7. Juni 2018 | Alfredo Saad-Filho
Lange erprobte Politiken wie Privatisierung, Vermarktlichung, Finanzialisierung und die Liberalisierung des Handels haben an Anziehungskraft verloren, und die etablierten politischen Systeme an Legitimität. Massenproteste entstehen an ungewohnten Orten und nehmen neue Formen an. Selbst die beständigsten politischen Akteure haben an Einfluss auf die Hebel der Macht eingebüßt, die ihrerseits zunehmend an Effektivität verlieren.
Der Neoliberalismus schuf seit Anfang der 1980er Jahre ungeahnt günstige Bedingungen für die Kapitalakkumulation, was eine starke Konzentration von Macht, Einkommen und Vermögen begünstigte. Damit ging ein beispielloser Wohlstand für die Reichen einher - mit alten und neuen Mustern von Armut und Ausgrenzung. Die Akkumulation in den »Kernländern« der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist jedoch mit rückläufigen Investitionen und Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP), zunehmender Instabilität und immer häufigeren finanzbedingten Krisen konfrontiert, die im tiefsten und längsten wirtschaftlichen Abschwung seit der Großen Depression 1930 gipfelten. Auch die Erholungen nach Krisen verlaufen zunehmend schleppender.
Diese Auswirkungen ergeben sich unmittelbar aus den charakteristischen Merkmalen und wirtschaftlichen Widersprüchen des Neoliberalismus. Die »Reformen« haben die früheren Systeme der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zerschlagen, die Koordinierung der Wirtschaftsaktivitäten behindert, gesellschaftlich bedenkliche Lohn- und Beschäftigungsbedingungen geschaffen, den Einsatz von Industriepolitiken zur Erreichung gesellschaftlich festgelegter Prioritäten verhindert, die Zahlungsbilanzen strukturell von internationalen Kapitalmärkten abhängig gemacht und es den Finanzinstitutionen ermöglicht, ihre Ressourcen nahezu beliebig von der Produktion weg in die Spekulation zu verlagern. Es überrascht daher nicht, dass die Akkumulation im Neoliberalismus dazu neigt, Blasen hervorzurufen, die letztendlich platzen und zerstörerische Auswirkungen haben.
Das politische Projekt des Neoliberalismus beinhaltet eine verkümmerte Form von Demokratie, die die Wirtschaft vor politischer »Einmischung« schützen soll, wobei sich die Beteiligung der Bevölkerung typischerweise auf die Wahl zwischen Unterformen des Neoliberalismus auf einem sterilen politischen Marktplatz beschränkt, der von beißend konservativen Medien kontrolliert wird. Die wesentlichen Entscheidungen über die soziale Absicherung, die Struktur der industriellen Produktion, die Beschäftigungsbedingungen und die Einkommensverteilung werden an anderen Stellen getroffen - in Finanzinstitutionen, Wirtschaftsverbänden, internationalen Organisationen, bei der Europäischen Kommission.
Zwangsläufig hat sich das politische Spektrum nach rechts verschoben, während linke Parteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen in sich zusammenfallen. Soziale Zersetzung und die Blockade des kollektiven Widerspruchs haben politische Gleichgültigkeit, Entfremdung und das Gefühl genährt, dass Politik sich durch eine Mitnahmementalität auszeichnet.
Viele neoliberale Demokratien sind in Aufruhr geraten. In der Peripherie der Eurozone wurden die gewählten Regierungen in Griechenland und Italien erst durch so genannte überparteiliche Technokraten ersetzt, die eine pervers restriktive Wirtschaftspolitik betrieben haben. Später wurde dann in Griechenland eine gewählte Regierung zerschlagen, die sich für mehr Umverteilung einsetzte. In einem stillstehenden Europa herrscht nun eine bedrückende Gleichförmigkeit. Zudem erreicht die Krise der neoliberalen Politik die gesamte Welt. Die wirtschaftliche Instabilität ermöglichte den Aufstieg autoritärer Regierungen, die die Macht mit unterschiedlichsten Mitteln eroberten, darunter durch mehr oder weniger ehrliche Wahlen in Argentinien, Ungarn, Indien und Polen, durch Gerichts- und Parlamentsputsche in Brasilien, Honduras und Paraguay, durch Verfassungsreferendum in der Türkei und durch Militärputsche in Ägypten und Thailand.
Schließlich erreichte das Unglück die »Kernländer« der NATO. Der zwar unberechenbare, aber knallhart rechte Donald Trump wurde zum US-Präsidenten gewählt, und der Brexit gewann die Volksabstimmung im Vereinigten Königreich (auch wenn niemand sagen würde, dass es eine Mehrheit für den Brexit an sich war). In Frankreich stand Marine Le Pen auf der Türschwelle des Élysée-Palastes, während ein rauer Sicherheitsdiskurs jede Art von Liberté überlagert. Ein Pro-Einheimische-Populismus gedeiht in Österreich, der Schweiz und Skandinavien; in den östlichen Randgebieten der Europäischen Union führen rechte Westentaschendiktatoren orientierungslose Gesellschaften gegen »Feinde«, die viel schwächer sind als sie selbst - meist dunkelhäutige Flüchtlinge, die vor noch dramatischeren Verhältnissen im Süden fliehen.
Der nationale Autoritarismus ist kein flüchtiges Wanken im Siegeszug der neoliberalen Demokratie hin zum »Ende der Geschichte«; er ist eine direkte Folge der Umstrukturierung neoliberaler Gesellschaften unter dem Deckmantel von »Anpassungsdruck«, Inflationskontrolle und »Wettbewerbsfähigkeit«. Im Zuge dessen hat der Neoliberalismus auch die politischen Systeme und Institutionen der Repräsentation untergraben. Vor allem hat er eine große und vielfältige Zahl von Verlierern hervorgebracht. Millionen von qualifizierten Arbeitsplätzen sind verschwunden, ganze Berufe sind weggefallen oder wurden an billigere Standorte verlagert. Die Arbeits- und Lebensbedingungen haben sich für die informellen Arbeiter bis hin zu den traditionellen Mittelschichten (und fast alle dazwischen) verschlechtert. Hunderte von Millionen Menschen weltweit wurden in prekäre Arbeitsverhältnisse verschoben, ihre Fähigkeiten massiv entwertet. Zu den »Verlierern« gehören informelle Arbeiter ohne realistische Aussicht auf eine stabile Beschäftigung, Fachkräfte, deren Arbeitsplätze verlagert wurden, verschuldete Kleinunternehmer und insolvente Kleinbauern, überlastete Führungskräfte, verunsicherte Beamte, bedrängte Rentner. Selbst Angehörige ehemals privilegierter sozialer Schichten beklagen die Unmöglichkeit, ihren Nachkommen bessere materielle Lebensbedingungen zu hinterlassen.
In vielen Ländern haben diese Umwälzungen zu wirtschaftlicher Unterentwicklung, zu langfristiger Stagnation (unterbrochen durch Krisen), zu schrumpfenden Aussichten auf wirtschaftlichen Fortschritt, zu sozialem Niedergang, zu politischem Stillstand und zu einem allgemeinen Gefühl der Entfremdung geführt. Eine zerrüttete Demokratie ignoriert die Opfer des Neoliberalismus dabei gänzlich.
Die »Verlierer« neigen dazu, die Entleerung der Demokratie als Korruption und Vereinnahmung durch Mächtigere wahrzunehmen, im Gegensatz zu den »guten alten Zeiten« der wirtschaftlichen Gewissheit und der (begrenzten) Privilegien (darunter lebenslange Arbeitsplätze, Recht und Ordnung, Nachbarn, die genau wie sie selbst aussahen, und gehorsame Ehefrauen.) Die heutigen politischen Systeme werden in erster Linie angesehen als im Dienste der Reichen (Bankiers, Steuerhinterzieher, sich selbst erhaltende politische Eliten, ausländische Tycoons), der sogenannten »privilegierten Minderheiten« (Frauen und ausgewählte ethnische oder religiöse Gruppen) und der Massen aus der Fremde stehend. Sie alle scheinen staatliche Unterstützung zu erhalten, während es den moralisch aufrechten »Verlierern« immer schwerer fällt, über die Runden zu kommen. Noch schlimmer als diese wirtschaftlichen Härten ist aber wohl die Erosion ihrer sozialen Stellung: Sie können nur schwer zu verstehen, was sie getroffen hat und warum.
So wie unorganisierte soziale Gruppen anfällig für politische Vereinnahmung durch die Elite sind, so neigt die Gruppe der Verlierer im Neoliberalismus dazu, von der politischen Rechten eingenommen zu werden. Den Verlierern fehlt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich auf gemeinsame materielle Lebensumstände stützt, und sie misstrauen dem dysfunktionalen Neoliberalismus. Zugleich unterstützen sie den Einsatz politischer Instrumente, um bestimmte mit ihnen in Konkurrenz stehende Gruppen am unteren Ende der Gesellschaft anzugreifen. Sie projizieren ihre Hoffnungen und Ängste auf eine Moral der Klassenlosigkeit und auf rückschrittliche Programme, die sich auf den »gesunden Menschenverstand« stützen, der in eine Sprache des Rechts, des Respekts, der Wiedererlangung der Kontrolle und der Bewahrung alter Privilegien eingebettet ist. Dabei werden sie von »starken« Führern angeleitet, die »etwas erreichen« können.
Diese Denkweisen spiegeln die verzweifelte Suche der Verlierer nach Möglichkeiten wider, ein blockiertes politisches System zu umgehen und Vorteile für diejenigen zu sichern, die es leid sind, immer zu verlieren, und denen es an einem Gefühl der Sicherheit mangelt, das auf Verdienst, auf der Staatsbürgerschaft oder irgendetwas anderem beruht. Sie bringen auch ihre Abscheu darüber zum Ausdruck, dass aalglatte Politiker immer wieder faule Ausreden für ihre Untätigkeit liefern, während sich die Lebensbedingungen der Mehrheit weiter verschlechtern. Der Zusammenbruch des Nachkriegskonsenses und der Sozialdemokratie hängt direkt mit diesem neoliberalen Druck zusammen.
Die konservativen Mainstream-Parteien haben eine größere Widerstandsfähigkeit gegen den Abstieg gezeigt als die sozialdemokratischen, weil sie sich stärker mit der neoliberalen Ideologie und der zugehörigen politischen Praxis identifizieren, was rhetorische Geschlossenheit erleichtert, und weil die Rechte es gewohnt ist, irreführende oder unrealistische Programme zu versprechen und zugleich nationalistische Parolen einzusetzen. Die Rechte ist also gut aufgestellt, um den verärgerten Wählern ungeachtet der Widersprüche, auch mit dem Neoliberalismus selbst, ein willkürliches Menü an Wünschenswertem anzubieten. Diese Programme sind in der Regel naiv, ausgrenzend, spaltend, fremdenfeindlich, rassistisch und moralkonservativ.
Doch auch diese Parteien tendieren zu einem immer schriller werdenden Nationalismus, mit einer neuen Generation von proto- und neofaschistischen Bewegungen, die noch viel oberflächlichere Schlagworte benutzen. Die extreme Rechte hat erwiesenermaßen die Fähigkeit, auf der Grundlage nationaler, ethnischer, religiöser oder geschlechtsspezifischer Identität zu mobilisieren, und sie gedeiht am besten unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Misere: Sie wird in dem Maße wachsen, wie sich der Neoliberalismus verschärft.
Der nationalistische Autoritarismus drückt die Wut einer unorganisierten Gruppe von Verlierern des Neoliberalismus aus, die unter den Bedingungen globaler wirtschaftlicher Umstrukturierung, unter langwierigen Krisen, sozialer Zersetzung, zerfallenen Ideologien und verkrusteten politischen Systemen leiden müssen. Die Fokussierung auf die Schwachen (Einwanderer, Flüchtlinge, »unwürdige Arme«, ungerechtfertigt durch staatliches Handeln oder juristische Vorteile »Privilegierte« und so weiter) nährt rückschrittliche politische Programme und belegt die dringende Notwendigkeit linker Alternativen.
Eine linke Strategie zur Überwindung des Neoliberalismus hängt von unserer Fähigkeit ab, uns eine alternative Zukunft vorzustellen. Dies ist unerlässlich, um Massenbewegungen zur Umgestaltung des Staates, der sozioökonomischen Reproduktion und der politischen Repräsentation anzuregen - also Bewegungen, die eine umverteilende, demokratische und nachhaltige Wirtschaftspolitik fordern. Diese Forderungen können sehr unterschiedliche Kämpfe integrieren, den Neoliberalismus delegitimieren und das Entstehen praktischer Alternativen unterstützen. Ihr Potenzial zur Mobilisierung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere der Jugend und der Arbeiter, wurde durch die Sanders-Kampagne in den USA, die beiden Wahlen von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der britischen Labour Party und eine Vielzahl von aufstrebenden Bewegungen in Ländern wie Griechenland, Spanien oder Bolivien unter Beweis gestellt.
Diese globalen Bewegungen können nur von einer politisch neu geordneten Arbeiterklasse vorangetrieben werden. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man diesen positiven Prozess nicht durch bloßes Wünschen herbeiführen kann. Dafür bedarf es der Entwicklung neuer Strukturen der politischen Repräsentation (in Parteien und Gewerkschaften, auf kommunaler Ebene usw.), die der gegenwärtigen Konstellation dieser Klasse entsprechen – in sich ist sie vielfach gespalten, und dabei eng in die Weltwirtschaft eingespannt, mit einer eigenständigen Alltagskultur, eigenständigen Sichtweisen und sehr geschickt im Umgang mit sozialen Medien und den Möglichkeiten des Internet. Dies sollte zur Entstehung neuer Formen der sozialen Erneuerung beitragen, die auf den Werten der Demokratie, der Solidarität, der Befriedigung von Grundbedürfnissen und der ökologischen Nachhaltigkeit basieren.
Es gibt einen Wettlauf zwischen der Wiederherstellung sozialer und politischer Gemeinschaft, die sich auf fortschrittliche Prinzipien stützt, und der Barbarei. Der Sieger in diesem Wettlauf bekommt alles.
Dieser Text erschien zuerst in der Global Labour Column unter: ▸http://column.global-labour-university.org/2017/02/global-crisis-neoliberalism-and-left.html. Die Übersetzung fertigte Martin Ahrens an.
Alfredo Saad-Filho ist Professor für Politische Ökonomie an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der Universität London und war zuvor leitender Wirtschaftsreferent bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD).
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/die-weltweite-krise-der-neoliberalismus-und-linke-alternativen--2203.html | Gedruckt am: 03.12.2024