20. Mai 2016 | Sandra Breiteneder, Wolfgang Greif
ginn der Finanzmarkt-und Wirtschaftskrise gehen Regierungen in immer mehr Ländern Europas daran, im Zuge vermeintlicher „Krisenlösungspolitiken“ Gewerkschaftsrechte empfindlich einzuschränken. Diese Angriffe gestalten sich vielschichtig, je nachdem, wo sich gerade Möglichkeiten auftun. Sie folgen zwar keinem einheitlichen Muster, sind jedoch unverkennbar von einschlägigen europäischen Politikempfehlungen flankiert. Gewerkschaften und deren Gestaltungsmöglichkeiten geraten so immer mehr ins Abseits. Damit stehen Kernelemente des demokratischen Grundgerüsts in Europa zur Disposition, wenn nicht bald „die Stopptaste gedrückt wird“.
2011 wurde in der EU im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung das Europäische Semester eingeführt und dabei vor allem die Einhaltung strikter Stabilitätskriterien (neuerdings die des Fiskalpaktes) eingemahnt. Dabei werden nationale Wirtschafts- und Haushaltsdaten von der EU-Kommission überprüft und länderspezifische Empfehlungen sowie konkrete Reformvorschläge ausgesprochen, die zumeist auf neoliberale Strukturreformen hinauslaufen. In den letzten Jahren wurden dabei stets auch die Dezentralisierung der Lohn- und Gehaltsfindung sowie eine Senkung der Mindestlöhne gefordert. Bislang noch in Form nicht bindender Vorgaben. In großen Teilen der EU-Eliten wird das bereits seit Jahren als Mangel gesehen, den es zu beseitigen gilt. In diese Richtung weisen auch einschlägige Vorschläge zur Etablierung „nationaler Wettbewerbsfähigkeitsräte“ im präsentierten Präsidenten-Bericht zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion (Details dazu im Beitrag von Thomas Delapina im EU-Infobrief der AK Wien).
Abbau von Gewerkschaftsrechten: versteckter Fixpunkt europäischer Politikempfehlungen
In welche Richtung der Mainstream dieser Politikempfehlungen in Bezug auf Lohnfindungssysteme geht, zeigte sich bereits in Veröffentlichungen der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen, in welchen ein „beschäftigungsförderndes“ Bündel an Maßnahmen empfohlen wird, das unter anderem auch mit folgenden „tarifpolitischen Giftzähnen“ bestückt war:
In Summe zielen diese Empfehlungen der EU-Kommission auf eine radikale Dezentralisierung der Lohn- und Gehaltsfindung, die ohne substantielle Schwächung gewerkschaftlicher Macht nicht gelingen kann. Kaum verwunderlich, dass in den folgenden Jahren immer mehr Regierungen, die in ihrer vermeintlichen Konkurrenz als Wettbewerbsstaaten die Senkung des nationalen Lohnniveaus anstrengten, über Europa verteilt – in durchaus unterschiedlicher nationaler Umsetzung – Anleihen an dieser „Menüliste“ zum Raubbau gewerkschaftlicher Gestaltungsmacht genommen haben.
Südeuropa: Dezentralisierung der Lohnfindung durch Troika/EZB
Für die Auszahlung von Finanzmitteln mussten Griechenland und Portugal in den mit der Troika abgeschlossenen „Memoranda of Understanding“ auch weitreichende Reformen der Tarifsysteme fixieren. Auch Spanien und Portugal mussten für Finanzhilfen an die Banken vertragliche Verpflichtungen inklusive Eingriffen in die Lohnfindung eingehen. Für Italien gab es informelle Formen der Einflussnahme. So knüpfte die EZB den Ankauf von Staatsanleihen an Reformen, die auch die Dezentralisierung der Lohnfindung vorsahen.
Im Wesentlichen fokussiert das Troika-Regime hinsichtlich der Tarifsysteme auf dreierlei:
Maßnahmen | Länder |
Abweichung in Unternehmensverträgen von sektoralen Kollektivverträgen bzw. gesetzlichen Bestimmungen | Griechenland, Italien, Portugal, Spanien |
Allgemeiner Vorrang für Unternehmenskollektivverträge | Griechenland, Spanien |
Abschaffung des Günstigkeitsprinzips (v.a. von Branchenverträgen) | Griechenland, Portugal |
Strengere Kriterien zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen | Griechenland, Spanien |
Einschränkung der Nachwirkung abgelaufener Kollektivverträge | Griechenland, Portugal, Spanien |
Abschluss von Unternehmensverträgen durch gewerkschaftlich nichtorganisierte ArbeitnehmerInnengruppen | Griechenland, Portugal, Spanien |
Für die traditionell streikfreudigen Gewerkschaften im Süden Europas brachte dieser „tarifpolitische Krisenmodus“ insgesamt tiefe Einschnitte in ihren Handlungsspielraum. Historisch hatten sich hier starke sektorale Kollektivvertragssysteme etabliert, die zu einer Abdeckung von bis zu 80-90 Prozent führten. Zwar blieb in den Troika-Ländern das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen formell erhalten, deren Wirkung wurde durch gesetzliche Regelungen jedoch weitreichend unterlaufen. Innerhalb von nur fünf Jahren wurde eine radikale tarifpolitische Dezentralisierung durchgeführt, manche Kommentatoren sprechen geradezu von einer De-Kollektivierung der Lohnpolitik.
Die Aushebelung bestehender Kollektivvertragsrechte ist nicht singulär zu betrachten. Im Paket der Troika kam es auch zu massiven arbeitsrechtlichen Verschlechterungen sowie Angriffen auf soziale Ansprüche (Arbeitslosigkeit, Pensionen, Krankenversicherungen usw.) und (wie insbesondere in Spanien) auch zu Angriffen auf bürgerliche Freiheiten wie das Streik- und Demonstrationsrecht, was sich wiederum vor allem auch auf Gewerkschaften auswirkt, indem Streikende mit Gefängnisstrafen bedroht wurden.
Zum Beispiel: Neuabschlüsse in Griechenland | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 |
Branchen-Vereinbarungen | 202 | 103 | 91 | 55 | 31 | 14 |
Unternehmens-Vereinbarungen | 462 | 347 | 352 | 241 | 978 *) | 408 |
Quelle: Schulten und Müller 2013. *) Der Anstieg der Unternehmensvereinbarungen 2012 erklärt sich durch die 2011 beschlossene Regelung, sektorale Vereinbarungen auf Unternehmensebene unterschreiten zu können.
Das Baltikum: „Krisenbewältigung“ durch radikalen Austeritätskurs
Die baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland wurden schon 2008-2009 hart von der Krise getroffen. Der bereits geringe Organisationsgrad der Gewerkschaften, die bestehende fragile tarifpolitische Basis und die folglich traditionell schwache tarifpolitische Abdeckung machten weitere rechtliche Einschränkungen kaum mehr notwendig. Umso rascher gelang es im Zuge scharfer Austeritätsmaßnahmen empfindliche Lohnkürzungen und Einschnitte in die Sozialsysteme durchzusetzen, auch über gesetzliche Eingriffe zur Flexibilisierung der Arbeitszeit, wie auch zur Erleichterungen bei Entlassungen. Massiver Jobabbau (vor allem in der Industrie) führte zu weiterer Schwächung gewerkschaftlicher Organisationsmacht, was den Widerstand gegen den austeritätsgetriebenen Sozialabbau nachhaltig zum Erliegen brachte.
Mittel- und Osteuropa: Fortgesetzter tarifpolitischer Kahlschlag durch rechts-konservative/liberale Regierungen
Auch in Rumänien führte die Krisenpolitik der Regierung (ganz ohne Troika-Regime) zu einem nahezu vollkommenen Zusammenbruch des bestehenden Lohnfindungssystems. 2011 wurde der sogenannte „Soziale Dialog Akt“ erlassen, der den nationalen Kollektivvertrag als fixen Bezugspunkt für sektorale Abkommen abschaffte und alle gültigen Branchenverträge binnen Jahresfrist auslaufen ließ. Neue Tarifverträge mussten in völlig neu zusammengesetzten Industriebranchen verhandelt werden, wobei die Reichweite der Verträge massiv eingeschränkt wurde, da sie nur mehr für jene Unternehmen gelten sollen, die der unterzeichnenden Unternehmensvereinigung angehören. Branchenverträge sind in der Folge dann auch massiv zurückgegangen. Während vor der Krise in von Branchen Kollektivverträge existierten, gibt es diese inzwischen nur noch in zwei. Dem nicht genug: Auch die Kriterien zur gewerkschaftlichen Vertretung im Unternehmen wurden verschärft. Um Verhandlungen führen zu können, muss eine Gewerkschaft mindestens 50 Prozent der Beschäftigten vertreten. Versuche der in Rumänien gewählten Mitte-Links-Regierung, den „Sozialen-Dialog-Akt“ wieder zu entschärfen, scheiterten am Druck von EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds.
Auch in der Slowakei kam es im Zuge neoliberaler Krisenbereinigung im Jahr nach Wahl einer rechts-konservativen Regierung zum Angriff auf wesentliche Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Politik: Um als Gewerkschaft im Betrieb das Verhandlungsmandat für alle Beschäftigten zu haben, mussten die Betriebsgewerkschaften dem Dienstgeber eine gewerkschaftliche Organisation von 30 Prozent nachweisen. Dazu erhielten auch Betriebsräte die Kompetenz, Vereinbarungen über Arbeitsbedingungen und Entlohnung abschließen zu dürfen. Obgleich diese Verschlechterungen nach den nächsten Wahlen von der den Gewerkschaften nahestehenden SMER Regierung unter Robert Fico größtenteils wieder rückgängig gemacht wurden, waren diese Maßnahmen ein Grund für den nachhaltigen Rückgang der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung. Es ist kaum davon auszugehen, dass es unter der sich aktuell abzeichnenden Koalition mit liberalen und nationalen Kräften zu einer substantiellen rechtlichen Verbesserung kommen wird.
Auch in Ungarn wurde der soziale Dialog in der bisherigen Form abgeschafft: Stattdessen wurde ein Wirtschafts- und Sozialrat geschaffen, in dem zahlreiche weitere Akteure wie Unternehmerkammern, Kirchen und NGOs teilnehmen und es keine Verhandlungspflicht gibt. Die Gewerkschaften werden weitgehend aus Verhandlungen ausgeschlossen, das Streikrecht massiv eingeschränkt und Streikende kriminalisiert. Ebenso wurden Arbeitsverhältnisse liberalisiert und flexibilisiert und massive Einschnitte in die Sozialgesetzgebung durchgeführt.
Auch andere Länder Mittel- und Osteuropas nehmen sich von diesem Trend nicht aus: Kroatien (Einschränkungen bei Geltung von Kollektivverträgen und Streikrechten), Polen (Beschränkung bei Gewerkschaftsfreiheit und Streikrecht), Tschechische Republik (Einschränkungen bei Aufsichtsratsmitbestimmung).
Westeuropa: Angriffe auf Gewerkschaftsrechte „aus dem Hinterhalt“
In Großbritannien sind die Gewerkschaften aktuell mit den härtesten Angriffen seit der Thatcher-Regierung konfrontiert. Mit der so genannten „Trade Union Bill“ soll das Streikrecht weiter massiv beschränkt und die Gewerkschaften geschwächt werden. Obwohl die Zahl der Streiktage in Großbritannien auf ein historisch niedriges Maß zurückgegangen ist, sollen das Quorum für Urabstimmungen angehoben, Streikposten polizeilich genannt und der „Schutz von StreikbrecherInnen“ ausgebaut werden. Dazu passt die Legalisierung, LeiharbeiterInnen als StreikbrecherInnen einzusetzen. Offensichtlich will die nun wieder alleine regierende Tory-Administration den Gewerkschaften dort, wo sie noch Organisationsstärke besitzen, einen schwer zu verdauenden Tiefschlag versetzen. Unschwer auszurechnen, mit welch weiterem Abbau sozialer Rechte vor diesem Hintergrund im ohnehin arbeitsrechtlich flexibilisierten Großbritannien in Zukunft zu rechnen ist.
In Belgien plant die neu gewählte rechtsnational-liberale Regierung, die Streikbewegung gegen die unsoziale Kürzungspolitik durch Eingriffe in das bislang robuste Tarif- und Streikrecht zu brechen. So sollen bislang geübte Aktionsformen (etwa auch Straßenblockaden) verunmöglicht und wesentliche Grundlagen der Kollektivvertragspolitik, vor allem die automatische Inflationsanpassung der Löhne (als essentielle Ausgangslage für die Verhandlungen), ausgesetzt werden.
Auch in Finnland stehen schmerzhafte Kürzungen durch die neue konservative Regierung an. Gewerkschaften kämpfen zeitgleich an mehreren Fronten um ihr Recht, weiterhin Akteur bei der kollektiven Aushandlung der Arbeitsbedingungen zu sein. Bisherige vertraglich ausgehandelte Leistungen wie etwa Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Wochenendarbeit sowie Krankengeld sollen künftig per Gesetz gekürzt werden. Ebenso sollen zwei Feiertage abgeschafft werden und die Arbeitszeit nicht mehr Teil der Verhandlungen sein – ein fundamentaler Angriff auf die bewährte Autonomie der Sozialpartner.
Diese Treibjagd auf die Macht der Gewerkschaften muss gestoppt werden
Gewerkschaftsrechte sind europaweit in Bedrängnis. Flankiert durch Politikempfehlungen der EU-Kommission werden Änderungen der Arbeitsbeziehungen angestrengt, die darauf gerichtet sind, die Gestaltungsmöglichkeiten der Gewerkschaften empfindlich einzuschränken. Gewerkschaften werden in ihrer Struktur und ihrer institutionellen Basis angegriffen. Das spiegelt sich vor allem auch in der dramatisch gesunkenen tariflichen Abdeckung der Beschäftigten seit 2008. Der Abbau von Gewerkschaftsrechten steht nie alleine, er geht meist mit dem Abbau von Arbeitsrechten, sozialen Ansprüchen und bürgerlichen Freiheiten einher. Offensichtlich verträgt sich die radikale Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung, die mit der „neoliberalen Rosskur“ in vielen Teilen Europas einhergeht, nicht mit den Rechten der Beschäftigten, die die Gewerkschaften bislang errungen haben.
Die neoliberale Ideologie hat sich jedenfalls soweit durchgesetzt, dass Gewerkschaften in weiten Kreisen der herrschenden Eliten als Hemmnis des Aufschwungs und als hinderlich für die Krisenbewältigung gesehen werden. Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise wird offensichtlich dazu genutzt, all das an Strukturreformen durchzusetzen, was jahrzehntelang von wirtschaftsliberalen Kreisen zwar gewünscht, unter „normalen“ Verhältnissen jedoch nicht durchsetzbar war.
Diese Treibjagd auf die Gegenmacht und die Gestaltungskraft der Gewerkschaften muss entschieden gestoppt werden. Nur so kann einer weiteren Erosion sozialstaatlicher Standards in Europa der Riegel vorgeschoben werden. Andernfalls droht der europäische Kontinent in völlig neuem Gewand aus der Krise hervorzugehen, in dem die Koordinaten des gesellschaftlichen Interessenausgleichs wesentlich zu Ungunsten der Beschäftigten verschoben sein werden. Es geht in diesem Sinn für die Gewerkschaften in Europa ganz prinzipiell um den Erhalt und die Entwicklungsperspektiven sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Substanz. Der Europäische Gewerkschaftsbund thematisiert mit seiner neuen Kampagne: „Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte“ den Abbau dieser Rechte in ganz Europa. Bisher sind Gewerkschaften in den einzelnen Ländern den Angriffen allein ausgesetzt gewesen. Es geht nun darum, gemeinsam die Abwehr aufzubauen und für mehr demokratische Rechte zu kämpfen.
Quellen
Dieser Artikel erschien zuerst im EU-Infobrief der AK Wien. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Sandra Breiteneder arbeitet bei der österreichischen Gewerkschaft GPA-djp.
Wolfgang Greif arbeitet bei der österreichischen Gewerkschaft GPA-djp.
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