Heiner Flassbeck: "Man kann diese verheerende Politik in Europa nicht beliebig lange verkaufen"

12. Juni 2013 | Patrick Schreiner

erview mit Heiner Flassbeck über die Krise und die Demokratie in Europa. Prof. Dr. Heiner Flassbeck wurde 1998 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Von 2000 bis 2013 war er bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf tätig, 2003 wurde er deren Chefvolkswirt.

Herr Flassbeck, Sie betonen in ihren Texten und Vorträgen immer wieder, dass die Krise in Europa keine Staatsschuldenkrise sei. Warum halten Sie diesen Begriff für falsch?

Heiner Flassbeck: Weil es von Anfang an kein Problem bei den Staatsschulden gab, sondern es die Banken waren, die zu viele Schulden gemacht hatten. 2008 geriet die Welt in eine Bankenschuldenkrise. In dieser Bankenschuldenkrise haben dann die Staaten versucht, die Konjunktur zu stabilisieren, und sie haben Banken gerettet. Das hat natürlich Geld gekostet, wodurch die Staatsschulden gestiegen sind. Wenn ich das eine Staatsschuldenkrise nenne, erwecke ich den Eindruck - und das ist ja auch die Idee dahinter - dass die Staaten etwas falsch gemacht hätten. Die Staaten haben aber eigentlich nicht viel falsch gemacht. Sie haben auf das falsche Verhalten, auf das blödsinnige Verhalten der Banken reagiert.

Dieser Vorwurf, dass Staaten etwas falsch gemacht hätten, wird ja nicht nur im Bereich der Finanzpolitik immer wieder erhoben, sondern auch bei der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik. Dann wird behauptet, einige Länder seien zu teuer, die Löhne dort zu hoch, die Arbeitsmärkte zu unflexibel und diese Länder dadurch insgesamt nicht wettbewerbsfähig. Was ist daran falsch und wie hängt das mit diesem Vorurteil der Staatsschuldenkrise zusammen?

Heiner Flassbeck: Nachdem die Diskussion um eine Staatsschuldenkrise etwas abgeebbt ist, was seit etwa einem Jahr der Fall ist, hat sich eine andere Sichtweise durchgesetzt. Nun wird betont, wie ich das übrigens von Anfang an gesagt habe, dass die Krise mit der Wettbewerbsfähigkeit zu tun hat. Allerdings wird von Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble auch das wieder völlig falsch gedreht, nämlich in dem Sinne, dass die anderen alles falsch gemacht hätten, Deutschland hingegen alles richtig gemacht habe und immer noch alles richtig mache. Nun, wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen, das ist immer noch das gleiche Schema. Und doch ist auch das falsch, denn in der europäischen Währungsunion hat Deutschland viel zu geringe Lohnerhöhungen gehabt. Gemessen am gemeinsam beschlossenen Inflationsziel von zwei Prozent pro Jahr waren die Lohnsteigerungen in Deutschland viel zu gering. In anderen Ländern waren sie zu hoch. Das hätte man ausgleichen können durch eine vernünftige Koordination der Lohnentwicklung, auf welchem Wege auch immer. Es gibt dazu sogar eine Institution namens "Makroökonomischer Dialog". Die hätte man nutzen können, um diese Koordination zu Stande zu bringen. Das wird aber wieder nicht getan, sondern es wird jetzt einseitig auf Lohnsenkungen in den südeuropäischen Ländern gesetzt. Das ist fundamental falsch, weil es unmittelbar Arbeitsplätze vernichtet.

Der Alltagsverstand würde doch aber nahelegen, dass es eigentlich egal ist, ob nun in Südeuropa die Löhne gesenkt oder ob hierzulande die Löhne erhöht werden. Was genau ist da aus ökonomischer Sicht der Unterschied?

Heiner Flassbeck: Diese Sicht ist falsch. Die Lohnentwicklung insgesamt muss in der Tat korrigiert werden, aber von unten nach oben und nicht von oben nach unten. Lohnsenkung zerstört die Binnenkonjunktur. In den südeuropäischen Ländern hat die Binnennachfrage einen Anteil von 75 Prozent. Wenn man die Löhne senkt, senkt man die Binnennachfrage. Wenn man die Löhne um 20 Prozent senkt, dann senken die betroffenen Menschen sofort ihre Nachfrage um 20 Prozent. Die Wirtschaft bricht ein. Das kann niemals funktionieren. Wenn man umgekehrt in Deutschland, wo die Löhne ja zu wenig gestiegen sind, die Löhne kräftiger als bisher erhöhen würde, dann würde dies dazu führen, dass hier mehr nachgefragt wird. Genau das ist notwendig. Dann würden wir mehr importieren, und die südeuropäischen Länder hätten eine zusätzliche Exportmöglichkeit. Deswegen ist es nicht egal, ob man Löhne senkt oder erhöht.

Wie hängt diese Frage der Lohnentwicklung mit dem immer wieder zu hörenden Argument zusammen, dass in Südeuropa die Arbeitsmärkte zu unflexibel seien? Immerhin wird ja auch über "Reformen" geredet, beispielsweise über den Kündigungsschutz.

Heiner Flassbeck: Arbeitsmarktflexibilität hat mit der Währungsunion überhaupt nichts zu tun. Man kann in einer Währungsunion ohne Weiteres völlig unterschiedliche Arbeitsmarktregime haben. Ein Land kann mehr Kündigungsschutz haben, das andere weniger. Da kann jeder nach seiner Façon selig werden, da gibt es überhaupt keine Regel. Das einzige, was wirklich zählt, sind die Löhne bzw. die Lohnstückkosten, also die Löhne im Verhältnis zur Produktivität. Diese ganze Flexibilitätsdiskussion ist oben drauf gesetzt. Das ist die typische neoliberale Agenda, die wir schon seit 30 Jahren haben. Die wird jetzt wieder mit Gewalt durchgesetzt. Dagegen muss man sich wehren.

Warum sind neoliberales Denken, wie auch Forderungen nach Austeritätspolitik und Kürzungen, nach wie vor politisch dominant?

Heiner Flassbeck: Es gibt in Deutschland eine große Masse von Menschen, Politikern und Parteien, die sich einfach taub stellen. Die wollen die wichtigen Zusammenhänge einfach nicht hören. Oder aber sie drehen es sofort in ihrem Sinne, wie Merkel die Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Sie hat diesen Punkt ja sofort so gedreht, wie es in ihren Kram oder in den Kram der CDU passt. Auch wenn das europäisch und gesamtwirtschaftlich vollkommen unangemessen ist. Es gibt vor allem in CDU und FDP einen unheimlich harten Widerstand dagegen, zu sagen, dass Deutschland etwas falsch gemacht hat. Das ist aus der europäischen Perspektive eine furchtbare Politik, weil sie nicht nur wirtschaftlich falsch ist, sondern weil sie auch politisch unheimlich viel Porzellan zerschlägt. Sie zerstört, was mühsam in den letzten 50 Jahren aufgebaut worden ist. Ich glaube deswegen übrigens auch, dass Helmut Kohl eine solche Politik nicht mitgemacht hätte. Dazu war er viel zu sehr Europäer.

Warum findet diese Politik aber auch in den betroffenen Ländern Menschen, die sie durchführen? Warum tragen dort bisweilen selbst sozialdemokratische Parteien diese Politik mit?

Heiner Flassbeck: Die Sozialdemokratie neigt immer dazu, das zu tun, was der Mainstream sagt. Das ist kein besonderes Muster, sondern war eigentlich zu erwarten. Ja, aber warum machen die Politikerinnen und Politiker in den betroffenen Ländern das mit? Weil sie zunächst auch dieser falschen Diagnose aufgesessen sind. Und weil sie dann eben auch selbst denken, Deutschland sei stark, produktiv und gut und habe alles richtig gemacht. Umgekehrt fragen sie sich, was sie selbst alles falsch gemacht hätten, etwa ob sie nicht genug gearbeitet hätten und ähnliches. Es gibt einfach eine große europäische Konfusion über die Währungsunion, darüber, was eine Währungsunion verlangt und was nicht. Das kann uns aber nicht davon abhalten, weiter für das Vernünftige und das Richtige einzutreten. Ich plane gerade Reisen zu Politikern in Paris und in andere südeuropäische Länder. Wir versuchen dort, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie die Dinge sich wirklich entwickelt haben. Die Menschen in diesen Ländern sollten fragen, was wirklich falsch gelaufen ist.

Sie leben seit 13 Jahren in Frankreich, da haben Sie sicher einen ganz anderen Blick auch auf dieses Land. Wie sieht man in Frankreich die Rolle Deutschlands und die aktuelle Krise? Und umgekehrt, wie beurteilen Sie die zunehmende Kritik an Frankreich und seiner Wirtschaftspolitik, die es in den letzten Monaten seitens deutscher Politik und Medien gab?

Heiner Flassbeck: Diese Kritik, vor allem ja aus der FDP, stellt Frankreich ein nach eigenen Worten "verheerendes wirtschaftspolitisches Zeugnis" aus. Das ist aber nur ein verheerendes wirtschaftspolitisches Zeugnis für die FDP. Es zeigt, dass in dieser Partei niemand Ahnung von Wirtschaftspolitik hat, sonst würde man so etwas Dummes nicht sagen. Frankreich war, gerade bei der Lohnpolitik, das einzige Land, das alles richtig gemacht hat. Dort entsprach der Anstieg der Lohnstückkosten ziemlich genau dem Anstieg der Produktivität plus der gemeinsam beschlossenen Inflationsrate von zwei Prozent. Insofern ist das, was man an Lohnerhöhungen in Frankreich gesehen hat, genau das, was die Währungsunion erwartet hat und verlangt hat. Diese FDP aber tut so, als habe Deutschland mit seiner Niedriglohnpolitik das Richtige für die Währungsunion getan. Das zeigt nur, dass sie überhaupt nie begriffen haben, was die Währungsunion ist, warum man eine Währungsunion gemacht hat und was die gemeinsamen Vereinbarungen dafür waren. In Frankreich selbst wendet sich die öffentliche Debatte gerade. Man hat in der Tat lange Zeit diese Haltung gehabt, dass man wahrscheinlich selbst - und nicht Deutschland - etwas falsch gemacht habe. Deswegen hat man nach Möglichkeiten gesucht, wie man das korrigieren kann. Inzwischen aber erkennen immer mehr Leute, dass dem nicht so ist. Die Diskussion wird gerade sehr kritisch. Und natürlich hat der französische Präsident François Hollande schon von vornherein eine andere Einstellung zur Merkelschen Position gehabt als sein konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy. Ich glaube, in Frankreich beginnt man zu verstehen, dass man in Europa durchaus auch andere Koalitionen haben kann als nur die deutsch-französische.

Was bedeutet die Eurokrise für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa?

Heiner Flassbeck: Es ist, glaube ich, eine sehr große Gefahr. Man muss den Menschen positive Perspektiven bieten. Wir werden noch viele neue Regierungen sehen. Einmal wird links gewählt und einmal rechts, es geht hin und her. Die Menschen sind extrem verunsichert, und ab irgendeinem Punkt werden sie mit Gewalt verlangen, dass sich etwas zum Positiven wendet. Man kann die Situation nicht ständig verschlimmern und sagen, wenn ihr nur lange genug gelitten habt, wenn die Schmerzen und das Elend nur groß genug waren, dann werdet ihr wie Phönix aus der Asche wieder auferstehen. Das ist einfach dummes Zeug, das hat mit Ökonomie nichts zu tun. Man wird diese verheerende Politik den Menschen in Europa auch nicht beliebig lange verkaufen können. Dann aber stellt sich die Frage, welche Rattenfänger den Leuten erzählen, sie müssten nur sie wählen, dann wäre alles gut. Und nach der Wahl steigen diese Rattenfänger dann aus dem Euro aus oder machen irgendwelche anderen verrückten Sachen. Das ist in der Tat eine ganz große Gefahr für die Demokratie in Europa.

Heiner Flassbeck betreibt einen Blog flassbeck-economics mit aktuellen Berichten und Kommentaren zu wirtschaftspolitischen Themen. Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2013).

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/heiner-flassbeck-man-kann-diese-verheerende-politik-in-europa-nicht-beliebig-lange-verkaufen--1199.html   |   Gedruckt am: 19.04.2024