21. März 2013 | Patrick Schreiner
letzten Tagen haben sich SPD und Grüne, von der medialen Öffentlichkeit eher am Rande registriert, kleinere Scharmützel mit durchaus interessanten Implikationen geliefert. Ausgangspunkt war die Debatte um das zehnjährige Jubiläum der Agenda 2010 – und die Frage, ob ein Mindestlohn möglicherweise ergänzt werden müsste um das vorübergehende Aussetzen der Sanktionen gegen „arbeitsunwillige“ Hartz-IV-EmpfängerInnen. Ein guter Zeitpunkt, auf einige grundlegendere arbeitsmarktpolitische Zusammenhänge hinzuweisen.
Hinsichtlich der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit der Agenda 2010 sowie der damit durchgesetzten „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts waren und sind sich SPD und Grüne nach wie vor einig. In ihren Augen waren und sind diese Maßnahmen alternativlos, allerdings gehe es nun darum, die schlimmsten sozialen Folgen (Zunahme des Niedriglohnsektors und Prekarisierung) zu bekämpfen – und zwar durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Die Grünen fielen in diesen Diskussionen durch ein kleines argumentatives Farbtüpfelchen auf: Ihre Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt sprach sich für ein „Moratorium“ bei Hartz-IV-Sanktionen aus. Die SPD, namentlich Parteichef Sigmar Gabriel, widersprach vehement. Letztlich offenbarten damit aber beide, wes‘ Geistes Kind sie sind. Denn Sanktionen wollen sie beide grundsätzlich beibehalten. Und von weitergehenden Änderungen reden sie schon gar nicht.
Erinnern wir uns: Von der populistischen Parole „Fördern und Fordern“ ausgehend, rückte mit Hartz IV die „Fordern“-Komponente deutlich in den Vordergrund. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurden im Arbeitslosengeld II auf dem niedrigen Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt. Die Möglichkeit, schlecht bezahlte Arbeit oder Arbeit unterhalb des eigenen Qualifikationsniveaus abzulehnen, wurde abgeschafft. Und um den Zwang in schlechte Arbeitsverhältnisse durchzusetzen, hat Rot-Grün Sanktionen – also Strafen – für „Arbeitsunwillige“ deutlich ausgeweitet.
Gerade durch diese Ausweitung von Sanktionen gegen „arbeitsunwillige“ Arbeitslose konnte der Niedriglohnsektor überhaupt erst im heutigen Ausmaß entstehen. Die politische Forderung nach einem Mindestlohn hängt daher mit dem Verfall des sozialen Mindestsicherungsniveaus in Deutschland auch ursächlich eng zusammen. Letzteres entspricht nämlich faktisch einem Mindestlohn. Wenn die Menschen wissen, sie können im Falle der Arbeitslosigkeit mit einer staatlichen Unterstützung von x Euro rechnen, so werden sie keine Beschäftigung unter x Euro annehmen. Es sei denn, natürlich, sie werden durch Strafen und Sanktionen staatlicherseits gezwungen, auch unter x Euro zu arbeiten.
Das bekannte und seit Jahrzehnten breitgetretene Argument, eine arbeitende Person dürfe nicht schlechter gestellt sein als eine, die nicht arbeitet, erweist sich damit als dumm und demagogisch. Denn es gilt nun einmal die Grundregel: Solange niemand (durch rechtliche Maßnahmen oder sozialen Druck) in schlecht bezahlte Jobs gezwungen wird, wird auch niemand unterhalb des sozialen Mindestsicherungsniveaus arbeiten. Und doch wurde unter Rückgriff auf genau dieses demagogische Argument das soziale Mindestsicherungsniveau gesenkt, wurden Sanktionen ausgeweitet. Dadurch wurde eben genau jener Zustand herbeigeführt, der eigentlich verhindert werden sollte. Denn je mehr Sanktionen gegen Arbeitslose ausgeweitet wurden, desto mehr prekär Arbeitende gab es, musste es geben, die weniger verdienten als Arbeitslose. Sozialabbau und Sanktionen gegen „Arbeitsunwillige“ setzten so eine sich selbst verstärkende Spirale nach unten in Gang. Eine Spirale, bei der das eben genannte Argument umso überzeugender zu sein schien, je weiter sich diese Spirale gedreht hat.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass auch die Gewerkschaften erst nach den verheerenden Erfahrungen mit Hartz IV und Agenda 2010 einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn auf ihre politische Agenda setzten. Und so wichtig und richtig ein solcher Mindestlohn heute auch ist – er ist und bleibt eine hilfsweise Abwehrmaßnahme. Eine Abwehrmaßnahme, weil das sehr viel richtigere und sehr viel wichtigere Ziel nicht (mehr) durchsetzbar erscheint. Dieses Ziel müsste nämlich eigentlich sein, das soziale Mindestsicherungsniveau auf eine menschenwürdige Höhe deutlich anzuheben, Sanktionen gegen „Arbeitsunwillige“ abzuschaffen und Menschen nicht unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten zu lassen.
Wenn Jürgen Trittin heute im Rahmen der eingangs skizzierten Diskussionen zwischen SPD und Grünen behauptet, die Grünen hätten eigentlich Hartz IV nur mit einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gewollt, so ist das ein ebenso billiges wie unzureichendes Argument. Billig, weil er damit die Schuld an der verheerenden rot-grünen Arbeitsmarktpolitik einzig der SPD in die Schuhe schieben will. Unzureichend, weil es zur Bekämpfung von Niedriglöhnen und prekären Arbeitsverhältnissen eigentlich effektivere Strategien und Maßnahmen gibt.
Wer wirklich etwas gegen Ausbeutung, gegen prekäre Arbeit und gegen Niedriglöhne tun möchte, der müsste die eben genannten Maßnahmen ergreifen: Das soziale Mindestsicherungsniveau auf eine menschenwürdige Höhe deutlich anheben, Sanktionen gegen „Arbeitsunwillige“ abschaffen und Menschen nicht unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten lassen. Erst wenn die Menschen (wieder) in die Lage versetzt werden, schlechte Arbeit rigoros abzulehnen, ohne ins soziale Nichts zu fallen, wird es wirklich keine schlechte Arbeit mehr geben.
Genau dafür sind SPD und Grüne blind. Vielleicht ist die Debatte um zehn Jahre Agenda 2010 und die aktuelle Wahlkampf-Diskussion um einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn ein guter Anlass, wieder an diese grundsätzlicheren arbeitsmarktpolitischen Zusammenhänge zu erinnern.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.
URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/grundsaetzliches-zum-streit-von-spd-und-gruenen-um-mindestlohn-und-hartz-iv-sanktionen--1150.html | Gedruckt am: 12.11.2024