Der Weg zur einer geschlechtergerechten Digitalisierung

23. August 2018 | Marta Ochoa

In weiten Teilen der Welt haben technologische Innovationen wie künstliche Intelligenz (KI), Robotik und maschinelles Lernen bereits jetzt konkrete Auswirkungen auf viele Aspekte der Gesellschaft. Sie ermöglichen es uns, schneller zu kommunizieren, Informationen auszutauschen und einander näher zu kommen. Sie sind zu einem wesentlichen Bestandteil unseres alltäglichen Lebens geworden und bieten uns vielfältige Möglichkeiten in zahlreichen Bereichen von der Bildung bis zur politischen Teilhabe.

Ihre Alltäglichkeit und ihr breiter Einsatz lassen uns glauben, dass sie geschlechtsneutral seien. Aber nichts ist unrichtiger als das, zumindest, wenn es um ihre Auswirkungen geht. So wie technologische Innovationen uns voranbringen können, können sie bestehende Ungleichheiten und Tendenzen auch weiter vertiefen.

Diese Ungleichheiten zeigen sich beim Zugang zu (und der Nutzung von) Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), denn die Offline-Bevölkerung ist überdurchschnittlich oft arm, ländlich und weiblich. Ungleichheiten zeigen sich auch in Bereichen wie dem Mangel an digitalen Kompetenzen, dem Fehlen relevanter Inhalte für Frauen und der Zunahme negativer Stereotype. All diese Elemente verstärken die so genannte »geschlechtsspezifische digitale Kluft« (»gender digital divide«).

Zu diesen bestehenden Ungleichheiten kommt ein neues und sich erst entwickelndes Problem: die Zunahme von Sexismus und Diskriminierung, die in Algorithmen selber oder in die Verwendung von Algorithmen und Systemen, einschließlich Robotern und KI, eingebettet sind.

Das maschinelle Lernen und die künstliche Intelligenz beruhen in erster Linie auf den Informationen, die der Mensch ihnen vorgibt, einschließlich der dazugehörigen diskriminierenden Verhaltensweisen und Befangenheiten. Maschinen sind nicht wie Menschen ausgerüstet, um diesen vermittelten Vorurteilen bewusst und kritisch entgegenzuwirken. Maschinelles Lernen und KI können weder Kausalität von Korrelation unterscheiden, noch können sie selbstständig beurteilen, wann es notwendig ist, mehr Daten zu sammeln, um zu einer solideren und ausgewogeneren Schlussfolgerung zu gelangen.

Mit anderen Worten: Durch unsere Sprache und Interpretationen übertragen wir unsere eigenen bewussten und unbewussten Vorurteile auf die Maschinen und Algorithmen. Infolgedessen deuten einige Studien darauf hin, dass mit der zunehmenden Verbreitung von KI-Systemen soziale Gruppen, die bereits mit Ungleichheiten konfrontiert sind, wie zum Beispiel Frauen, noch stärker in Mitleidenschaft gezogen werden könnten.

Zu dieser unbewussten algorithmischen Verzerrung kommt noch eine klare und bewusste Diskriminierung von Frauen, die in diesen Bereichen arbeiten. Dies ist insbesondere der Fall bei Programmiererinnen. Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums hatte der von Frauen anonym geschriebene Code eine Zustimmungsquote von 78,6 Prozent, während der von Männern anonym geschriebene Code 74,6 Prozent hatte. Als jedoch das Geschlecht des Programmierers angegeben wurde, sank die Zustimmungsquote für Frauen auf nur noch 62,5 Prozent.

Wir wissen bereits, dass die technologiegetriebene und automatisierte Arbeitswelt von der ständigen Notwendigkeit geprägt sein wird, digitale Fertigkeiten zu erlernen, zu schulen und auszubauen. Dies benachteiligt Millionen von Arbeitnehmerinnen. Frauen stehen bereits heute vor der Herausforderung, ihre berufliche und private Verantwortung in Einklang bringen zu müssen, und Frauen haben bereits heute eine Qualifizierungslücke bei den digitalen Kompetenzen im Vergleich zu Männern.

Dieser Nachteil wird noch verstärkt, wenn wir die Arbeitsplatztypen betrachten, die durch KI, Automatisierung und digitale Innovationen verdrängt werden könnten. Studien zeigen, dass 47 Prozent der Beschäftigten in Berufskategorien arbeiten, die der Computerisierung zugänglich sind (insbesondere solche, die eine routinemäßige Messung, Bedienung, Mustererkennung oder Handhabung erfordern). Wie Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee in ihrem Buch »The Second Machine Age« von 2014 feststellten, »… gab es nie eine schlechtere Zeit, um ein Arbeiter zu sein, der nur «normale» Fähigkeiten und Fertigkeiten zu bieten hat, weil Computer, Roboter und andere digitale Technologien diese Fertigkeiten in einem außergewöhnlichen Tempo erwerben«.

Das Weltwirtschaftsforum geht davon aus, dass dieser Trend durch disruptive Veränderungen insbesondere in Bürofunktionen, in denen es viele weibliche Arbeitskräfte gibt, zu einem Nettoverlust von mehr als 5,1 Millionen Arbeitsplätzen führen könnte - und zu einem Anstieg um insgesamt zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen in den Computer-, Mathematik-, Architektur- und Ingenieursbereichen, in denen Frauen jedoch stark unterrepräsentiert sind.

Leider sind wir noch immer weit davon entfernt, Frauen in den Berufen zu stärken, die an Bedeutung gewinnen werden. Nach Angaben der OECD sind im Alter von 15 Jahren weniger als fünf Prozent der Mädchen an einer Karriere in Ingenieurwesen und Technik interessiert, verglichen mit 18 Prozent der Jungen. So sind in Europa nur neun Prozent der Softwareentwickler/innen Frauen, nur 19 Prozent der Führungskräfte im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (im Vergleich zu 45 Prozent in anderen Dienstleistungssektoren) und nur 19 Prozent der Unternehmer/innen in diesem Sektor (im Vergleich zu 54 Prozent in anderen Dienstleistungssektoren).

Mit anderen Worten stehen Frauen vor mehr als nur einer Herausforderung. Auf der einen Seite führt die ungleiche Verteilung der Haushaltspflichten, die sich aus bereits bestehenden sozialen und kulturellen Rollenbildern ergibt, dazu, dass weniger Zeit für die Fortbildung und Qualifizierung zur Verfügung steht. Hinzu kommen fehlende Mittel für einen gleichberechtigten Zugang zu den verfügbaren Technologien und die fehlende Ermutigung, sich denjenigen Berufsgruppen anzuschließen, die in Zukunft Beschäftigungsmöglichkeiten bieten werden. All dies macht es für Frauen schwieriger denn je, für das, was vor ihnen liegt, gerüstet zu sein.

Aber noch ist das Kind nicht in den Brunnen gefallen. Technologie und Automatisierung müssen keine Bedrohung sein. Mit den richtigen Instrumenten und der richtigen Ausrichtung können sie einen positiven Einfluss auf die Rechte und die Selbstbestimmung der Frauen haben. Es braucht neue Ansätze zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und zur Abschaffung von Ungleichgewichten, dann kann die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern überbrückt werden.

Neue Technologien können beispielsweise dazu beitragen, die Arbeitsbedingungen von Frauen zu verbessern, indem sie Freiräume schaffen, in denen weibliche Beschäftigte ihre Arbeitsrechte geltend machen können; in denen sie sich organisieren und für die Verbesserung von Gesetzen, Löhnen und Arbeitsbedingungen eintreten und Missbrauch melden können. Nehmen wir das Beispiel der Gewalt gegen Frauen. Hier können neue Instrumente helfen, einen virtuellen Raum zu schaffen, in dem sich Frauen über Gewalt aufklären können, und in dem Opfer und Überlebende einen sicheren Ort finden, um ihre Erfahrungen zu diskutieren und Hilfe zu suchen.

Um diese Instrumente vorteilhaft und für die soziale Teilhabe nutzen zu können, müssen wir zunächst die Stärken und die Grenzen des Digitalen verstehen.

UNI Women, die Frauenorganisation der europäischen Dienstleistungsgewerkschaft, ist der Ansicht, dass technologische Innovationen aus menschenrechtlicher Sicht angegangen werden müssen, wobei der Schwerpunkt auf der Freiheit von Diskriminierung, dem Recht auf Meinungs- und Redefreiheit, der Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, dem Recht auf eine menschenwürdige Beschäftigung, dem Recht auf gerechte und attraktive Arbeitsbedingungen, dem Recht auf Bildung und auf Teilhabe am kulturellen Leben sowie den Rechten der Frauen liegen muss.

Durch die Einbindung eines Menschenrechtsansatzes in die Gestaltung und Nutzung von Technologie und Automatisierung können wir sichere und gleichberechtigte Rahmenbedingungen schaffen, durch die alle Gruppen, insbesondere diejenigen, die mit Ungleichheiten konfrontiert sind, zu gerechteren Bedingungen teilhaben können. Dies setzt voraus, dass Regierungen und Staaten entsprechende Strategien und Programme zur Förderung der Rechenschaftspflicht, der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, der Beteiligung und Mitbestimmung, der Transparenz, des Selbstbestimmungsrechts und der Nachhaltigkeit entwickeln und umsetzen, Gleichstellungsbeauftragte und Expertise in den Prozess der Politikentwicklung einbeziehen und ausreichende Ressourcen bereitstellen. Auch die Wirtschaft muss einbezogen werden, mit angemessener Weiterbildung von Management und Geschäftsführungen über geschlechtsspezifische Unterschiede, was dazu beitragen wird, ein besseres und kooperativeres Arbeitsumfeld zu schaffen.

Frauen stellen 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung, aber ihre Probleme werden nicht ausreichend berücksichtigt, sie haben nur begrenzten Zugang zu Führungspositionen und sind vielen Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Ihre mangelnde Beteiligung an Entscheidungsprozessen, an der Entwicklung von Technologien und an der Gewerkschaftsarbeit bedeutet auch, dass ihre Themen nicht ausreichend diskutiert und berücksichtigt werden. Weibliche Beschäftigte sind benachteiligt, und dies kann durch eine zunehmende geschlechtsspezifische digitale Kluft und Verzerrungen bei der technologischen Innovation verstärkt werden.

Aber: Diese neue Arbeitswelt muss uns keine Angst machen. Mit einer geeigneten Politik und Ausbildung, mit den richtigen Instrumenten, mit einem Menschenrechtsansatz, bei dem die Freiheit von Diskriminierung in all unserer Arbeit verankert wird, können wir Fähigkeiten im Umgang mit Maschinen entwickeln.

Mehr denn je werden heute menschliche Eigenschaften wie Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe, komplexe Problemlösung und Entscheidungsfindung, die üblicherweise als »weibliche« Fähigkeiten bezeichnet werden, unerlässlich sein. Es geht darum, die Möglichkeit zu haben, sich auf Maschinen einzulassen und zu lernen, mit ihnen zu arbeiten. Wir können die Technologie als unseren Verbündeten nutzen, um unsere kognitiven Fähigkeiten zu erweitern, uns von lästigen Aufgaben zu befreien und inklusive Umgebungen zu schaffen.

Marta Ochoa arbeitet beim weltweiten Dachverband der Dienstleistungsgewerkschaften UNI Global Union in der Abteilung Chancengleicheit (Equal Opportunities).

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/der-weg-zur-einer-geschlechtergerechten-digitalisierung--2228.html   |   Gedruckt am: 20.04.2024