16. Oktober 2013 | Patrick Schreiner, Liv Dizinger
sdienstleistungen und Infrastruktur im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sind ganz entscheidend von entsprechenden Ausgaben der Gemeinden und Landkreise abhängig. Wenngleich dank verschiedener Förderprogramme von Bund und Ländern ein hoher Anteil der finanziellen Mittel für den ÖPNV nicht aus kommunalen Kassen stammt, so kommt den Kommunen als Aufgabenträgern des Straßenpersonennahverkehrs doch eine entscheidende Bedeutung zu: Sie müssen Mittel für den Betrieb des ÖPNV und für die (Ko-)finanzierung von Infrastrukturprojekten aufbringen, wenn es vor Ort ein ausreichendes, qualitativ hochwertiges ÖPNV-Angebot geben soll. Doch haben Haushaltskürzungen, Steuersenkungen und unzureichend finanzierte öffentliche Haushalte ihre Spuren hinterlassen.
Finanzierung des ÖPNV
Alleine bei den Ausgaben für kommunale ÖPNV-Infrastrukturinvestitionen ist in Deutschland ein enormer Investitionsrückstand aufgelaufen. Er dürfte sich nach Angaben des Deutschen Instituts für Urbanistik (difu) 2011 auf knapp 100 Mrd. Euro belaufen haben. Davon entfielen 24,6 Mrd. Euro auf Straßen- und Verkehrsinfrastruktur und immerhin 1,4 Mrd. Euro auf den ÖPNV im engeren Sinne. Einer Berechnung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (vdv) zufolge, der eine von der difu-Berechnung abweichende Gliederung von Ausgabenbereichen zu Grunde liegt, beträgt der Rückstand alleine bei Erneuerungsinvestitionen in Verkehrsanlagen von U-, Stadt- und Straßenbahnen etwa drei Milliarden Euro. Dieser Rückstand wird voraussichtlich auch in der Zukunft nicht abgebaut werden: 76 Prozent der Gemeinden und 59 Prozent der Landkreise sehen sich nach eigener Aussage nicht in der Lage, die dafür notwendigen Investitionsausgaben zu tätigen.
Investitionsrückstände ergeben sich aus unterlassenen Investitionen in der Vergangenheit. Sie stellen daher nur einen Teil der gesamten Investitionsbedarfe dar. Hinzu kommen noch notwendige Neu- und Ersatzinvestitionen in der Zukunft. In einer difu-Studie wurden für die Jahre 2006 bis 2020 kommunale ÖPNV-Investitionsbedarfe von insgesamt 38,4 Mrd. Euro errechnet. In den kommenden Jahren wird gerade die in den 1970er und 1980er Jahren mit öffentlichen Mitteln erweiterte ÖPNV-Infrastruktur hohe Ersatzinvestitionen erfordern.
Die Finanzierung des ÖPNV in Deutschland - der Infrastruktur wie auch des Betriebs - ist hochgradig komplex. Ein gewisser Anteil des Finanzbedarfs wird durch Beiträge der Nutzerinnen und Nutzer gedeckt - also durch den Verkauf von Fahrkarten. Einschließlich Werbeeinnahmen und Ausgleichszahlungen etwa für verbilligte Sozial- und Schülertickets macht diese Finanzierung durch Nutzerinnen und Nutzer etwa 45 Prozent der gesamten ÖPNV-Einnahmen aus. Sie wird ergänzt durch öffentliche Zuschüsse und Fördermittel für ÖPNV-Investitionen und für das Bestellen von Nahverkehrsleistungen bei Verkehrsunternehmen. Ohne diese Mittel wäre ein leistungsfähiger und bezahlbarer öffentlicher Verkehr nicht möglich.
Diese öffentliche ÖPNV-Finanzierung in Deutschland steht derzeit vor entscheidenden Weichenstellungen:
Ausschreibungen und verschlechterte Arbeitsbedingungen
Keine Lösung der Finanzmisere des ÖPNV wäre allerdings, noch mehr Kosten auf dem Rücken der Beschäftigten einsparen zu wollen: Schon in der Vergangenheit haben in einigen Bundesländern ein ruinöser Unterbietungswettbewerb, Lohndumping und Belastungen durch Schicht- und Nachtarbeit die Qualität und Attraktivität vieler Arbeitsplätze im ÖPNV verschlechtert. Dafür ist insbesondere die Zunahme wettbewerblicher Vergabeverfahren verantwortlich, wie sie viele Bundesländer im ÖPNV (und hier insbesondere im Busbereich) forcieren, weil diese angeblich kostengünstiger seien. Nach dem Europarecht ist im ÖPNV alternativ auch die Direktvergabe möglich, wonach die Kommune oder ein kommunales Unternehmen den Bus- und Bahn-Betrieb selbst bereitstellen (EU-Verordnung 1370/2007).
Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die Gesamtausgaben für die öffentliche Hand - entgegen der Meinung vieler neoliberaler Kräfte - beim wettbewerblichen Vergabeverfahren als höher, verglichen mit der Direktvergabe (Hans-Böckler-Stiftung 2006). Beim Ausschreibungswettbewerb muss nicht nur eine zusätzliche Behörde geschaffen werden, sondern auch die Planung, die Organisation und die Koordination des wettbewerblichen Vergabeverfahrens führen zu steigenden Kosten. Zwar können private Anbieter oder kommunale Unternehmen durch Lohndumping Personalkosten einsparen, allerdings steigen die Kosten für die öffentliche Hand an anderer Stelle, beispielsweise durch die Abwicklung und Umstrukturierung des kommunalen Betriebs.
Damit beim wettbewerblichen Vergabeverfahren bestimmte Qualitätsstandards seitens der Anbieter erfüllt werden, werden diese durch die zuständige Behörde in der Ausschreibung vorgegeben. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Standards hinsichtlich des Zustands der Fahrzeuge, der Sicherheit, der Sauberkeit, der Pünktlichkeit des Verkehrs und der Kompetenz des Fahrpersonals. Auch nach der Auftragsvergabe werden die Standards im Rahmen eines Qualitätsmanagementsystems regelmäßig kontrolliert beispielsweise durch Kundenbefragungen.
Allerdings macht die zuständige Behörde keine Vorgaben hinsichtlich der Löhne und Arbeitsbedingungen. Diese werden vielmehr in den Vergabe- und Tariftreuegesetzen des jeweiligen Bundeslandes geregelt. Einige Bundesländer haben bereits Vergabe- und Tariftreueregelungen beschlossen, um soziale Mindeststandards auch im Bus- und Bahnbereich zu gewährleisten. Dies ist europarechtlich möglich, weil der Verkehrsbereich eine Sonderstellung hat, für den das so genannte Rüffert-Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 2008 nicht gilt. Mit diesem Urteil wurde es zwar verboten, die öffentliche Auftragsvergabe an die Einhaltung von Tarifverträgen zu koppeln. Zum Öffentlichen Personennahverkehr heißt es allerdings in der EU-Verordnung 1370/2007 abweichend: "Zur Gewährleistung transparenter und vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen zwischen den Betreibern und um das Risiko des Sozialdumpings zu verhindern, sollten die zuständigen Behörden besondere soziale Normen und Dienstleistungsqualitätsnormen vorschreiben können."
In Niedersachsen hat die Landesregierung Anfang des Jahres in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, das Vergabegesetz, das Tariftreue bislang nur für den Baubereich vorsah, auf andere Branchen (wie eben auch den ÖPNV-Bereich) zu erweitern. Keine Tariftreueregelungen enthält dagegen das Vergabegesetz, das die hessische Landesregierung Anfang des Jahres beschlossen hat. Als vorbildhaft gilt das Vergabe- und Tariftreuegesetz in Nordrhein-Westfalen aus 2012. Dieses sieht vor, dass öffentliche Aufträge nur an Betriebe vergeben werden dürfen, die sich verpflichten, ihren Beschäftigten das in einem "repräsentativen Tarifvertrag" vorgesehe Entgelt zu zahlen (TvgG-NRW § 4, Abs. 2).
Ein aktuelles Rechtsgutachten zeigt nun auf, dass das NRW-Tariftreuegesetz bei Erteilung von Liniengenehmigungen nach dem Personenbeföderungsgesetz (PbefG) angewendet werden muss (Lenz u.a. 2013). Nach Aussage des Gutachtens sind private Bus-Unternehmen in NRW verpflichtet, ihren Beschäftigten Löhne nach dem Tarifvertrag Nahverkehr (TV-N) zu zahlen, den ver.di mit dem Kommunalen Arbeitgeberverband abgeschlossen hat. Das schließt auch Beschäftigte in Subunternehmen ein. Nach dem TV-N verdienen Fahrerinnen und Fahrer in NRW je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit zwischen zwölf und fünfzehn Euro brutto pro Stunde. Die Klärung durch das Rechtsgutachten war notwendig geworden, weil private Bus-Unternehmen Dumping-Tarifverträge mit einer dem Christlichen Gewerkschaftsbund angehörenden Gewerkschaft vereinbart hatten, um den TV-N zu unterlaufen. Das Rechtsgutachten hat bundesweite Relevanz, weil demnach in allen Bundesländern, die vergleichbare Regelungen zur Vergabe öffentlicher Aufträge im ÖPNV haben, bei Erteilung von Liniengenehmigungen nach dem PbefG die jeweilige Tariftreuepflicht gilt.
In denjenigen Bundesländern, in denen es kein Tariftreuegesetz gibt, zum Beispiel in Hessen, ist ein ruinöser Verdrängungswettbewerb entstanden, in dem derjenige gewinnt, der die niedrigsten Löhne zahlt. Tarifflucht, Austritte aus dem Arbeitgeberverband und Ausgliederungen prägen dort den ÖPNV. Als einzige Stellschraube bleibt beim wettbewerblichen Vergabeverfahren der Lohn, weil die Qualität der Fahrzeuge, die Fahrpläne und Fahrpreise festgelegt und die Einnahmen in Form öffentlicher Zuschüsse begrenzt sind. In einigen Kommunen haben sich multi-nationale Konzerne den Busmarkt aufgeteilt und verdrängen kommunale Anbieter wie auch inhabergeführte mittelständische Unternehmen. Um dem Unterbietungswettbewerb standhalten zu können, haben einige kommunale Betriebe Tochterunternehmen im Busbereich gegründet, in denen deutlich niedrigere Löhne gezahlt werden.
Das Lohngefüge der meisten Busfahrerinnen und Busfahrer liegt in Hessen deutlich unterhalb des TV-N. Viele Beschäftigte verdienen nur acht bis neun Euro brutto pro Stunde. Sofern sie Alleinverdienerin oder Alleinverdiener mit Kindern sind, sind einige Beschäftigte sogar auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Dazu kommen durch die Dumping-Tarifverträge schlechtere Arbeitsbedingungen wie längere Arbeitszeiten, schlechtere Dienstpläne und mehr Schicht- und Nachtarbeit. Auch die Regelungen bei Zuschlägen, Urlaubsansprüchen und Sonderleistungen unterscheiden sich von denen des TV-N. Armut trotz Arbeit ist für einige hessische Fahrerinnen und Fahrer bittere Realität. Vor allem in den hessischen Städten und Ballungsräumen ist es für Busfahrerinnen und Busfahrer kaum möglich, die hohen Lebenshaltungskosten - insbesondere die Miete - zu zahlen.
Aus dieser Situation resultiert eine große Unzufriedenheit bei vielen Fahrerinnen und Fahrern, eine hohe Fluktuation und auch die Abwanderung in andere Bundesländer. Einige Busbetriebe in Hessen haben mittlerweile Schwierigkeiten, genügend Fachkräfte zu bekommen. Insbesondere in den hessischen Städten und Ballungsräumen fehlt es aufgrund der schlechten Bezahlung an Fahrpersonal. Ein Hinderungsgrund für den Einstieg in den Busfahrerberuf ist auch, dass Neueinsteiger zunächst 10.000 Euro für ihre Ausbildung aus eigener Tasche bezahlen müssen, weil die überwiegende Mehrheit der Betriebe gar keine Ausbildung in diesem Bereich anbietet. Die Fahrgäste wiederum leiden unter einer schlechten Qualität des Verkehrsbetriebs - wie etwa ständiger Wechsel der Verkehrsunternehmen und Linien, Verspätungen, überfüllte Busse und steigende Ticketpreise. Im ländlichen Raum ist die Versorgung mit ÖPNV teilweise völlig unzureichend. Auch ökologische Kriterien spielen im Ausschreibungswettbewerb keine Rolle, weil es dazu im Vergabegesetz keine Vorgaben zu gibt.
Angeheizt werden Lohndumping und Unterbietungswettbewerb auch durch fehlende Vorgaben bezüglich der Übernahme von Beschäftigten bei einem Wechsel des Auftragnehmers. Auch hier hat die nordrhein-westfälische Landesregierung eine Regelung gefunden, die vergleichsweise weitgehend ist, aber dennoch den europarechtlichen Vorgaben entspricht. So ist im Vergabe- und Tariftreuegesetz in NRW festgelegt, dass ein Betreiber, der bestimmte Liniengenehmigungen neu erhalten hat, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des bisherigen Betreibers zu den Arbeitsbedingungen übernehmen muss, die ein vorheriger Betreiber gewährt hat.
Eine zentrale Voraussetzung für eine bessere Bezahlung wie auch für eine bessere Qualität des ÖPNV ist und bleibt allerdings, dass die Finanzierung des ÖPNV insgesamt verbessert wird.
Quellenangaben
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2013).
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.
Liv Dizinger ist Gewerkschaftssekretärin beim DGB-Bezirk Hessen-Thüringen.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/finanzierung-und-arbeitsbedingungen-im-oeffentlichen-personennahverkehr--1200.html | Gedruckt am: 28.04.2024