»Strukturreformen« in Europa: Ein falsch verstandener Strukturbegriff?

21. Juni 2018 | Federico Bassi

Strukturreformen sind laut Europäischer Zentralbank »Maßnahmen, die den institutionellen und regulatorischen Rahmen einer Volkswirtschaft verändern, in dem Unternehmen und Menschen ihrer Tätigkeit nachgehen (…) Regeln für flexiblere Arbeitsmärkte, ein vereinfachtes Steuersystem oder den Abbau bürokratischer Hemmnisse können beispielsweise für ein besseres Geschäftsumfeld sorgen.« Es zeigt sich jedoch, dass diese Strukturreformen, die darauf abzielen, den Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten (ein Ziel, das seit der Krise von 2008 im Mittelpunkt der Wirtschaftsreformen in Europa steht), keine signifikanten langfristigen Auswirkungen auf die Beschäftigung und das Wachstum haben.

Tatsächlich sind die kurzfristigen Auswirkungen sogar in erheblichem Umfang negativ, insbesondere wenn diese Reformen in Krisenzeiten umgesetzt werden. Diese Erkenntnis, die durch zahlreiche Studien gestützt wird, wurde inzwischen von den wichtigsten internationalen Institutionen weithin anerkannt. Darüber hinaus haben diese Reformen die Gesellschaften ungleicher gemacht, ohne dabei die Wettbewerbsfähigkeit der Länder zu verbessern, die diese Maßnahmen umgesetzt haben.

Der Grund für dieses Versagen ist schnell erklärt: Strukturelle Unterschiede zwischen dem Kern und der Peripherie Europas bestehen nicht nur hinsichtlich der Flexibilität des Arbeitsmarktes (die Peripherieländer liegen oft an der Spitze, was die Flexibilität des Arbeitsmarktes anbelangt, wie etwa Italien), oder der Kosten, sondern auch hinsichtlich der unterschiedlichen Industriestrukturen. Diese industrielle Struktur eines Landes wird hingegen von den sogenannten »Strukturreformen« – wenn überhaupt – nur am Rande wahrgenommen. Die seit der Krise eingeleiteten Sparpolitiken – und darunter sind auch die »Strukturreformen« zu fassen – haben den Prozess des Auseinanderdriftens der Länder im Kern und an der Peripherie Europas beschleunigt. Die europäische Wirtschaft unterscheidet sich heute sehr stark von der, die sie vor der Schaffung der Währungsunion und vor der Wirtschaftskrise von 2008 war.

Unterschiedliche Pfade der Industrialisierung und Internationalisierung

Nach einer Phase der starken Industrialisierung und des Wirtschaftswachstums in den 1950er und 1960er Jahren, zu der staatliche Industriepolitik und günstige internationale Rahmenbedingungen wesentlich beitrugen, wurden ab den 1970er Jahren die Länder Südeuropas (Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) und auch Frankreich nach seiner Abkehr von industriepolitischer Steuerung langsam deindustrialisiert. Die Industriestrukturen dieser Länder wurden Opfer einer vorzeitigen Liberalisierung und verloren gegenüber der internationalen Konkurrenz mit ihren stärkeren und wettbewerbsfähigen Strukturen (insbesondere gegenüber Deutschland) langsam an Boden. Während die europäischen Länder ihre Volkswirtschaften und Finanzmärkte liberalisierten, hatte die deutsche Industrie einen internationalen Umstrukturierungsprozess eingeleitet, dessen Auswirkungen noch heute zu spüren sind.

Nach der Wirtschaftskrise von 2008 wurde die deutsche globale Wertschöpfungskette um zwei geografische Hauptachsen herum umstrukturiert: Um China bezüglich der Absatzmärkte und um Osteuropa (Tschechien, Ungarn, Polen, Slowakei) bezüglich der Direktinvestitionen im Ausland. Diese Strategie der Internationalisierung deutscher Unternehmen verlief entgegengesetzt zu der südeuropäischer und französischer Unternehmen. Im Automobilsektor, der einen bedeutenden Teil des deutschen Verarbeitenden Gewerbes darstellt, wurde insbesondere die Produktion in niedrigeren Preisklassen und mit geringerer Wertschöpfung und technologischer Komplexität ins Ausland verlagert. Im Inland verblieben die Produktion in höheren Preisklassen und die Produktionsstufen mit höherer technologischer Komplexität. Die Vorgehensweise der französischen und italienischen Automobilindustrie bestand im genauen Gegenteil: Sie verlagerte die technologieintensiven und stark Wert schöpfenden Produktionsstufen ins Ausland und behielt gleichzeitig eine spezialisierte Produktion in den unteren Preissegmenten vor Ort bei.

Das Ergebnis dieser divergierenden Strategien ist eindeutig: 2015/2016 entfielen 73 Prozent der europäischen Investitionen in die Forschung und Entwicklung in der Automobilindustrie auf Deutschland, 12 Prozent auf Frankreich und 10 Prozent auf Italien. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung sind beträchtlich: Der Anteil der französischen und italienischen Exporte an der dortigen Beschäftigung ist in den letzten Jahren zurückgegangen, der Anteil der deutschen Exporte an der dortigen Beschäftigung ist nahezu konstant geblieben. Generell schafft die Automobilindustrie in Europa immer mehr Arbeitsplätze in den osteuropäischen Ländern und in Deutschland und immer weniger in den südeuropäischen Ländern.

Die weiteren Aussichten sind nicht minder besorgniserregend: Während die deutsche Industrie mit politischer Unterstützung ihrer Regierung Industrie 4.0 vorantreibt, die ein außerordentliches technologisches Wachstum verspricht, besteht die Gefahr, dass die Länder Südeuropas überhaupt keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu den Innovationen haben, die durch diese Investitionen hervorgerufen werden. Das führt zu einem weiteren Auseinanderfallen im technologischen Bereich, was wiederum die europäische Wirtschaftsintegration hemmt.

Die Europäische Währungsunion und ihre Sachzwänge

All dies geschieht im wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Rahmen einer Europäischen Währungsunion, die für diesen Prozess des Auseinanderdriftens eine Verantwortung trägt. Sie hat dafür gesorgt, dass die leistungsfähigeren Länder eine unterbewertete Währung und die weniger effizienten Länder eine überbewertete Währung haben. Das hat wiederum zur Stärkung der Produktionsstruktur Deutschlands und zu seinen Handelsüberschüssen geführt.

Darüber hinaus hat die deutsche Politik des Lohndrückens dazu beigetragen, die bereits durch den Euro erzielten Wettbewerbsvorteile durch eine weitere Senkung der Produktionskosten und die Verringerung der Binnennachfrage zum Nachteil der Konsumgüter exportierenden Länder, insbesondere in Südeuropa, zu steigern. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die explosionsartige Zunahme von Armut und Ungleichheit in Deutschland (die Quote der von Armut bedrohten Arbeitnehmer und Rentner in Deutschland liegt weit über dem Durchschnitt des Euroraums) zu einer quantitativen und qualitativen Veränderung des Konsums der privaten Haushalte beigetragen hat: Von der Nachfrage nach Importen von Konsumgütern profitiert zunehmend weniger die europäische Produktion und immer mehr die billigere, qualitativ schlechtere chinesische Produktion.

Auf der südeuropäischen Seite, die im Vergleich zu Deutschland weniger wettbewerbsfähig ist, haben das Fehlen einer staatlichen Politik, die die nationalen Industrien auf einen Weg der Spezialisierung und der produktiven Diversifizierung bringen kann, sowie die Unmöglichkeit, einen Wettbewerbsnachteil durch Währungsabwertung wieder auszugleichen, dazu geführt, dass die Produktionskosten, insbesondere die Löhne, gedrückt wurden, um die Wettbewerbslücken zu schließen und die Handelsdefizite zu verringern. Dieser Anpassungsprozess ist jedoch auf mehrere Hindernisse gestoßen. Neben dem deutschen Lohndrücken, das diesen Konkurrenzkampf zusätzlich verschärfte, förderte der Zufluss von Kapital, insbesondere von deutschem Kapital (das nicht zuletzt aus deutschen Handelsüberschüssen resultierte), in den Ländern Südeuropas die Entstehung von Immobilienblasen, die die Inflation und die Importe in diesen Ländern ansteigen ließen. Als diese Blasen parallel zur Finanzkrise 2008 platzen, traf der Nachfragerückgang die südeuropäischen Länder viel stärker als Deutschland, das inzwischen seine Umsätze in China und Indien gesteigert hatte und seine Importe nun aus Osteuropa bezog. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Deutschland und die Länder Osteuropas eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber der Krise gezeigt haben als die Länder Südeuropas.

Welche Konsequenzen für Europa? Welcher Ausweg aus der Krise?

Die Preisgabe staatlicher Industriepolitik in den Ländern Südeuropas und die nicht funktionierende Europäische Währungsunion haben einen Prozess des industriellen Auseinanderdriftens in großem Maßstab ausgelöst. Diese strukturellen Unterschiede lassen sich nur sehr bedingt auf die Arbeitskosten reduzieren. Daher wird der ausgleichende Effekt der »Strukturreformen« von vornherein stark reduziert, da diese nur unwesentliche Auswirkungen auf die kostenseitige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Länder haben und daher die strukturelle Situation dieser Länder kaum beeinflussen. Wirkliche Auswirkungen hätte nur eine Politik des radikal verschärften Lohndrückens, deren negativen gesamtwirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen die Wettbewerbsgewinne bei Weitem übersteigen würden. Im Falle Deutschlands, dem einzigen europäischen Land, in dem die Reallöhne schon vor der Krise von 2008 zurückgingen, wirkte sich die Politik des Lohndrückens, begleitet von industriellen Umstrukturierungen in den hoch technologisierten Sektoren mit hoher Wertschöpfung, maßgeblich auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes aus. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch eine der höchsten Armutsraten in Europa und eine explosionsartige Zunahme der Ungleichheit. Wenn sich jedoch alle südeuropäischen Länder in einen Prozess des Lohndrückens begeben, ohne dabei ihre Industrie hinsichtlich Spezialisierung und Diversifizierung neu auszurichten, würden »Strukturreformen« einzig und allein dazu führen, dass sich diese Länder auf Niedriglohnsektoren konzentrieren, also in Bereichen mit geringer Innovation und geringer Wertschöpfung ihren Schwerpunkt setzen. Es besteht die Gefahr, dass die qualitative Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den weiter fortgeschrittenen Industrieländern beeinträchtigt wird, ohne dass dabei die kostenseitige Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Schwellenländern deutlich verbessert würde, was letztlich nur zu einem allgemeinen Anstieg von Ungleichheit und Armut führen würde.

Es ist daher unbedingt notwendig, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, der durch die Prekarisierung und Verarmung der Beschäftigten eine Krise der Binnennachfrage auslöst, ohne dabei die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, und dann wieder neue deflationäre Politiken rechtfertigt und legitimiert, die in einen endlosen Wettlauf nach unten führen. Zudem hat der Markt gezeigt, dass er nicht in der Lage ist, die Ungleichheiten im Wohlstandsniveau und in der Entwicklung der europäischen Länder zu verringern. Dies kann nur durch eine politische Koordinierung der verschiedenen staatlichen Politiken erfolgen. Die wirkliche Strukturpolitik, die Europa braucht, ist eine Industriepolitik, die darauf abzielt, die Kapazitäten in der Produktion und die Innovationsleistung in den Sektoren zu stärken und auszubauen, in denen diese Länder noch über ein erhebliches Fachwissen und einen Bestand an erworbenen Kenntnissen verfügen.

Trotz der zahlreichen Bemühungen neoliberaler Ökonomen, den öffentlichen Sektor als von Natur aus ineffizient und die öffentliche Politik als rein preistreibend darzustellen, bleibt die Industriepolitik eines der wichtigsten Instrumente, die den Regierungen zur Verfügung stehen, um Investitionen und Innovationen auf die dynamischsten Branchen umzuleiten oder sogar neue Wirtschaftszweige und Märkte zu schaffen. Dies zeigen insbesondere die Vereinigten Staaten, deren technologischer Erfolg weitgehend auf die massiven staatlichen Investitionen zurückzuführen ist, die die Regierung in den letzten Jahrzehnten finanziert hat, insbesondere während des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion. Eine wirksame Industriepolitik lenkt die Investitionen auf bestimmte Sektoren, indem sie die Schaffung von Netzwerken zwischen einander ergänzenden öffentlichen und privaten Wirtschaftszweigen sicherstellt, Investitionen und Innovationen privater Unternehmen fördert, öffentliche Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf den Weg bringt und die Nachfrage in den Industriezweigen erhöht, die in diesen Sektoren produzieren.

Als IBM zum Weltmarktführer für Computerprozessoren wurde, stand die amerikanische Bundesregierung ganz oben in den Auftragsbüchern, während der italienische Konkurrent Olivetti nicht auf eine vergleichbare öffentliche Nachfrage bauen konnte: Der einzige Olivetti-Computer, der der italienischen Verwaltung zur Verfügung stand, war ein Geschenk von Adriano Olivetti an das Finanzministerium. Industriepolitik kann sich daher nicht auf Steuererleichterungen für Unternehmen beschränken, die in Forschung und Entwicklung investieren oder - wie im Falle des Programms »Industrie 4.0« der italienischen Regierung - ihr Kapital durch den Kauf neuer, effizienterer Maschinen aufwerten. Es ist vielmehr wichtig, Synergieeffekte zwischen den verschiedenen Bereichen der öffentlichen Politik zu schaffen.

Eine glaubwürdige Industriepolitik passt aufgrund ihrer widersprüchlichen Anforderungen nicht gut zu »Strukturreformen«: Einerseits sollen die Unternehmen ermutigt werden, Investitionen zu tätigen, um Steigerungen der Produktivität und Qualität zu erzielen, und andererseits sollen die Unternehmen ermutigt werden, auf der Grundlage der Kosten zu konkurrieren, indem die Arbeitskosten und Steuereinnahmen gesenkt werden. Eine Handelspolitik, die darauf abzielt, Importe in Sektoren zu ersetzen, die stark von importierten Vorprodukten abhängig sind, eine Regionalpolitik, die darauf abzielt, Netzwerke lokaler Unternehmen zu schaffen, die in der gleichen Wertschöpfungskette tätig sind, und eine Steuerpolitik, die darauf abzielt, die Endnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen insbesondere durch das öffentliche Beschaffungswesen zu unterstützen, sind als Programm zur industriellen Umstrukturierung und Erneuerung sowie zur Schaffung stabiler Arbeitsplätze gut geeignet. Es stellt sich die Frage, ob solche Politiken innerhalb des wirtschaftlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Währungsunion möglich sind, die eine selbstmörderische Strategie der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte als einziges Instrument zur Korrektur von Wettbewerbslücken und Handelsungleichgewichten kennt, vorschreibt und fördert.

Der Vorschlag, einen Mechanismus zur automatischen Anpassung der Löhne an die Handelsüberschüsse einzuführen, der die strukturelle Anhäufung von Überschüssen und Defiziten innerhalb des Euroraums verhindert hätte, ganz ohne Strukturreformen und Sparpolitiken durchzuführen, hat in den europäischen institutionellen Kreisen keinerlei Anklang gefunden und ist zu den Akten gelegt worden. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und die Liberalisierung der Finanzmärkte machen es zudem unmöglich, staatliche Maßnahmen umzusetzen, da die Staaten ständig von einem spekulativen Angriff auf die Staatsverschuldung oder von Kapitalflucht bedroht sind. Doch es ist nicht der Wettlauf um den niedrigsten sozialen Standard und das Vertrauen in die Tugenden des freien Marktes, der es den europäischen Ländern ermöglichen wird, einen Weg des nachhaltigen Wachstums und der nachhaltigen Entwicklung einzuschlagen. Noch weniger wird die immer dringendere ökologische Transformation, die ja massive öffentliche Investitionen erfordert, auf diese Weise gelingen. Wenn die Strategie der Europäischen Kommission weiterhin »jeder für sich selbst und Gott für alle« lautet, dann ist es nur logisch, dass die Länder Südeuropas rasch auf einen koordinierten Ausstieg aus dieser, für sie tödlichen, Währungsunion hinarbeiten.

Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog der »Economistes atterés” auf der Plattform der Zeitung «Libération” unter: http://leseconomistesatterres.blogs.liberation.fr/2018/01/30/les-reformes-structurelles-un-malentendu-sur-le-concept-de-structure/. Die Übersetzung fertigte Martin Ahrens an.

Federico Bassi ist Doktorant der Volkswirtschaftslehre an der Universität Paris 13 und Mitglied des Kollektivs der »Economistes atterrés«.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/strukturreformen-in-europa-ein-falsch-verstandener-strukturbegriff--2200.html   |   Gedruckt am: 25.04.2024