Von Hayek zu Sarrazin: Neoliberale Einfallstore für ausgrenzendes Denken

13. März 2014 | Patrick Schreiner

iberalen Theorien ist die Sache eigentlich klar: Soziale Gerechtigkeit ist keine sinnvolle und relevante Kategorie, und soziale Ungleichheit ist notwendiges Ergebnis von Marktprozessen. Man könnte es eigentlich dabei belassen. Umso auffälliger und erstaunlicher ist es aber, dass neoliberale Publizist/inn/en und Wissenschaftler/innen geradezu besessen sind von dem Gedanken, konkretere Ursachen für diese soziale Ungleichheit zu finden. Dabei argumentieren sie oft in einer gefährlichen Art und Weise. Mehrere gute Beispiele hierfür bot jüngst die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.

Im Wirtschaftsteil der FAS vom 2. März 2014 fanden sich auf der Vorder- und Rückseite des ersten Blattes (S. 17 und 18) gleich drei Artikel, die sich mit Fragen von Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit befassten. Am 9. März folgte ein weiterer Artikel in diesem Kontext. Alle vier stellen wissenschaftliche Studien und Positionen vor, denen zufolge nicht etwa Marktwirtschaft und Marktprozesse, sondern individuelle Eigenschaften der Menschen für soziale Ungleichheit verantwortlich seien – ein in neoliberalen Augen durchaus erfreuliches und hilfreiches „Ergebnis“.

Hayek

Doch zunächst ein Schritt zurück: Weshalb ist die Frage nach den Ursachen sozialer Ungleichheit für Neoliberale überhaupt relevant? Ein Blick in das Werk eines neoliberalen Klassikers, Friedrich August von Hayek, mag diese Frage zu beantworten helfen. Er schreibt in Band 2 von „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“:

Tatsache ist einfach, daß wir der Beibehaltung und Durchsetzung einheitlicher Regeln für ein Verfahren zustimmen, das die Chancen der Bedürfnisbefriedigung aller stark verbessert hat, allerdings zu dem Preis, daß alle Individuen und Gruppen das Risiko eines unverdienten Scheiterns eingehen. Wenn man dieses Verfahren akzeptiert, entzieht sich die Entlohnung verschiedener Gruppen und Individuen bewußter Kontrolle.

Das „Verfahren“, von dem Hayek hier spricht, ist – vereinfacht gesagt – der Markt. Hayek geht davon aus, und dies ist eine neoliberale Grundannahme, dass der Markt die effektivste Prozedur ist, um (nicht nur) das Wirtschaftsleben einer Gesellschaft zu organisieren. Allerdings gibt es dabei ein gravierendes Problem: Ein Markt bzw. eine Marktgesellschaft kann nicht verhindern, dass Individuen auch unverdient scheitern.

Deshalb schreibt Hayek, dass die „Entlohnung verschiedener Gruppen und Individuen“ nicht bewusst kontrolliert und nicht gesteuert werden könne. Ein Markt führe zwar stets zum bestmöglichen kollektiven Wohlstand, aber nur um den Preis des – auch unverdienten – Ausschlusses einiger Individuen von diesem. Hayek verweist darauf, dass die Menschen trotz allem davon ausgingen, dass Unterschiede in der Entlohnung und Unterschiede in den Verdiensten in etwa miteinander korrespondierten – Leistung sich also lohne. Diese Überzeugung treibe, so Hayek, zu Effizienz und Anstrengung an, sie entspreche aber keineswegs der Realität. Leistungsgerechtigkeit ist damit eine notwendige Illusion. Dies könne durchaus Frust und Enttäuschung bei denen auslösen, die trotz hoher Anstrengungen nicht am kollektiven Wohlstand teilhaben. Hier besteht ein Dilemma, das Hayek offen benennt: Wie weit sollte eine Gesellschaft ihre Mitglieder fälschlicherweise glauben machen, dass persönliche Anstrengung zu Erfolg führt – und wie weit solle die Gesellschaft ehrlicherweise zugeben, dass viele scheitern werden, obwohl sie das Scheitern nicht verdienen?

Dieses Dilemma ist in Marktgesellschaften unumgänglich. An diesem Punkt ist Hayek sehr viel ehrlicher als viele seiner Anhänger/innen. Das Missverhältnis zwischen Leistung und Erfolg – und damit letztlich soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit – ist in seinen Augen der Preis, den eine Gesellschaft für Freiheit (und Wohlstand) zu bezahlen hat:

In diesem Sinne ist Freiheit untrennbar von Entlohnungen, die oft keine Beziehung zum Verdienst haben, das sich jemand erworben hat, und deshalb oft als ungerecht empfunden werden.

Weshalb aber akzeptieren die Menschen eine Ordnung, die ein Scheitern von Einzelnen – oft trotz hoher individueller Anstrengungen – zulässt? Die Erklärungen, die Hayek und andere Neoliberale liefern, nämlich kollektiver Wohlstand und ökonomische Freiheit, bleiben abstrakt. Gerade für jene Menschen, die nicht oder kaum am Wohlstand teilhaben, dürften sie unbefriedigend sein. Es ist fraglich, ob sich Menschen dauerhaft in eine unterprivilegierte Position, in soziale Benachteiligung bis hin zu sozialem Elend verweisen lassen schlicht mit dem Argument, dass der gesamtgesellschaftliche Wohlstand und die marktwirtschaftliche Freiheit in Marktgesellschaften größer sei als in anderen Gesellschaftsordnungen. Soziale Ungleichheit und soziale Immobilität dürften sich damit zumindest aus Sicht der Nicht-Privilegierten kaum dauerhaft rechtfertigen lassen.

Neoliberale Marktgesellschaften haben an dieser Stelle ein Rechtfertigungsproblem. Und sie haben nur eine Möglichkeit, damit umzugehen: Sie müssen und sie werden das Märchen glaubhaft zu machen versuchen, dass sich Leistung lohne. Dieses Märchen aber ist umso glaubhafter, je glaubhafter Unterprivilegiertheit, Armut und Elend auf individuelle Nicht-Leistung zurückgeführt werden können. Und aus eben diesem Grund interessieren sich Neoliberale für Ursachen sozialer Ungleichheit. Ursachen allerdings, und dies ist hier der springende Punkt, die die Verantwortung für individuelle Unterprivilegiertheit sowie kollektive Ungleichheit nicht dem Markt oder der Gesellschaft, sondern den Individuen und deren individuellen Eigenschaften zuweisen.

FAS

Genau dies ist das verbindende Anliegen der eingangs genannten vier Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

(1) Den Anfang macht zunächst Rainer Hank mit einem Artikel „Ihr da oben – wir da unten“ (der Titel in der Web-Version lautet anders.) Hank berichtet von einer Studie des schottisch-amerikanischen Historikers Gregory Clark, der für verschiedene Länder und mehrere Jahrhunderte die Zusammensetzung der jeweiligen Oberschicht anhand von Nachnamen untersucht hat. Er stellt fest, dass es trotz diverser Systemwechsel und trotz der langen Zeiträume eine hohe Stabilität gibt: Es sind immer wieder die gleichen Namen, deren Träger sich in privilegierten Positionen befinden. Scheinbar gesellschaftskritisch schreibt Hank:

All die zu Herzen gehenden Tellerwäschergeschichten, wie der kleine Oliver Twist aus dem Armenhaus zu bürgerlichem Ansehen gelangt und der kleine René Obermann es aus dem Prekariat heraus an die Spitze der Deutschen Telekom schafft, wären demnach, statistisch gesehen, Einzelfälle, die ein falsches Bild von Chancengerechtigkeit vermitteln und bestenfalls unsere Wunschvorstellung einer fairen Weltordnung befriedigen.

Diese Sätze erscheinen gesellschaftskritisch, sind aber das genaue Gegenteil. Schließlich ist Clarks Studie generationen- und gesellschaftsübergreifend angelegt, sodass die von Hank beschriebene soziale Immobilität nicht als Problem spezifischer Gesellschaftsformen, sondern als menschliche Konstante erscheint. Hank:

Im Dauerstreit, ob Familienveranlagung oder Umwelt die Menschen mehr beeinflussen, schlägt er [Clark, P.S.] sich eindeutig auf die Seite der vererbten Veranlagung.

Womit die Verantwortung für unterprivilegierte gesellschaftliche Positionen, für Armut und Elend auf die Individuen verschoben wäre: Sie hätten eben schlechtere Gene, die in ihren Familien von Generation zu Generation weitergegeben würden. Die Gesellschaft als solche, etwa auch die neoliberale Marktgesellschaft, so die logische Schlussfolgerung, trifft keine Schuld.

Angesichts dieser „Fakten“ kann nach Hank die soziale Ungleichheit nicht durch Umverteilung reduziert werden, sondern nur eine größere gesellschaftliche Durchmischung: „Die Unterschicht muss in die Oberschicht heiraten“. Dass die Realität anders ist, weiß und schreibt er durchaus. Mit geradezu entwaffnender Offenheit und Direktheit kommentierte ein Leser der FAZ-Webseite diesen Gedanken (das Zitat ist eine Woche später auch in der gedruckten FAS zu finden):

Warum sollte eine intelligente, akademisch gebildete, kulturinteressierte Frau mit guten Umgangsformen und in Folge von all dem meist einem hohen Einkommen, ausgerechnet einen Mann mit unterdurchschnittlichem Bildungsniveau haben wollen, der mit dem Dosenbier in der Hand vor der Glotze hockt, Bundesliga schaut und mit dem ein angeregtes Gespräch über Literatur, Theater oder Naturwissenschaft nicht möglich ist?

In diesen Worten kommt jene Abneigung gegenüber der "Unterschicht" zum Ausdruck, die klassenübergreifende Beziehungen in der Tat zur Ausnahme macht. Eine Abneigung, die einmal mehr den Unterprivilegierten die Schuld an ihrer sozialen Position wie auch an sozialer Ungleichheit zuschreibt.

(2) Den vermeintlichen Zusammenhang zwischen individueller Leistung und sozialer Ungleichheit greift – nebenbei – auch Philip Plickert im zweiten hier relevanten FAS-Artikel auf (nicht im Internet verfügbar). Titel: „Ist es mit dem Wachstum vorbei?“ Der Text widmet sich eigentlich nicht der Frage sozialer Ungleichheit, sondern der aktuellen ökonomischen Diskussion, ob Industriegesellschaften fortan mit deutlich niedrigeren Wachstumsraten zurechtkommen müssten. Plickert gibt darin unter anderem Überlegungen des US-Ökonomen Robert Gordon wieder, die einen Zusammenhang zwischen Wachstum und sozialer Ungleichheit herstellen:

Besorgniserregend findet er die sozialen Zerfallserscheinungen, etwa die steigenden Scheidungsraten und die hohe Zahl von alleinerziehenden Müttern vor allem in der Unterschicht. Kinder aus zerbrochenen Familien erhalten weniger Fürsorge und Förderung, haben folglich weniger Humankapital. Sie werden weniger produktive Arbeitskräfte sein. Auch dadurch nehme die Ungleichheit weiter zu.

Als Grund für soziale Ungleichheit werden hier, anders als bei Hank, nicht Gene, sondern „weniger Fürsorge und Förderung“ für die Kinder der „Unterschicht“ und ein daraus angeblich resultierender Mangel an „Humankapital“ genannt. In Kurzform: ein Versagen der Erziehung, ein Versagen der Familien. Das Argumentationsmuster bleibt das gleiche. Auch hier wird die neoliberale Marktgesellschaft von Verantwortung freigesprochen, die Schuld an sozialer Ungleichheit auf Individuen verschoben.

(3) Bei Familien und Kindern setzt auch Johannes Pennekamp mit seinem Artikel „Dem Geduldigen winken die dicksten Fische“ an. Er stellt ein Buch des österreichischen Ökonomen Matthias Sutter zum Thema „Ungeduld“ vor. Sutter hat drei- bis vierjährige Kinder vor die Wahl gestellt, sofort einen attraktiven Gegenstand geschenkt zu bekommen (etwa „Gummibärchen oder bunte Aufkleber“) oder zu einem späteren Zeitpunkt gleich mehrere Exemplare des gleichen Gegenstands zu erhalten. Das Ausmaß der in diesem Experiment bewiesenen „Geduld und Selbstkontrolle“, so wird Sutter von Pennekamp zitiert, habe eine „bemerkenswerte Vorhersagekraft für den weiteren Lebensweg“. Und Pennekamp weiter:

In Japan stellten Forscher einen signifikanten Zusammenhang zwischen Ungeduld und der Zahl der Zigaretten fest, die ein Mensch täglich raucht. Ungeduldige Schüler in Österreich geben mehr Geld für Alkohol aus als geduldige Gleichaltrige. In den Vereinigten Staaten wiesen Ökonomen nach, dass Ungeduld und Übergewicht miteinander einhergehen. In einer Langzeitstudie in Neuseeland beobachten Forscher, dass geduldigere Schüler im Schnitt einen besseren Schulabschluss machen. Das wirkt sich später auf die Verdienstmöglichkeiten und den Erfolg im Beruf aus. Die Präferenz für die Gegenwart hängt außerdem mit der Sparneigung eines Menschen zusammen. Wer zu ungeduldig ist, sorgt weniger für das Alter vor und läuft Gefahr, später arm zu sein.

Es scheint, als ob es für jede individualisierende Rechtfertigung sozialer Ungleichheit eine passende hilfreiche Studie gäbe. Hier wird gleich mehrfach auf Klischees und Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit angespielt: Zigaretten, Alkohol und übermäßiges Essen sind in Mittel- und Oberschichts-Augen angeblich typische Vergnügungen der „Unterschicht“; der Zusammenhang von „Verdienstmöglichkeiten“, „Erfolg“ und Altersarmut mit sozialer Ungleichheit liegt auf der Hand. Einmal mehr wird damit die Verantwortung für soziale Ungleichheit den Betroffenen zugeschrieben: Es sei deren Ungeduld (ob angeboren oder in den ersten Lebensjahren anerzogen bleibt offen), die später zu einer unterprivilegierten sozialen Position führe.

(4) Eine Woche später legt Hank mit einem weiteren Artikel nach, Titel „Die Klassengesellschaft feiert feste weiter“. Darin wiederholt er den einen oder anderen Gedanken seines Artikels der Vorwoche und führt manches detaillierter aus. Das Grundanliegen des Artikels ist, gegen Umverteilung zu argumentieren:

Fast hat man den Eindruck, dass es den Linken recht ist, dass die sozialen Klassen allenthalben fest zementiert sind und die Herkunft unser Schicksal ist. Sie können sich dann umso munterer ihrer Lieblingsbeschäftigung widmen: dem Kampf für mehr Umverteilung.

Im Wesentlichen nennt Hank zwei Argumente gegen diese Umverteilung der „Linken“: Erstens schreibt er, dass es ein gewisses Maß sozialer Mobilität ja durchaus gebe – und relativiert damit seine Aussagen der Vorwoche. Zweitens nennt er das altbekannte neoliberale Argument, Umverteilung demotiviere die Menschen und senke dadurch den Wohlstand aller.

Interessanter als diese wenig überraschenden Ausführungen ist allerdings eine Passage zu Beginn des Artikels, in der Hank die beiden aus seiner Sicht wichtigsten Ursachen von sozialer Ungleichheit unter Bezug auf seinen Artikel der Vorwoche nochmals zusammenfasst:

In Wirklichkeit besteht die beste Strategie, richtig reich zu werden, darin, sich die richtigen Eltern zu suchen. Herkunft lässt sich nicht überspielen; was zählt, ist die Familie. […] Das braucht man gar nicht nur biologistisch interpretieren. In der Oberschicht werden nicht nur Oberschicht-Gene vererbt, sondern auch die dazugehörigen kulturellen Werte und Verhaltensweisen weitergegeben.

Sarrazin

Es sind in der Tat diese zwei von Hank genannten Ursachenbündel, auf die Hank, Plickert und Pennekamp soziale Ungleichheit, Armut und Verelendung zurückführen: Zum einen individuelle Eigenschaften, die angeboren sind, und zum anderen individuelle Eigenschaften, die anerzogen werden. Annahme der Autoren ist, dass beide Ursachenbündel direkt oder indirekt in höherer oder geringerer Leistungsfähigkeit bzw. Leistungsbereitschaft resultierten und damit für die bessere oder schlechtere soziale Positionierung der jeweiligen Menschen verantwortlich seien. Markt und Marktgesellschaft sind damit von Verantwortung für soziale Ungleichheit freigesprochen.

Eine solche Argumentation kommt nicht von irgendwoher, wie einleitend deutlich geworden sein sollte. Gerade weil Neoliberale wissen, dass eine Marktordnung die Korrespondenz von Leistung und Ertrag nicht garantieren kann, ist aus neoliberaler Perspektive die Individualisierung von Verantwortung notwendig. Der für Marktgesellschaften konstitutive Glaube, dass „sich Leistung lohnt“, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die Verantwortung für Unterprivilegiertheit auf Individuen verschoben wird.

Wenn aber der soziale Status von Menschen systematisch auf deren individuelle Eigenschaften und diese wiederum systematisch auf Genetik oder Erziehung zurückgeführt werden, dann ist der Schritt zu einer rassistischen oder kulturalistischen Argumentation nur noch ein kleiner. Um hier nicht missverstanden zu werden: In den FAS-Artikeln wird nicht rassistisch und nicht kulturalistisch argumentiert. Ganz im Gegenteil wird an verschiedenen Stellen betont, dass die beschriebenen Phänomene gesellschafts- und generationenübergreifend zu beobachten seien. Gleichwohl sind und bleiben die beschriebenen Denkweisen für rassistische und kulturalistische Ausgrenzung unmittelbar anschlussfähig. Denn wenn negative individuelle Eigenschaften, die zu gesellschaftlicher und ökonomischer Schlechterstellung führen, angeboren und genetisch bedingt sein sollen – weshalb sollten dann nicht „Rasse“, „Volk“ oder „Ethnie“ relevante Kategorien sein, beruhen diese doch auf der Vorstellung gemeinsamer Abstammung und Gene? Und wenn diese negative Eigenschaften anerzogen sein sollen – weshalb sollten dann nicht „Kultur“, „Kulturkreis“ oder nochmals „Ethnie“ relevante Kategorien sein, beruhen diese doch auf der Vorstellung gemeinsamer Werte, Sichtweisen und Verhaltensmuster, die durch Erziehung vermittelt werden?

In diesem Sinne argumentativ nützliche Beispiele dafür, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten „Völkern“, „Ethnien“, „Kulturen“ oder „Kulturkreisen“ bisweilen mit der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten einhergeht, lassen sich ja durchaus finden. Die Frage, ob diese Korrelation möglicherweise mit verhärteter sozialer Ungleichheit und mit ausgrenzender Diskriminierung zu tun hat, wird dann ausgeblendet – was eben diese soziale Ungleichheit und diese Diskriminierung zugleich legitimiert und reproduziert.

Von der neoliberalen Suche nach individuellen Ursachen für soziale Ungleichheit bis zu diesem argumentativ-legitimierenden Rückgriff auf „Ethnie“ oder „Kultur“ ist es tatsächlich nur ein kleiner Schritt. Dies mögen beispielsweise die Veröffentlichungen Thilo Sarrazins veranschaulichen, der den genannten kleinen Schritt gegangen ist. Wenig überraschend tauchen bei ihm in der Tat exakt die beiden Argumentationsmuster auf, die wir schon kennengelernt haben: Genetik und Erziehung.

Man muss davon ausgehen, dass menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich. Der Weg, den wir gehen, führt dazu, dass der Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demographischen Gründen kontinuierlich fällt.

Das Ganze explizit ausgrenzend formuliert, bezogen auf „Unterschicht“ und „Migranten“:

Sie erben 1. gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern und werden 2. durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt. Die Probleme einer verfestigten und nicht ausreichend in den produktiven Kreislauf integrierten Unterschicht überlagern sich zudem mit den ungelösten Integrationsproblemen eines großen Teils der Migranten aus der Türkei, Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/von-hayek-zu-sarrazin-neoliberale-einfallstore-fuer-ausgrenzendes-denken--1354.html   |   Gedruckt am: 26.04.2024