auf die Staatsschuldenquote haben können – insbesondere, wenn sich die Wirtschaft in einer Rezession befindet und die fiskalischen Multiplikatoren besonders hoch sind. Dies geben mittlerweile selbst Mainstream-Ökonomen  i  Siehe DeLong et al. (2012) und Fatàs und Summers (2018); für Nicht-Mainstream-Analysen siehe Ciccone (2012) und Nuti (2013). zu. Laut anderen Interpretationen der Krise rechneten die Finanzmärkte damit, dass die Europäische Zentralbank (EZB) aufgrund ihrer Satzung nicht in den Markt für Staatsanleihen eingreifen konnte. Dies spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Spread-Krise und führte aufgrund der anhaltenden Untätigkeit der EZB fast zum Zusammenbruch des Euro. Jedenfalls war es die Abkehr von dieser EZB-Politik (und nicht Kürzungen und Sparsamkeit), die der Krise ein Ende setzte.

Tatsächlich hat die Spar- und Kürzungspolitik die Anfälligkeit der italienischen Wirtschaft nicht nur durch die Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP, sondern auch durch den Rückgang der Produktionskapazitäten in der Industrie und durch die Schwierigkeiten im Bankensektor erhöht (vgl. Giacchè 2017). Bei letzteren führte die Krise der Realwirtschaft zu einem Anstieg der Belastungen durch notleidende Kredite. Italienische Banken waren im Allgemeinen weniger an riskanten Finanzmarktspekulationen beteiligt als deutsche und französische. Stattdessen orientierten sie mehr auf die Kreditvergabe an Haushalte sowie kleine und mittlere Unternehmen, die einen sehr hohen Anteil der italienischen Industrie ausmachen. Sowohl die Haushalte als auch die Unternehmen haben durch beide Krisen große Verluste erlitten - zunächst aufgrund der internationalen Finanzkrise, dann aufgrund der Spar- und Kürzungspolitik. Zugleich ist die Schwäche des Bankensektors nicht nur ein Problem an sich, sondern führt auch zu anhaltenden Schwierigkeiten beim Zugang der Haushalte und vor allem der Unternehmen zu Krediten.

Trotz einer moderaten Erholung in den letzten drei Jahren liegen das reale BIP, die Beschäftigung und die Industrieproduktion weiterhin deutlich unter ihren Vorkrisenwerten (von 2007 bis 2017: -5,25 Prozent; -4,63 Prozent; -24,39 Prozent).  i  Das reale BIP betrug 2007 etwa 1686 Mrd. Euro und 2017 etwa 1543 Mrd. Euro (OECD), die Zahl der Beschäftigten sank von 25,125 Millionen auf 23,962 Millionen (Vollzeitäquivalente, Istat), und der Index der Industrieproduktion ging von 118,8 auf 95,5 zurück (Ameco).

Betrachtet man den Arbeitsmarkt und die Einkommensverteilung, so hat Italien seit den 1990er Jahren eine Reihe von (De)regulierungen und »Reformen« betreffend Lohn- und Arbeitsverträge durchlaufen. Die letzte, verabschiedet 2015, hat alle verbleibenden rechtlichen Schutzmaßnahmen gegen ungerechtfertigte (das heißt ohne disziplinarische oder wirtschaftliche Gründe vorgenommene) Einzelentlassungen aufgehoben – mit Ausnahme einer relativ geringen finanziellen Entschädigung. Darüber hinaus haben die Reformen eine zunehmende Nutzung von »atypischen« und kurzfristigen Verträgen ermöglicht. Letztere machen derzeit 16 Prozent aller Beschäftigten und 40 Prozent der Beschäftigten zwischen 15 und 29 Jahren aus, während die Zahl der unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigten bei 2,6 Millionen liegt.

Die Reallöhne stagnieren seit langem: Nach Angaben der OECD liegen die durchschnittlichen realen Bruttoverdienste der Arbeitnehmer derzeit fast 1 Prozent unter dem Niveau von 2008 und nur 3 Prozent über dem von 1990. Der durchschnittliche Bruttojahresverdienst der Beschäftigten in Kaufkraftparitäten ist derzeit in Italien (36.700 Dollar) niedriger als in Frankreich (43.800) und Deutschland (47.600). Er ist mit Ausnahme von Portugal und Griechenland der niedrigste in der Eurozone. Die absolute Armut ist im Jahr 2017 auf fünf Millionen Menschen (8,3 Prozent der Einwohner) angestiegen, und die relative Armut, die 15 Prozent der Bevölkerung betrifft, breitet sich nicht nur unter den Arbeitslosen aus, sondern auch unter den abhängig Beschäftigten, insbesondere unter denjenigen, die zwei oder mehr Kinder haben. Die Kombination aus hoher Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen und prekären Arbeitsplätzen hat vor allem, aber nicht nur, bei jüngeren Italienern Unsicherheit, Perspektivlosigkeit und Schwierigkeiten bei der Verwirklichung eines eigenständigen Lebens geschaffen.

Trends vor 2008

Die Analyse der langanhaltenden Stagnation der italienischen Wirtschaft ist komplex. Im Gegensatz zu anderen »peripheren« Ländern in Europa erlebte Italien aufgrund der Währungsunion in den Jahren vor 2008 keinen schuldengetriebenen »Boom«. Während Länder wie Griechenland und Spanien, wenn auch vorübergehend, von einem (destabilisierenden) Wachstum profitierten, das durch hohe Kapitalzuflüsse aus den europäischen Kernländern ausgelöst wurde, die ihrerseits die zunehmende Verschuldung des privaten Sektors und ein lebhaftes Wachstum der Binnennachfrage finanzierten, blieben ähnliche Prozesse in Italien aus. Obwohl die Verschuldung der privaten Haushalte auch in Italien, insbesondere nach 2008, gestiegen ist, liegt sie immer noch deutlich unter der der meisten anderen europäischen Länder.

Schon vor der Krise war die Situation alles andere als ideal, aber der Grund dafür liegt nicht in einem Mangel an Spar- und Kürzungsmaßnahmen, sondern in einem politischen Trend, der sich erst nach 2008 verschärft hat, das aber dann dramatisch.

Bereits vor der Einführung des Euro Anfang der 1990er Jahre verfolgte Italien, um sich den Konvergenzkriterien der Währungsunion anzunähern, eine Finanzpolitik mit einem Primärüberschuss im öffentlichen Haushalt. Dieser Überschuss wurde bis heute beibehalten, mit der einzigen Ausnahme des Jahres 2008. Die öffentliche Schuldenquote wurde so zwischen 1990 und 2007 um etwa 20 Prozentpunkte gesenkt. Entsprechend ist die Dynamik der öffentlichen Ausgaben seitdem deutlich moderater als in Deutschland oder Frankreich (siehe Abbildung 7).

Abbildung 7: Reale Staatsausgaben Italiens (indexiert, 1991=100). Reale Staatsausgaben meint hier die laufenden Ausgaben plus Investitionen. Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von OECD.Stat, Economic Outlook Nr. 102 - November 2017.

Diese Trends, zusammen mit einer Verschlechterung der Einkommensverteilung, stagnierenden Löhnen und einer Aufwertung des realen Wechselkurses insbesondere gegenüber Deutschland, haben zu einer stagnierenden Gesamtnachfrage und damit zu einem stagnierenden Wachstum der Produktion und damit der Produktivität geführt. Viele Studien haben in der Tat sowohl allgemein als auch unter Bezug auf italienische Daten gezeigt, dass das Kaldor-Verdoorn-Gesetz gültig ist – das Produktivitätswachstum, insbesondere in der Industrie, also weitgehend endogen ist und vom Gesamtwachstum der Wirtschaft abhängt (Millemaci und Ofria 2014). Ein Grund dafür ist die Abhängigkeit der privaten Investitionen, die bei der Modernisierung von Investitionsgütern und Technologien eine offensichtlich sehr wichtige Rolle spielen, vom Wachstum der Gesamtnachfrage (Girardi et al., 2018).

Schließlich muss betont werden, dass die Italiener – ganz im Gegensatz zu der vorherrschenden Sichtweise, der zufolge sie »über ihre Verhältnisse« gelebt haben – nie von einem überaus großzügigen öffentlichen Ausgaben- und Sozialsystem profitiert haben. Insgesamt lagen die öffentlichen Ausgaben pro Kopf, sowohl netto als auch brutto, stets unter denen vergleichbarer fortgeschrittener Länder, darunter Frankreich und Deutschland (siehe Abbildung 8).

Abbildung 8: Reale Staatsausgaben pro Kopf. Netto/brutto: ohne/mit Zinszahlungen. Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von OECD.Stat, Economic Outlook Nr. 102 - November 2017.

Die Ursachen der hohen Staatsverschuldung liegen nicht in den Ausgabenüberschüssen, und obwohl die Steuereinnahmen unter dem strukturellen Problem der Steuerhinterziehung von Selbständigen und Unternehmen leiden, sind die Ursachen der hohen Staatsverschuldung in erster Linie in einem bestimmten und relativ kurzen Zeitraum und in Entscheidungen der Währungsbehörden zu finden. In den 1980er Jahren kam es in Italien zu einer Verdopplung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP, was auf sehr hohe Realzinsen zurückzuführen war, die einen Schneeballeffekt auf die Staatsverschuldung hatten. Diese hohen Zinssätze sollten (angesichts einer höheren Inflationsrate als in anderen europäischen Ländern) die Bindung an den festen Wechselkurs in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) aufrechterhalten, indem sie Kapitalzuflüsse aus dem Ausland anzogen, was zu einer realen Aufwertung und einer Verschlechterung der Handelsbilanz führte. Dieser Politik ist es jedoch nicht gelungen, den spekulativen Angriff und die Abwertung der italienischen Lira im Jahr 1992 mit dem anschließenden vorübergehenden Ausstieg aus dem System der festen Wechselkurse zu verhindern. Darüber hinaus hat die italienische Zentralbank, so wird jedenfalls verschiedentlich argumentiert, mit Hilfe der hohen Zinssätze die Rentabilität der nationalen Banken gestützt, um ihre Fähigkeit zu verbessern, sich dem verschärften internationalen Wettbewerb im Finanzsektor zu stellen. Was auch immer die Beweggründe gewesen sein mögen, hier geht es darum, dass das Bemühen um die Verringerung der Staatsverschuldung seit Anfang der 1990er Jahre zu einem geringeren Beitrag des öffentlichen Sektors zur Bildung von Nachfrage und Wachstum auf makroökonomischer Ebene im Vergleich mit anderen Ländern in Europa sowie zu einem geringeren Engagement des öffentlichen Sektors (im Vergleich zu anderen Industrieländern) bei der Bereitstellung moderner Infrastrukturen und Dienstleistungen und der öffentlichen Unterstützung von Investitionen und technischen Innovationen. Das hat wiederum zu einem schwächeren Produktivitätswachstum beigetragen.

Abschließende Bemerkungen

Die düstere soziale und wirtschaftliche Lage Italiens hilft aus unserer Sicht, das jüngste Wahlergebnis zu erklären. Ganz gleich, ob man die Wahlentscheidungen der Menschen nun für richtig oder falsch hält – die Hauptbotschaft ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung Veränderungen gegenüber der Vergangenheit wünscht. Das bedeutet nicht, dass es ein weit verbreitetes und klares Bewusstsein für das Geschehene gibt. Die in den Medien vermittelten Informationen über ökonomische Fragen und Probleme sind in Italien sehr schlecht und konformistisch; sie unterstützen im Allgemeinen Sparsamkeit, Kürzungen und Deregulierungen und argumentieren, dass die Probleme des Landes Ineffizienz, Korruption und übertriebene oder zumindest schlecht konzipierte öffentliche Ausgaben und Steuern seien. Aber was auch immer ihr Verständnis der aktuellen Probleme auf intellektueller Ebene sein mag, wissen die Menschen doch aus direkter Erfahrung, was ihre Schwierigkeiten und Probleme sind. Sowohl die Fünf-Sterne-Bewegung als auch die Lega sammelten die Stimmen von Millionen von Menschen der Arbeiterklasse und der Mittelschicht (in vielen Fällen ehemalige Wähler der Demokratischen Partei), und in ihren Wahlkampagnen versprachen sie einen deutlichen Politikwechsel – weg von der Spar- und Kürzungspolitik: Die Fünf-Sterne-Bewegung stellte ihre Forderung nach einem breiten sozialstaatlichen System der Unterstützung für Geringverdienende und Arbeitslose und nach mehr öffentlichen Investitionen in Süditalien ins Zentrum, während die Lega Steuersenkungen durch eine »Flat Tax« versprach. Beide Parteien waren sich darüber einig, dass das Rentenreformgesetz von 2011 überarbeitet werden muss, um es weniger rigide zu gestalten. Auch stellten sie eine Abkehr von weiteren internationalen Handelsliberalisierungen in Aussicht. Ob sie das, was sie versprochen haben, zumindest in einem gewissen Umfang einhalten werden, ist unklar. Aber wenn es der derzeitigen Regierung nicht gelingt, auf die Bedürfnisse eines großen Teils ihrer Wählerschaft einzugehen und sich in Bezug auf Arbeitsplätze, höhere Löhne, sozialen Schutz und öffentliche Investitionen in Dienstleistungen und Infrastrukturen von anderen Parteien zu unterscheiden, dann dürfte der derzeitige Konsens rasch verschwinden. So war es vor einigen Jahren schon Premierminister Matteo Renzi von der Demokratischen Partei gegangen. Unabhängig von den tatsächlichen Absichten der jetzt regierenden Parteien und unabhängig vom Druck der europäischen Institutionen und der »Finanzmärkte«  i  Die »Finanzmärkte« sind natürlich keine anonymen Kleinanleger, sondern können durch die Entscheidungen einer relativ kleinen Zahl großer Finanzinstitute getrieben werden; diese wiederum werden auf die Spannungen mit den europäischen Institutionen und insbesondere die Haltung der Europäischen Zentralbank reagieren, da davon das »Risiko« der italienischen Staatsanleihen und die damit verbundene Schwäche der italienischen Banken abhängt, die große Anteile an diesen besitzen. haben die italienischen Regierungsmitglieder und insbesondere der Wirtschaftsminister einerseits bereits zahlreiche Erklärungen abgegeben, dass die Haushaltsregeln strikt eingehalten werden, was die Möglichkeiten zur Lösung der eben genannten Probleme erheblich einschränkt. Andererseits stößt die Initiative des Fünf-Sterne-Chefs und Arbeitsministers zur moderaten Rückführung der jüngeren Arbeitsmarkt-Deregulierungen auf heftige Kritik und Widerstand des nationalen Arbeitgeberverbandes. Aber es steht viel auf dem Spiel: Wenn die gegenwärtige Regierung die Zustimmung der Bevölkerung und der Wähler verliert, wird die Öffentlichkeit kaum zu gemäßigten, neoliberalen politischen Kräften wie der Demokratischen Partei oder Berlusconis Forza Italia zurückkehren. Die Spannungen innerhalb der EU und der Eurozone werden sich dann wahrscheinlich verschärfen.

Literatur

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache beim Institute for New Economic Thinking https://www.ineteconomics.org/perspectives/blog/macroeconomics-and-the-italian-vote. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Patrick Schreiner.

Walter Paternesi Meloni ist Research Fellow für Volkswirtschaftslehre an der Universität Roma Tre.

Antonella Stirati ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Roma Tre.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/die-wirtschaft-und-das-wahlergebnis-in-italien--2240.html   |   Gedruckt am: 28.04.2024