Inge Hannemann: "Hartz IV muss abgeschafft werden!"

28. Mai 2013 | Sebastian Friedrich

erview mit Inge Hannemann über das Hartz-IV-System. Sie ist kritische Mitarbeiterin in einem JobCenter in Hamburg. Als Journalistin schreibt sie über die Abläufe in den JobCentern und macht die Missstände in ihrem kritischen Hartz-IV-Blog öffentlich.

Was kritisieren Sie an Sanktionen?

Inge Hannemann: Der Hartz-IV-Regelsatz ist zu niedrig, um überhaupt damit zu leben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wenn sanktioniert, also gekürzt wird, ist das Existenzminimum definitiv unterschritten.

Warum ist Anzahl der Sanktionen seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 deutlich gestiegen?

Inge Hannemann: Von offizieller Seite heißt es, die Mitarbeiter im JobCenter würden qualitativer arbeiten, weil sie besser ausgebildet seien. Außerdem gebe es mehr Jobangebote, daher könne eher sanktioniert werden. Ich halte das für eine Lüge. Wir JobCenter-Mitarbeiter werden intern angetrieben, ganz strikt zu sanktionieren. Außerdem waren direkt nach der Einführung des Arbeitslosengeldes II die rechtlichen Regelungen noch sehr schwammig. Nachdem zunächst die Klagen der Erwerbslosen mehrheitlich gewonnen wurden, wurden die Gesetze in den letzten drei bis vier Jahren durch Juristen immer rechtssicherer gemacht.

Gibt es so etwas wie eine Sanktionsquote?

Inge Hannemann: Ja, die Teamleiter haben Quoten, wie viele Sanktionen in Prozent − gemessen an der Gesamtzahl der gemeldeten Erwerbslosen − ausgesprochen werden sollen. Anhand der Sanktionen wird ein Ranking erstellt. Zwar wird kein JobCenter wegen einer hohen Sanktionsquote ausgezeichnet, aber es spielt für die interne Beförderung der Mitarbeiter eine entscheidende Rolle.

Während Sie Sanktionen ablehnen, sind Sie aber nicht absolut gegen Maßnahmen.

Inge Hannemann: Ungefähr die Hälfte der Maßnahmen finde ich sinnvoll. Aber es gibt auch sehr viele sinnlose Maßnahmen, etwa wenn Erwerbslose den ganzen Tag puzzlen müssen oder in einem Plastikeinkaufsladen Plastikäpfel und -birnen umlagern. Ich vermittle nur in Absprache mit den Erwerbslosen − und wenn die Maßnahme sich als sinnlos erweist, hole ich sie da wieder raus. Die Freiheit haben wir als Arbeitsvermittler. Leider wird kaum von dieser Möglichkeit Gebraucht gemacht.

Sind die angesprochenen Missstände alleinig auf die Mitarbeiter zurückzuführen?

Inge Hannemann: Es ist auch ein strukturelles Problem. Wie jedes Unternehmen ist auch die Bundesagentur für Arbeit angehalten, wirtschaftlich zu arbeiten. Auch die JobCenter müssen entsprechend ihre Kosten gering halten. Da allerdings keine Produkte verkauft werden, kann nur wirtschaftlich gearbeitet werden, indem wir Leistungen kürzen, das heißt sanktionieren. Außerdem stehen die JobCenter untereinander in Konkurrenz.

Welche Rolle spielen im System Hartz IV Zeitarbeitsfirmen?

Inge Hannemann: Zeitarbeitsfirmen sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. In Hamburg hat sich die Zahl der Zeitarbeitsfirmen innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Von den etwa 1,1 Millionen Stellenangeboten, die wir auf unserer Seite haben, sind etwa 80 Prozent Leih- und Zeitarbeitsangebote. Vor drei Jahren war das Verhältnis noch etwa 50:50. Primär können wir nur in Zeitarbeit vermitteln und das ist gewollt.

Wie ist die Situation spezifisch für erwerbslose Migranten?

Inge Hannemann: Ich nehme vonseiten meiner Kollegen häufig Vorurteile gegenüber Migranten wahr. Migranten, insbesondere Roma, seien faul und würden gar nicht arbeiten wollen, heißt es etwa. Ich gehe davon aus, dass die Vorurteile bei Kollegen dazu führen, dass eher Sanktionen ausgesprochen werden. Ich beobachte auch, dass Migranten schlechter beraten werden als Herkunftsdeutsche.

Seit Einführung von Hartz IV wird der sozialpolitische Umbau mit Debatten um „faule“ Arbeitslose flankiert. Was ist ihre Erfahrung?

Inge Hannemann: Diejenigen, die nicht arbeiten wollen, sind keine „faulen Arbeitslosen“, sondern Aussteiger aus der Gesellschaft. Das hat nachvollziehbare Gründe. Wenn solche Aussteiger sagen, sie würden, ob sie arbeiten oder nicht, eine niedrige Rente erhalten oder einen Lohn erhalten, der nicht zum Leben reicht, muss ich ihnen Recht geben. Anstatt das Bild des faulen Arbeitslosen zu stützen, müssen die Gründe evaluiert werden, warum Menschen resigniert haben.

Zugleich erhalten Sie großen Zuspruch vonseiten der Medien. Überrascht Sie das?

Inge Hannemann: Ich bin verwundert, dass bisher die Berichte über mich fair und sachlich waren. Vor allem überrascht mich, dass in den Beiträgen durchaus Kritik an Hartz IV geäußert wird. Ich denke, für die Medien ist es besonders interessant, dass jemand mit einer Innensicht an die Öffentlichkeit geht. Wahrscheinlich erscheine ich auch glaubwürdiger als Erwerbslose.

Warum sind Sie die erste Whistleblowerin, obwohl Hartz IV schon vor mehr als acht Jahren eingeführt wurde?

Inge Hannemann: Ich vermute, meine Kollegen haben Angst vor Kündigungen. Diese Angst ist vor allem für befristete Mitarbeiter berechtigt. Kritischen Mitarbeitern würden schlicht die Verträge nicht verlängert, wenn sie eine schlechte Beurteilung bekämen.

Viele Parteien fordern Nachbesserungen bei Hartz IV. Ist es damit getan?

Inge Hannemann: Nein, als erstes muss ein Sanktionsmoratorium her. Das Ziel muss es aber sein, Hartz IV gänzlich abzuschaffen, denn es ist verfassungsfeindlich und menschenunwürdig. Von den meisten Parteien, einschließlich der SPD und den Grünen, ist eine Abschaffung allerdings nicht zu erwarten.

Inge Hannemann erklärte öffentlich, sie werde keine Sanktionen mehr verhängen. Zudem bloggt sie lautstark gegen Hartz IV (altonabloggt.wordpress.com und www.ingehannemann.de). Ende April wurde sie von ihrem Arbeitgeber freigestellt. Sebastian Friedrich sprach wenige Tage zuvor mit ihr.

Das Interview erschien zuerst in ak - analyse und kritik Nr. 583, 17. Mai 2013, S. 34. Ich danke für die Genehmigung zur Übernahme des Textes. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.

Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.

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