Lektüretipps für den Sommer 2018

13. Juli 2018 | Redaktion

Jonas Lüscher: Kraft

Rhetorik-Professor Richard Kraft reist ins Silicon Valley zu seinem alten Freund István aus Studienzeiten, um die wissenschaftliche Preisfrage zu beantworten, warum alles gut und dennoch verbesserungsfähig ist. Das ausgelobte Preisgeld könnte er gut gebrauchen, denn seine gescheiterten Beziehungen und die gerade scheiternde Ehe fordern ihren finanziellen Tribut. Mit seinem umfassenden philosophischen Wissen sollte es ihm ein Leichtes sein, eine Lobpreisung des Positiven abzuliefern. Doch seine sonst so verlässliche intellektuelle Schaffenskraft stockt, ihm fällt nichts ein. Stattdessen plagen ihn Erinnerungen an seine früheren Erlebnisse mit Freund István und unglücklich verlaufene Beziehungen zu Frauen.

Der Protagonist entpuppt sich schnell als marktradikaler Thatcher-Befürworter, der in seinem extremen Liberalismus noch von seinem Studienfreund István, Ungarnflüchtling und Kommunistenhasser, übertroffen wird. Das irritiert zunächst. Doch Lüscher hat anderes im Sinn, als den Lesenden von der Heilkraft des Marktes zu überzeugen. Im Gegenteil! Eingestreut in ironisch gebrochener Biographie und oft skurrile Rahmenhandlung findet sich eine sprachmächtiger und pointierter analytischer Rückblick auf 50 Jahre Geschichte und neoliberalen Umbau der Bundesrepublik. Mit vielen Anspielungen und philosophischen Überlegungen gespickt ist der Roman eine anspruchsvolle Lektüre. Wer das mag, hat sein intellektuelles Lesevergnügen.

[München: C.H. Beck 2017, 5237 Seiten]

Eine Auswahl von Rezensionen hält der Perlentaucher bereit.

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Richard Powers: Das größere Glück

In Chicago zieht eine junge Frau mit ihrer faszinierend positiven Haltung und Ausstrahlung alle, mit denen sie in Kontakt kommt, in ihren Bann. Das spricht sich rum. Als die Vermutung aufkommt, ihr Glücklichsein verdanke sich ihrer besonderen genetischen Ausstattung, gerät die junge Frau in die Verwurstungsmaschinerie von Wissenschaft, Medien und Gentech-Unternehmen, die sich alle auf ihre Art an ihr bereichern wollen. Sie wird zur öffentlichen Person, und das bleibt nicht ohne Folgen. Was alles Unglück der Welt, was alle schlimmen persönlichen Leiderfahrungen bis dato nicht vermocht hatten, die von Profitinteressen getriebene Instrumentalisierung ihrer Persönlichkeit raubt der jungen Frau den so großen Lebensmut.

In einem ganz eigenen Erzählstil, der sich den Konventionen des Romans immer wieder entzieht, lässt Powers seine Protagonisten auftauchen und agieren, so als ob er sie selbst nicht recht kennte. Manches an ihnen bleibt daher auch skizzenhaft, doch genug erfahren wir. Durchzogen von düsteren Erwägungen und Schilderungen zu den wachsenden und teils längst schon realisierten Möglichkeiten genetischer Manipulationen bleibt in Powers’ ziemlich fatalistisch angelegtem Erzählstrang Hoffnung nur in der Liebesgeschichte zweier bislang nicht vom Glück verfolgter Menschen erhalten.

[Frankfurt/M.: S. Fischer 2009, 415 Seiten]

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Buch und Thema findet sich bei Deutschlandfunk.de .

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Friedrich von Borries: RLF

Ein Roman über einen Werbecampaigner, der zum Revolutionär mutiert, der im Untertitel und gleich auch noch zum Auftakt auf das Adorno-Zitat vom richtigen und falschen Leben rekurriert, das klingt zunächst arg nach Klischee. Doch der Roman, der sich lieber Bericht nennt, hat mit ausgetretenen Erzählpfaden rein gar nichts zu tun. Der Protagonist bleibt hier Werbefachmann, er nimmt aber Kontakt zu Menschen auf, die Widerstand gegen das kapitalistische System leisten. Gemeinsam entwerfen sie einen Plan, wie man das Geschäft der Subversion mit den Mittel der Werbeindustrie und dem Zutun von Künstlern erfolgreich betreiben kann, um den Kapitalismus quasi mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Die Idee der Umwälzung soll zu einem attraktiven Produkt geformt werden und über die clevere Vermarktung als Konsumprodukt (Protest als Ware) Anklang und Verbreitung finden. Das klingt weit hergeholt. Doch wird schnell klar, dass der Plot deutliche Bezüge zur Wirklichkeit aufweist, die der Autor regelmäßig im Stil kleiner Lexikoneinträge einschiebt. Das wirkt manchmal störend, ist aber oft auch sehr erhellend. Letztlich kreist das Buch in seinem vielschichtigen Mix aus Interviews, Erzählung und Lexikon um die Frage, ob sich Kunst, Werbung und Revolution zu einem magischen Dreieck zusammenfügen lassen.

[Berlin: Suhrkamp 2013, 252 Seiten]

Zusätzlich zur Rezension bei Spiegel online finden sich beim Perlentaucher zwei ganz unterschiedliche Rezensionen.

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KRIMIS:

Wolfgang Schorlau: Der große Plan

Eine Mitarbeiterin des Auswärtigen Amtes, die als Beraterin der Griechenland-Troika fungiert, wird entführt. Und damit ist bereits klar, dass Wolfgang Schorlau sich in seinem neuen Roman die griechische Schuldenkrise vorgenommen hat. Im Bemühen, das Motiv der Entführung aufzuklären, folgt Privatermittler Georg Dengler der Spur des großen Geldes und trägt nach und nach brisante Fakten rund um die Griechenlandkrise und die so genannten Rettungsschirme zusammen.

Auch in Denglers neuntem Fall versteht Wolfgang Schorlau es, historische und aktuelle Fakten und Fiktion so geschickt zu verknüpfen, dass nicht nur ein spannender Krimi dabei herauskommt, sondern auch eine Aufklärung über die Machenschaften der internationalen Finanzpolitik. Denn wer weiß schon, dass von den Griechenland-Hilfsgeldern höchstens zehn Prozent im Land angekommen sind, während der Rest an europäische und US-amerikanische Banken und Investoren ging.

[Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018, 448 S.]

Rezension bei den NachDenkSeiten .

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Kazuaki Takano: Extinction

Eine Gruppe von Söldnern wird zu einem Einsatz in den Kongo geschickt. Dort sollen sie das Übergreifen einer noch lokal begrenzten Virusinfektion verhindern, die angeblich die Auslöschung der gesamten Menschheit bewirken könnte. Vor Ort wird den Männern aber schnell klar, dass sie manipuliert worden sind. Sie sollen selbst etwas auslöschen, das das Fortbestehen der menschlichen Art tatsächlich in Frage stellt. Doch sie entscheiden sich gegen ihre Auftraggeber und treten eine lebensgefährliche Flucht an.

Der Autor arbeitet sonst als Drehbuchautor in Japan und Hollywood, was man dem Plot durchaus anmerkt, denn er folgt nicht nur den genretypischen Regeln, was eine spannende Lektüre zu einem Thema ergibt, das nur auf den ersten Eindruck phantastisch und weit hergeholt erscheint. Darüber hinaus ist der Erzählstil aber auch reichlich stromlinienförmig auf Bestsellertauglichkeit angelegt, inklusive eher holzschnittartig ausgearbeiteter Charaktere. Die immer wieder eingestreuten halbphilosophischen Reflexionen zur Natur des Menschen sind ebenfalls ziemlich oberflächlich und bleiben auf anthropologische Erklärungsmuster beschränkt. Sie verleihen dem Buch aber mehr Substanz, wenn auch keinen Tiefgang. Trotzdem eine prima Sommerlektüre zum Abtauchen und Abschalten.

[Reinbek: Rowohlt 2010, 460 S.]

Eine Rezension hält Deutschlandfunkkultur.de bereit.

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Castle Freeman: Männer mit Erfahrung

In einer ziemlich hinterwäldlerischen Gegend des US-Bundesstaates Vermont wird eine junge Frau von einem Mann bedroht, dem sie bei seinen mehr oder weniger kriminellen Machenschaften unfreiwillig in die Quere gekommen ist. Sie sucht Hilfe beim Sheriff, findet sie dann aber bei zwei schrägen Typen, die ihr völlig ungeeignet erscheinen. Mangels Alternative lässt sich sich auf die beiden Käuze ein und erlebt, was Männer mit Erfahrung zu Wege bringen können.

Freeman erzählt zurückhaltend, arbeitet viel mit Andeutungen und geht den Verlauf der »Problemlösung« dabei derart lakonisch und mit Gespür für schrägen Humor an, dass es ein Vergnügen ist, sich eine Verfilmung der im Kopfkino ablaufenden Bilder durch die Coen-Brüder vorzustellen. Die geschilderte kurze Episode, in der die latent gewaltsame Atmosphäre sich zwischenzeitlich heftig, am Ende dann in einem brutalen Showdown entlädt, verrät zwischen den Zeilen viel über die Trost- und Perspektivlosigkeit einer wirtschaftlich abgehängten Region Amerikas.

[München: dtv 2018,176 S.]

Rezensionen gibt es bei Literaturkritik.de und bei Zeit online .

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GESCHICHTE und eine «Nachlese» zum Lutherjahr 2017

Stephanie Bart: Deutscher Meister

Heinrich Johann Trollmann war ein Ausnahmeboxer, der Anfang der 1930er Jahre in der Halbschwergewichtsklasse von Sieg zu Sieg tänzelte. Die Machtergreifung der Nazis setzte seiner Karriere (später auch seinem Leben) frühzeitig ein Ende, denn Trollmann war zwar populär, aber er war auch ein Sinto, und so musste mit allen Mitteln verhindert werden, dass jemand anders als ein rassereiner Deutscher der beste Kämpfer im Reich war.

Stephanie Barth hat die Ereignisse des Jahres 1933, zu einem Roman verdichtet. Sie beschreibt den Aufstieg Trollmans wie auch die perfiden und erfolgreichen Bemühungen von Nazi-Funktionären, ihm den Titel wieder wegzunehmen. Was die Lektüre trotz des traurigen Hintergrunds (Trollmann wurde 1935 zwangssterilisiert und 1944 im Konzentrationslager ermordet) zu einem Vergnügen macht, ist vor allem die Art und Weise, wie die Autorin in langen Sequenzen Boxszenen im Ring beschreibt. Damit kann sie vermutlich auch Gegnern des Faustkampfes eine gewisse Faszination für diese, ja, Sportart vermitteln.

[Hamburg: Hoffmann & Cape 2014, 384 S.]

Eine eingehendere Befassung mit dem Roman lässt sich bei der FAZ online abrufen.

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Luther Blissett: Q

Am 31. Oktober 1517 hatte Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt. Dies gilt als Startschuss der Reformation. Und hier setzt der historische Roman ein, der einen Zeitraum von 1518 bis 1555 umspannt. Der tragende Handlungsstrang verflechtet das Schicksal zweier Personen, die als Antagonisten (hier der zunächst namenlose Ich-Erzähler und Sozialrevolutionär, dort sein mysteriöser Widersacher und Verräter) die Ereignisse der Zeit entscheidend mitgestalten - und das sind nicht wenige: Auf die Anfänge der Reformation folgen die Bauernkriege, die Wiedertäufer-Bewegung und der aufkeimende Calvinismus ebenso wie die Gegenreformation der katholischen Kirche (Inquisition) und der damit verwobene Aufstieg des Bankensystems der Fugger.

Verfasst wurde der sehr umfangreiche Roman von einem Autorenkollektiv junger italienischer Aktivisten. In einer Art Gegenentwurf zur kanonisierten Geschichtsschreibung versuchen sie einen Eindruck davon zu vermitteln, was sich während der Reformation und den folgenden Jahrzehnten wirklich abgespielt hat. Herausgekommen ist ein komplexer Blick auf den enorm konfliktuösen Beginn der Neuzeit, eine Epoche, in der Luther letztlich nur eine Marionette im Machtspiel der konkurrierenden Kräfte gewesen ist.

[München: Piper 2002, 798 S.]

Eine umfassende Rezension hält literaturkritik.de bereit.

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Friedrich C. Delius: Warum Luther die Reformation versemmelt hat

Hat das Autorenkollektiv aus Italien mit seiner »Reformationsbelletristik« weit ausgeholt, so steht die von F. C. Delius verfasste »Streitschrift« quasi am anderen Ende der Skala. Ein kurzes, leichtes und launiges Büchlein, das sich allein mit einem zentralen theologischen Aspekt des Luthertums auseinandersetzt. Der Autor nennt es Streitschrift, und in der Tat ist es eine ganz spezielle, ja persönlich Abrechnung mit der verquasten Idee der Erbsünde.

Delius steht hier als Ich-Erzähler in einem fiktiven Dialog mit Luther. Dabei geht es ihm nicht darum, den Reformator vom Sockel zu holen. Mit seinem kurzen Abriss auf entscheidende Weichenstellungen in der Kirchengeschichte entlarvt er die auf Manipulationen beruhenden ideologischen Grundpfeiler der katholische Lehre ebenso wie er Luther (auch als persönlich Betroffener!) vorwirft, im entscheidenden Punkt deren menschenfeindliche Unsinnslehre eben nicht reformiert und die Reformation damit versemmelt zu haben.

[Reinbek: Rowohlt 2017, 64 S.]

Eine Rezension gibt es beim Kulturradio oder auch auf literaturkritik.de

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/lektueretipps-fuer-den-sommer-2018--2222.html   |   Gedruckt am: 23.04.2024