Fünf wirtschaftspolitische Kriterien, an denen eine anti-neoliberale Politik der SPD zu messen wäre

14. Dezember 2017 | Kai Eicker-Wolf, Patrick Schreiner

Es waren markige Worte, die der SPD-Vorsitzende Martin Schulz im Oktober in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ sprach:

Wir müssen wieder den Mut zur Kapitalismuskritik fassen. Diese Unterwerfung der europäischen Sozialdemokratie, der progressiven Kräfte weltweit unter diese These, es gehe nicht mehr ums System, sondern nur noch um die Verteilung der Effekte im System, der Geist, den seinerzeit beispielsweise das Schröder/Blair-Papier atmete, der ist und bleibt eine der Ursachen für unsere Krise.

Und kurz danach:

Die SPD muss sich nicht nur symbolisch vom Neoliberalismus verabschieden.

In ähnlicher Weise deutete auch Andrea Nahles ihren Willen an, die SPD nach links zu öffnen und eine kritischere Haltung zum Kapitalismus (wieder-)zufinden:

Die SPD muss wieder lernen, den Kapitalismus zu verstehen und, wo nötig, scharf zu kritisieren.

Auch in seiner jüngsten Parteitagsrede hat Martin Schulz das Thema aufgegriffen. Man darf gespannt sein, wieviel von dieser Kapitalismus- und Neoliberalismus-Kritik in einer möglichen Großen Koalition noch übrig sein wird. Woran aber erkennt man, ob die SPD tatsächlich zumindest eine gegen den Neoliberalismus gerichtete Politik vertritt und umsetzt? Es dürfte wenig ergiebig und wenig zielführend sein, als „Beleg“ für den Wandel der Partei ein permanentes Distanzieren von den Sünden der Vergangenheit – Agenda 2010, Riester-Rente, Rente mit 67, Hartz IV, ÖPP, TTIP, CETA usw. – zu verlangen. Sinnvoller erscheint es uns, nach vorne zu blicken. Wir schlagen fünf wirtschaftspolitische programmatische Kriterien vor – ohne Anspruch auf Vollständigkeit fünf grundlegende Anforderungen an eine zukünftige SPD-Politik, wenn diese tatsächlich anti-neoliberal sein will:

1. Die volkswirtschaftliche Nachfrage in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stellen

Es wird Zeit, dass sozialdemokratische Wirtschaftspolitik (wieder) nachfragetheoretisch argumentiert und offensiv für eine Stärkung der Binnennachfrage eintritt.

Im Neoliberalismus gilt nicht die Nachfrage als relevant, vielmehr stehen die einzelwirtschaftlichen Interessen der Unternehmen im Zentrum. Was für das einzelne Unternehmen gut sei, sei für das Land und die Menschen gut. Man spricht von „Angebotspolitik“ – in Abgrenzung zur „Nachfragepolitik“. Die dahinterstehende Logik lautet: Erst als Folge wirtschaftlicher „Erfolge“ können – in einem zweiten Schritt – Löhne und Staatsausgaben finanziert werden. Erst müssen Einkommen (durch Unternehmen) erwirtschaftet werden, dann können sie (an Beschäftigte und Staat) verteilt werden.

Wirtschaftspolitik, die volkswirtschaftliche Nachfrage ins Zentrum rückt, verwirft diese Vorstellung als schlichtweg falsch. Sie betont stattdessen gerade die ökonomische Bedeutung von Staatsausgaben und Löhnen als Vorbedingungen für Wohlstand und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Sie versteht Staatsausgaben und Löhne als zentrale Komponenten der Binnennachfrage. Staatsausgaben haben überdies die Aufgabe, in Krisenzeiten die Gesamtwirtschaft zu stabilisieren. Kommt es zu einem Konjunkturabschwung, muss der Staat seine Ausgaben ausweiten, um so den Rückgang anderer Nachfragegrößen – zum Beispiel der Auslandsnachfrage – zu kompensieren (etwa in "Konjunkturpaketen"). Außerdem muss die öffentliche Hand zahlreiche Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die nur sie in gesellschaftlich notwendigem Umfang bereitstellen kann – zu denken ist etwa an die öffentliche Infrastruktur sowie die Bereiche Bildung, Verkehr und Gesundheit.

Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik setzt auf höhere Löhne (einschließlich höherer Sozialbeiträge, die aus volkswirtschaftlicher Perspektive gleichfalls Löhne sind) und höhere Staatsausgaben – und ignoriert, dass dies den Unternehmen aus ihrer einzelwirtschaftlichen Sicht unter Umständen nicht gefallen mag. Und anti-neoliberale Wirtschaftspolitik hat ein Gespür für die Verteilung von Einkommen und Vermögen (und deren ökonomischen Konsequenzen). Sie setzt auf weitreichende Umverteilung von oben nach unten – nicht in erster Linie aus moralischen Gründen, sondern weil Menschen mit niedrigeren Einkommen einen größeren Teil ihres Einkommens für den Konsum ausgeben, also mehr Nachfrage generieren. Gleichwohl hat eine solche Positionierung auch eine wichtige gesellschaftspolitische Komponente: Sie verlangt das bedingungslose Eintreten für die Interessen der abhängig Beschäftigten ebenso wie ein Bewusstsein für die Interessengegensätze in einer kapitalistischen Gesellschaft.

2. Jeden Wettbewerb unterbinden, in dem Unternehmen Vorteile durch niedrigere Löhne oder schlechtere Arbeitsbedingungen für sich ausnutzen können

Es wird Zeit, dass sozialdemokratische Wirtschaftspolitik ausschließlich auf Wettbewerb um Qualität und Effizienz setzt – und Wettbewerb um niedrige Löhne oder schlechte Arbeitsbedingungen auf allen Ebenen strikt unterbindet.

Neoliberale sehen faktisch jeden Wettbewerb als gut an. Selbst wenn Unternehmen Wettbewerbsvorteile genießen, weil sie ihren Beschäftigten niedrigere Löhne zahlen oder schlechtere Arbeitsbedingungen bieten, begrüßen Neoliberale dies. Arbeitsmarkt-Flexibilisierung, Missachtung von Tarifverträgen, Leiharbeit, Missbrauch von Werkverträgen, Auslagerungen, Offshoring, Privatisierungen – die Logik dahinter ist stets die gleiche: Wer billiger produziert, weil er seinen Beschäftigten (oder den Beschäftigten seiner Subunternehmen) weniger bezahlt, hat gegenüber konkurrierenden Unternehmen die Nase vorn.

Wirtschaftspolitisch vernünftig ist dies nicht. Sinnvoller ist es vielmehr, Wettbewerb dort zu entfachen, wo er sinnvoll ist: Als Wettbewerb um gute Produkte und als Wettbewerb um Effizienz bzw. Produktivität. Dies setzt voraus, dass alle Unternehmen einer Branche die gleichen Löhne bezahlen und die gleichen Arbeitsbedingungen bieten. Erst dann nämlich sind sie gezwungen, sich durch Qualität und Effizienz durchzusetzen. Außerdem schädigt eine solche Politik nicht die Löhne als wichtigste Komponente der Binnennachfrage.

Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik setzt daher auf Maßnahmen, die geeignet sind, Wettbewerb um niedrige Löhne und Arbeitsbedingungen zu unterbinden – und zwar national wie auch international. National leisten dies in erster Linie Tarifverträge. Sie sind zu stärken, etwa durch ihre Allgemeinverbindlicherklärung und durch die Stärkung von Gewerkschaften. Generell ist alles zu unterlassen, was Tarifverträge schwächt. Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik lässt daher die Finger von Auslagerungen und Privatisierungen, ja versucht sogar, sie zu unterbinden. Sektoren, in denen Wettbewerb im Wesentlichen als Wettbewerb um niedrige Löhne stattfindet, führt sie wenn nötig (wieder) in öffentliches Eigentum bzw. öffentliche Leistungserbringung über (etwa öffentlicher Verkehr, Post und Gesundheitswesen). Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik verbietet Leiharbeit und unterbindet den Missbrauch von Werkverträgen. Durch hohe Sozialleistungen sorgt sie nicht nur für volkswirtschaftliche Nachfrage, sondern stärkt sie auch Beschäftigte. International kann und muss ein Wettbewerb um niedrige Löhne und Arbeitsbedingungen durch Handelsverträge ausgeschaltet werden. Anti-neoliberaler Politik dienen Handelsverträge daher dazu, Standards bei Löhnen, Sozialstaatlichkeit und Arbeitsbedingungen in verschiedenen Ländern auf dem jeweils höchsten (!) Niveau anzugleichen. Marktöffnung, Investitionsschutz, Zollsenkung, Kapitalverkehrsfreiheit usw. sind hingegen keine Ziele anti-neoliberaler Wirtschaftspolitik. (TTIP, CETA, JEFTA & Co. entsprechen diesen anti-neoliberalen Kriterien erkennbar nicht.)

3. Unternehmensinvestitionen als abhängig von der Nachfrageentwicklung verstehen

Es wird Zeit, dass sozialdemokratische Wirtschaftspolitik eine realistische Vorstellung davon entwickelt, was die Gründe für Unternehmensinvestitionen sind.

Im Neoliberalismus sollen die Bedingungen für Unternehmen möglichst günstig gestaltet werden, sodass deren Kosten niedrig sind. Dies wiederum soll dazu führen, dass Unternehmen mehr investieren und Arbeitsplätze schaffen. In diesem Sinne wurden in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern – auch in Deutschland – Löhne ausgebremst, Gewerkschaften geschwächt, Arbeitsmärkte flexibilisiert, der Kündigungsschutz abgebaut, Steuern und Abgaben gesenkt und vieles mehr.

Nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Industrieländern hatte dies allerdings nicht höhere, sondern niedrigere Unternehmensinvestitionen zur Folge. Kein Wunder: Wer hätte denn die Produkte kaufen sollen? Und warum sollten Unternehmen investieren, wenn sie die damit einhergehende Mehrproduktion nicht absetzen können? Unternehmen investieren, wenn sie durch die Investitionen Profite erwarten. Die machen sie aber nur, wenn der Ansicht sind, dass sie ihre Waren und Dienstleistungen auch absetzen können. Was wiederum eine entsprechende Nachfrageerwartung voraussetzt.

Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik macht daher das genaue Gegenteil von neoliberaler Wirtschaftspolitik: Sie stärkt die volkswirtschaftliche Nachfrage durch höhere Löhne, höhere Sozialleistungen und höhere Staatsausgaben. Dabei verteilt sie von oben nach unten um – denn ärmere Haushalte geben einen größeren Teil ihres Einkommens für den Konsum aus als reiche.

4. Staatsausgaben und Staatsverschuldung als Instrumente zur Steuerung von Märkten, von Investitionen und von volkswirtschaftlicher Nachfrage nutzen

Es wird Zeit, dass sozialdemokratische Wirtschaftspolitik (wieder) die zentrale ökonomische Rolle des Staates erkennt und ernst nimmt.

Für Neoliberale sind der Staat und das Öffentliche ein Unding: Sie sind teuer, greifen ungebührlich in die Märkte ein, verfälschen damit Marktergebnisse und sorgen für Ineffizienz, Arbeitslosigkeit und Wohlstandsverluste. Die ökonomische und politische Begründung solcher Ansichten steht dabei eher auf tönernen Füßen, es dominieren vielmehr moralisierende Argumente: Der Staat als das schlechthin und prinzipiell Böse, dem mit den Märkten das schlechthin und prinzipiell Gute gegenüberstehe. Allenfalls in begrenzten Teilbereichen – in der Regel Justizwesen, Polizei und öffentliche Verkehrsinfrastruktur – sehen Neoliberale legitime Handlungsspielräume für den Staat und das Öffentliche. Und selbst dort wollen sie staatliches Handeln strikten Grenzen unterwerfen: durch Schuldengrenzen, durch niedrige Steuern und durch die bestmögliche Anwendung von Marktprinzipien.

Wirtschaftspolitisch vernünftig wäre demgegenüber eine nüchterne Herangehensweise, die nicht (ideologisch motiviert) angebliche Grenzen staatlichen und öffentlichen Handelns in den Vordergrund stellt, sondern die Stärken des Öffentlichen anerkennt. Der Staat ist nicht nur dafür da, Leistungen zu erbringen, die an Märkten nicht oder nicht ausreichend erbracht würden. Und er ist nicht nur dafür da, ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe für alle zu gewährleisten. Er ist vielmehr auch und vor allem dafür da, Märkte, Investitionen und volkswirtschaftliche Nachfrage im allgemeinen Interesse zu steuern. Dies tut er, indem er durch steuerpolitische Maßnahmen von oben nach unten umverteilt, in öffentliche Infrastruktur investiert, Grundlagenforschung finanziert, einen Wohlfahrtsstaat sowie einen öffentlichen Beschäftigungssektor mit guten Löhnen und guten Arbeitsbedingungen unterhält, schädlichen Wettbewerb unterbindet sowie Arbeits- und Produktmärkte reguliert. Und da (Staats-) Verschuldung eine wichtige volkswirtschaftliche Funktion erfüllt, sind öffentliche Verschuldungsmöglichkeiten eine wesentliche Voraussetzung für staatliche Handlungsfähigkeit.

Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik stellt den Staat und das Öffentliche in den Mittelpunkt ihres Handelns. Daneben haben Märkte und Privatunternehmen ihren Platz – soweit sie dem Allgemeinwohl dienen. Damit sie dies tun, werden sie reguliert und progressiv besteuert. Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik nutzt ferner antizyklisch das Instrument der Staatsverschuldung; sie spricht sich mithin gegen Schuldenbegrenzungsregeln (wie Schuldenbremse und Fiskalpakt) aus. Anti-neoliberale Handelsverträge dienen der internationalen Regulierung von Arbeits-, Produkt- und Finanzmärkten.

5. (Insbesondere deutsche) Exportüberschüsse als zentrales Problem der Eurozone und des Welthandels erkennen

Es wird Zeit, dass sozialdemokratische Wirtschaftspolitik die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Welthandel – und das dahinterstehende Konkurrenzprinzip – als problematisch erkennt und abbaut.

Neoliberale glauben an den Segen von Markt und Konkurrenz. Dies bezieht Konkurrenz auf internationaler Ebene ausdrücklich ein: Staaten sollen insbesondere um Unternehmensinvestitionen konkurrieren und hierfür möglichst günstige Bedingungen bieten – also „Strukturreformen“, niedrige Löhne, niedrige Sozialbeiträge, niedrige Steuern, niedrige Umweltstandards, niedrige Regulierungen usw. Jedes Land versucht in einem solchen Umfeld, die eigene Nachfrage zu drücken (denn diese bedeutet für Unternehmen ja Kosten) und stattdessen von der Nachfrage aus anderen Ländern zu profitieren. Folgerichtig gelten Exportüberschüsse – also mehr ins Ausland zu exportieren, als man selbst importiert – als Ausweis erfolgreicher Wirtschaftspolitik. Insbesondere Deutschland feiert sich seit vielen Jahren für seine enormen Überschüsse und gilt vielen Neoliberalen als Vorbild. Eine solche Wirtschafts- und Handelspolitik destabilisiert aber den internationalen Handel. Dies ist in den letzten Jahren insbesondere und beispielhaft an der Eurozone deutlich geworden: Dauerhafte Exportüberschüsse der einen Länder bedeuten notwendig Defizite der anderen, was auf Dauer nicht gutgehen kann. Es kommt (und kam) zu gravierenden Verwerfungen und ökonomischen Krisen. Diese wurden noch verschärft, weil nicht das Konkurrenzprinzip und Außenhandels-Ungleichgewichte, sondern angeblich mangelnde „Strukturreformen“ und Staatsverschuldung als Problem behauptet und durch eine falsche Krisenpolitik bekämpft wurden.

Sinnvoller wäre es gewesen (und wäre es weiterhin), auf einen Ausgleich der Außenhandelssaldi zu setzen – durch eine entsprechende Ausweitung der volkswirtschaftlichen Binnennachfrage in den Überschussländern, allen voran in Deutschland. Und durch entsprechende verbindliche Vorgaben in den europäischen und weltwirtschaftlichen Regelwerken.

Anti-neoliberale Wirtschaftspolitik schränkt ökonomische Konkurrenz zwischen Staaten massiv ein und setzt stattdessen auf Kooperation. Sie strebt nach ausgeglichenen Außenhandelssaldi, die sie durch eine entsprechende Nachfragepolitik vor allem auf Seiten der Export-Überschussländer herbeiführt: durch eine Ausweitung der Binnennachfrage, allen voran durch höhere Löhne und höhere staatliche Ausgaben.

Statt eines Fazits: Protestpartei versus Verantwortungspartei?

Der Historiker Prof. Jürgen Kocka, Mitglied im Beirat der historischen Kommission der SPD, gab am 12. Dezember Deutschlandfunk Kultur ein Interview - mit einer prägnanten Äußerung, die vielleicht typisch ist für das inhaltliche Elend der deutschen Sozialdemokratie:

Die SPD ist eben immer zweierlei. Sie ist eben einerseits eine ganz wichtige gesellschafts- und staatstragende Partei, am Gemeinwohl orientiert. [...] Auf der anderen Seite ist sie eine Partei, die Protesthaltungen Ausdruck gibt, die Kritik zu ihrem Markenzeichen gemacht hat, die die Gegenwart auf ihre Unvollkommenheiten hin abtastet und fordert. Und diese beiden Rollen zu verbinden, das gelingt nicht immer. Weil sie die Partei der Kritik und auch des Protestes sein will, fällt es ihr schwer, ihre eigenen Leistungen zu plakatieren und damit in die Wahlkämpfe hineinzugehen. Weil sie gleichzeitig eben Verantwortung für den Gesamtstaat immer wieder auf sich nimmt, fällt es ihr andererseits schwer, Protest zu formulieren. Diese Quadratur des Zirkels gelingt manchmal besser, manchmal schlechter. Und in den letzten Jahren ist sie nicht sehr gut gelungen.

Kocka macht hier einen Gegensatz auf, der uns typisch zu sein scheint für das sozialdemokratische Denken der letzten 20 Jahre: Einen Gegensatz zwischen Protest und Verantwortung, zwischen Gemeinwohlorientierung und parteilicher Interessenvertretung , zwischen Regierungspflichten und Neigung zur scharfen Kritik an den Verhältnissen. Wir halten diese Gegenüberstellung für falsch und damit zugleich für das Kernproblem sozialdemokratischen Denkens, jedenfalls soweit es wirtschaftspolitische Fragestellungen betrifft. Denn nur, wenn man Regierung und staatstragende Haltung gleichsetzt mit der Übernahme neoliberaler Politikelemente, kann sozialdemokratische Kritik und Protest dazu im Widerspruch stehen. Das vermeintliche Dilemma der SPD, das Kocka als ur-sozialdemokratisch beschreibt, ist tatsächlich nur ein Dilemma, weil Kocka (und die Parteimehrheit) Gemeinwohl und politische Verantwortung de facto mit der Umsetzung neoliberaler Politik gleichsetzen - mit Lohnzurückhaltung, Beitragssatzstabilität, Arbeitsmarktflexibilität, Freihandel, ausgeglichenen Staatshaushalten und Ähnlichem. Dass er diese Gleichsetzung vornimmt, macht ironischerweise Kocka in diesem Interview selbst deutlich: Er nennt die Agenda 2010 als ein Beispiel für den staatstragenden Charakter der SPD, für ihre Orientierung an eben diesem „Gemeinwohl“.

Eine Politik hingegen, wie wir sie beschrieben haben, eine Politik also, die aus guten ökonomischen Gründen auf Umverteilung von oben nach unten setzt, die für abhängig Beschäftigte und gegen die Interessen des Kapitals eintritt – eine solche Politik steht mitnichten im Gegensatz zu Protest und Kritik. Ganz im Gegenteil wäre sie sogar auf scharfe Kritik und Protest angewiesen – Kritik an den neoliberalen Verhältnissen nämlich, die notwendig ist, um die ökonomisch und gesellschaftlich notwendigen, anti-neoliberalen Veränderungen durchzusetzen.

Kai Eicker-Wolf ist Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftssekretär.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/fuenf-wirtschaftspolitische-kriterien-an-denen-eine-anti-neoliberale-politik-der-spd-zu-messen-waere--2153.html   |   Gedruckt am: 28.03.2024