Rezension

Rezension: Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge

21. November 2016 | Johanna Bröse

Flüchtlingskrise treten Machtverhältnisse, wirtschaftliche Interessen sowie Prozesse der Entdemokratisierung und Dehumanisierung in Deutschland und Europa unerbittlich zutage.

Provinzbürgermeister Boris Palmer hat ein über die grünen Stadtgrenzen hinaus bekanntes Hobby: Er postet und kommentiert bei Facebook mit unfassbarer Penetranz alles, was ihm in seinem Mikrokosmos als halbwegs relevant und aufregend erscheint. Wir sehen uns 24 Stunden im Leben eines Bürgermeisters an: Freude über neues Bauland für ein neues Großprojekt, kommunalpolitischer Stolz über ein Riesenplakat mit dem Slogan „Wir schaffen das!“ zur Energiewende in Tübingen, Erstaunen über etwas, das sich „Pumptrack“ nennt („bis gerade eben hatte ich keine Ahnung, was das ist. Aber es ist geil“.), ein Selfie vom Familientag. Wohlstand, Selbstsicherheit, Spaß und Mensch-sein-Dürfen: Es scheint alles heiter und sonnig zu sein in Palmerland.

Aber natürlich ist das nicht immer so. Das Wetter schlägt um, wenn es diese Privilegien abzusichern gilt. Unter der Rubrik „Realismus in der Flüchtlingsdebatte“ ist der Grünen-Schultes vorne mit dabei, wenn es darum geht, die europäischen Außengrenzen mit Waffengewalt zu sichern, Obergrenzen einzuführen, geflüchtete Menschen nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien einzuordnen und „blonde Töchter“ von grünen Professoren vor „arabischen Männern“ zu schützen. Jüngst begann ein Posting mit dem Satz „Ich habe eine aufwühlende Stunde in einer Flüchtlingsunterkunft hinter mir“. Palmer konstatiert darin, es falle ihm nach Sichtung der Lage „ungeheuer schwer, mir vorzustellen, wie wir diese Menschen in unsere Gesellschaft, unser Bildungssystem, unseren Arbeitsmarkt integrieren sollen“. Die Menschen dort sollten dankbar sein, aber stattdessen habe „eine dubiose Gruppe von Linksautonomen die Flüchtlinge aufgewiegelt und ihnen wohl den Eindruck gegeben, durch öffentlichen Druck könnten sie die Halle schneller verlassen“. Er erhält für seine Aussagen Zustimmung: vor allem aus rechtspopulistischen und nationalkonservativen Lagern (Frauke Petry, Beatrix von Storch, der Kopp-Verlag, zahllose AfD-Ortsverbände teilen den Beitrag), aber auch aus SPD und CDU und aus den eigenen Parteireihen. Es ist ein Ausdruck davon, warum in der aktuellen Asyldebatte die einstigen Lagergrenzen zwischen den etablierten Parteien verschwimmen: Man ist sich zumindest darin einig, die Privilegien der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft gegenüber Nicht-Zugehörigen zu verteidigen – koste es, was es wolle. Diese machtvollen Diskurse, die über Integration und Ausschluss, über Militarisierung und Nationalisierung geführt werden, fügen sich zu einer Gesamtheit, einem viele Elemente umfassenden Netz, zusammen. Über dieses Netz – Foucault spricht hier von einem „Dispositiv“ – haben Markus Metz und Georg Seeßlen ein Buch geschrieben.

Der Band entstand „im Zorn“, wie die beiden in ihrem Vorwort vermerken. Und das ist auch im Aufbau sichtbar. Gezeichnet wird ein Bild der aktuellen Verhältnisse in fünf Essays mit Prolog und Epilog auf knapp 250 Seiten. Sie setzen sich darin mit dem Projekt Europa, den Verhältnissen in Deutschland insbesondere im Umgang mit Geflüchteten, der Frage von Identitäten, einem Spezialblick auf bayrische Verhältnisse und nicht zuletzt mit Europa im Krieg auseinander. Dazwischen finden immer wieder ganz unterschiedliche Bezugnahmen auf Theorien von Foucault, Agamben, Badiou und andere statt; spezifische Begrifflichkeiten werden dabei zumeist halbwegs verständlich eingeführt. Man folgt den Autoren in ihrer eigenen Suche nach Erklärungen. Heraus kommen manchmal sehr ausgereifte Gedankengänge, andere Male bleiben Themen nur fragmentarisch oder sind abstrakt und widersprüchlich. Die einzelnen Essays sind auch Zeugnisse von Trauer und moralischem Pathos. Man merkt, dass sich im Prozess wohl auch einige Utopien der Autoren verabschiedet haben.

Europäischer Ausnahmezustand

Palmerland ist auch eine Provinzparabel für die Verhältnisse in Europa selbst. Man fragt sich: Feiert sich dieses Europa eigentlich noch immer so richtig, oder kann es sich langsam „selbst kaum mehr ertragen“ (S. 9)? Metz und Seeßlen sind der Meinung, dass sich Europa nicht als kultureller und politischer Fortschritt, sondern als „barbarischer, korrupter und amoralischer Rückschritt“ realisiert – es sei nur mehr eine „verfallende Festung von Begünstigten, die nicht einmal ihre Privilegien genießen können“ (S. 11). Die Autoren fassen Europa als einen Souverän auf, von dem unterschiedliche Institutionen nutznießen und der nicht greifbar ist. Europa als „Fata Morgana“ (S. 13). Sie gehen den Trugbildern von Europa nach: Wie es sich darstellt als Projekt der Vernunft, als Projekt der Einschließung und Ausschließung, als Projekt „ökonomischer Exaltation“ (Erhöhung) (S. 17). Bei letzterem betonen die Autoren im Hinblick auf Geflüchtete insbesondere ihren Nutzen für wirtschaftliche Interessen: Sie dienen nicht nur als Arbeitskräfte, die als industrielle Reservearmee ausgebeutet werden können, sondern auch dafür, die Maske der Vielfalt und Diversität transnationaler Unternehmen aufrechtzuerhalten und damit das eigene Ansehen zu erhöhen.

Mit der Bezugnahme auf Einschließung und Ausschließung geht es den beiden Autoren darum, zu zeigen, dass unentwegter Ausschluss und Selektion feste Bestandteile des Neoliberalismus sind und sich auch tief in den individuellen Verhaltensweisen der Menschen verwurzelt haben. Frei nach dem Motto: Nur wenn du selbst ausschließen kannst, bist du noch nicht ganz unten. Systemseitig sieht das dann so aus, dass man von Bildung ausschließt, wer sich nicht „in die Teilung von Eliten und Bedeutungslosen fügt“ (S. 39), man schließt vom Markt diejenigen aus, die nicht genügend Profit bringen, und jene von Arbeit, die sich nicht an den neoliberalen Leistungszwang samt (Selbst-)Ausbeutung anpassen. Auf nationaler beziehungsweise europäischer Ebene werden dann eben nicht nur Menschen ausgeschlossen, sondern gleich ganze Kulturkreise oder Länder. Vermittelt durch die Notwendigkeit für den „Symbolraum Nation“ (S. 46) werden Wirtschaftskriege gegen andere Nationen geführt, um dem Trugbild von Wohlstand und Stabilität eine strategische Richtung zu geben – hin zu „ein(em) entdemokratisierte(n) Europa unter deutscher Hegemonie“ (S. 92).

Eine weitere These der beiden Autoren ist, dass mit dem Verweis auf die Geflüchteten eine Politik des Ausnahmezustands hergestellt und dauerhaft reproduziert wird. Diese diene dem wahren Souverän, der „Marktmacht“ (S. 23), also dem Kapital, bei seinem postdemokratischen Regierungshandeln: „Daher der 'Krieg gegen den Terror', daher 'die Finanzkrise' und nun 'die Flüchtlingskrise'. Der Ausnahmezustand kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn ein Problem nicht gelöst, sondern in serielle Schwingungen versetzt wird" (S. 21). Europa ist also ein Projekt des gewollten Ausnahmezustandes, weil es diesen immer wieder zu Selbstkonstitution benötigt: Es kann damit Krisenmanagement zur allgemeinen Unterhaltung betreiben und die großen Projekte Demokratie, Humanismus, Aufklärung auf ein unbestimmtes „Später“ verschieben.

Demokratie ist für Wohlstand nicht zwingend notwendig

Generell widmen die beiden Autoren der Auseinandersetzung mit Demokratie, Wohlstand und Nation einen großen Raum. Die drei zentralen Begriffe, die, so die beiden, gemeinhin als unhinterfragbare Wahrzeichen gelten, werden als Illusionen entlarvt, die vor allem eine ökonomische Funktion haben. Der Begriff der Demokratie ist längst eine leere Hülse für die Interessensvertretungen des Kapitals geworden. Das Problem, das Geflüchtete angeblich für die demokratische Ordnung darstellen, lässt sich erklären, wenn man die Sache aus der Vogelperspektive betrachtet: Nicht sie, die Hinzukommenden, sorgen für den Zerfall der Demokratie, sondern vielmehr wird in den Reaktionen auf sie sichtbar, dass dieser Zerfall längst schon stattgefunden hat. Wohlstand wird beschrieben als angestrengtes, krampfhaft aufrechterhaltenes „immerwährendes Helene-Fischer-Konzert“ (S. 49), das allerdings seine künstliche und illusionäre Seite zeigt, wenn „Andere“ dazu kommen und das Spektakel hinterfragen. Auch die Nation erhält durch die Geflüchteten eine Art negative Bestätigung: Sie muss, so die Begründung, ja real existieren, wenn man sie gegen die Ankömmlinge verteidigen muss. Künstlich geschaffen wird „der Flüchtling“ damit nicht nur als „Problem“ zur Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands, sondern auch „zur Erzeugung von Bildern, zur Erzeugung eines Blicks“ (S. 32). Demokratie, Wohlstand und Nation fungieren real nur noch als Schlagwörter für die mediale Inszenierung.

Vermittelt über diese Inszenierung wird Politik in Deutschland und Europa „auch und gerade mit den Flüchtlingen gemacht“, mit der „Metapher des Flüchtlings als Futter für den Identitätswahn von ‚imaginierter Gemeinschaft und ‚erfundener Tradition‘“ (S. 158). Metz und Seeßlen sprechen von einer „zähen, aber scheinbar unaufhaltsamen Faschisierung immer weiterer Kreise der Gesellschaften“ (S. 46) und meinen damit nicht nur die offen nationalistischen Bewegungen in unterschiedlichen Ländern. Der Siegeszug der Rechten (der durch den Verrat der Sozialdemokratie an den „kleinen Leuten“ vorangetrieben wurde) führte zudem dazu, dass „auch die bürgerlichen und natürlich auch die sozialdemokratischen Parteien in den Jargon der Nationalisten und der Rassisten [verfallen]“ (S. 249). Bezüglich der Protagonisten argumentieren die Autoren manchmal recht krude, etwa, wenn sie von der „geheimen Allianz der Dummen, der Bösen und der Gemeinen“ (S. 243) sprechen, die das politische Subjekt der Postdemokratie darstellen.

Im gesamten Werk schwingt die Trauer um einen europäischen Staatenbund mit, in dem Demokratie, Humanismus und Menschenrechte aufrechterhalten werden: ein funktionierendes Europa, das sich Metz und Seeßlen durchgängig als Idealbild der Hoffnung vorstellen. Einen Vorschlag, wie diese Fantasie Realität werden soll, bleiben sie aber schuldig. Ihre salbungsvolle Bezugnahme auf eine Zivilgesellschaft ist an sehr idealistischen und bürgerlichen Idealen ausgerichtet: „Den Flüchtlingen zu helfen, hier und jetzt, ist die erste Bürgerpflicht. Die zweite ist es, Europa neu zu denken. Von Grund auf. Und die dritte Aufgabe besteht darin, eine Gesellschaft zu erkämpfen, die auf Solidarität, Egalität und realer Demokratie basiert“ (S. 12). Ökonomische Verteilungskämpfe und Klassenverhältnisse werden zwar hier und da angeschnitten, aber nicht wirklich in die Überlegungen zu der Gestaltung ihrer imaginierten neuen Gesellschaft einbezogen. Ob eine Gruppe von linksautonomen Aufwiegler_innen hier helfen könnte?

Bibliografische Angaben

Markus Metz / Georg Seeßlen 2016: Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Bertz + Fischer, Berlin. ISBN: 978-3-86505-737-2. 120 Seiten. 7,90 Euro.

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Johanna Bröse ist Sozialwissenschaftlerin und in Tübingen aktiv. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Migrations- und Rassismusforschung, Flucht- und Grenzregime, Formen von Solidarität und Widerstand sowie Kritische Soziale Arbeit. Sie ist zudem Redakteurin bei kritisch-lesen.de.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/rezension-hass-und-hoffnung-deutschland-europa-und-die-fluechtlinge--1922.html   |   Gedruckt am: 29.03.2024