Griechenland: Die Ökonomie ist "klinisch tot"

14. März 2013 | Gregor Kritidis

e der europäischen Krise ist Griechenland zunächst als Einzelfall, dann als extremer Sonderfall der europäischen Mittelmeerländer betrachtet worden. Nach vorherrschender Deutung waren (und sind) südeuropäischer Schlendrian in Verbindung mit balkanischer Vetternwirtschaft die grundlegende Ursache für die Krise der griechischen Staatsfinanzen. Sieht man einmal von den kulturrassistischen Untertönen vieler Kommentare ab, so sticht in Griechenland in der Tat der zentrale Einfluss des Staates, die traditionell niedrige Steuerquote sowie der Umfang der Schattenwirtschaft hervor. Allerdings sind diese Faktoren nur von begrenzter Aussagekraft für die Frage, warum Griechenland zu einem zentralen europäischen Krisenherd avanciert ist.

Die These, dass Modernisierungsrückstände eine der wesentlichsten Krisenursachen seien, ist nicht nur vor dem Hintergrund fragwürdig, dass die Krise in den USA ihren Ausgang genommen hat. Sie verstellt auch den Blick auf die strukturellen Gemeinsamkeiten Griechenlands mit anderen Ländern der europäischen Peripherie. Wie ich im Folgenden argumentiere, ist eher die Gegenthese zutreffend: Die unter neoliberalen Vorzeichen erfolgten wirtschaftlichen Wachstums- und Modernisierungsprozesse haben sich in Griechenland in einer besonders scharfen Widersprüchlichkeit entfaltet.

In den 1990er und 2000er Jahren galt die "Hellas AG" mit Wachstumsraten von teilweise über vier Prozent - vor der Olympiade 2004 wurden fast sechs Prozent erreicht wenn auch nicht als Vorbild, so doch als ökonomisches Erfolgsmodell. Nach dem Beitritt zur Europäischen Union (EU) wurde mit Hilfe von Mitteln aus den EU-Strukturfonds die Landwirtschaft industrialisiert; große Investitionen in die Infrastruktur stärkten mit dem Tourismus und dem Transportsektor weitere ökonomisch zentrale Bereiche. Diese Wirtschaftsbereiche beeinflussten neben der Handelsschiffahrt - rund 18 Prozent des weltweiten Seehandels wird von griechischen Reedern kontrolliert - zwar positiv die griechische Leistungsbilanz, hatten jedoch ökologisch und sozial, aber auch ökonomisch äußerst negative Folgen. Durch die finanziellen Anreize der EU gaben zahlreiche Fischer ihr Gewerbe auf oder stiegen auf ökologisch zweifelhafte Formen der Fischzucht um, zahlreiche Bauern legten Flächen still und rodeten ihre Obstbäume, um lukrativere Früchte anzubauen, mit der Folge des Entstehens ausgedehnter Monokulturen exportfähiger Cash-Crops. Diese Industrialisierungprozesse betrafen aber nicht die Landwirtschaft insgesamt; so wurde Thessalien, traditionell die Kornkammer Griechenlands, im Gegensatz zu den Gebieten mit Obstanbau ökonomisch abgehängt und in den 1990er Jahren zum Zentrum massiver Bauernproteste. Bestimmte Produkte, etwa Kartoffeln oder Zitronen, werden mittlerweile importiert. Durch die Zuwanderung von Arbeiterinnen und Arbeitern aus Osteuropa, Asien und Nordafrika seit Beginn der 1990er Jahre konnten in der Landwirtschaft und im Tourismus, aber auch im Bausektor die Löhne massiv gesenkt werden.

Die griechische Jugend zielte zunehmend auf Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor und im erweiterten staatlichen Bereich. Mit rund vier Milliarden Euro machten die griechischen Eltern das Land zum europäischen Spitzenreiter bei den privaten Bildungsausgaben. Das zentrale neoliberale Versprechen des individuellen Aufstiegs durch höhere Bildung wurde jedoch immer wieder durch Reformen des Prüfungswesens, Kürzungen des Bildungshaushalts und den Abbau von Studienplätzen konterkariert. Nicht zufällig haben daher in den letzten 20 Jahren im Bildungsbereich die härtesten sozialen Auseinandersetzungen stattgefunden.

Die Kopplung an die zentraleuropäischen Währungen, die in den Beitritt zur Eurozone im Jahr 2000 mündete, hatte in diesem Zusammenhang ebenfalls äußerst problematische Folgen. Mit dem Wegfall des Wechselkursmechanismus verlor die ohnehin schwache griechische Industrie an Konkurrenzfähigkeit. Dies hatte ausgedehnte Deindustrialisierungeffekte zur Folge; so schloss etwa die größte Textilfabrik Griechenlands, die Piraiki-Patraiki, in den 1990er Jahren ihren Tore. Überdeckt wurden diese Deindustrialisierungsprozesse durch kreditfinanzierte staatliche Ausgaben in die Infrastruktur.

Der entscheidende Motor des griechischen Wirtschaftswunders war - ebenfalls auf Basis niedriger Löhne infolge der Zuwanderung - die Bauindustrie. Die durch günstige Kredite und EU-Beihilfen staatlich finanzierten Großprojekte - die "Megala Erga" - befeuerten die Konjunktur insgesamt. Die Liste dieser Großprojekte ist lang; zu nennen wären unter anderem die Attische Ringstraße, die Autobahn von Igoumenitsa an der westgriechischen Küste zur türkischen Grenze, der Athener Flughafen, die Athener U-Bahn, die Brückenverbindung zwischen der Peleponnes und dem westgriechischen Festland, die Bauten zur Olympiade 2004, der Ausbau der Autobahn Athen-Thessaloniki und die Athener Ringbahnlinie. An all diesen Großprojekten waren und sind große ausländische Konzerne wie etwa Hochtief und Siemens beteiligt. In diesem Zusammenhang ist es auch zu umfangreichen Schmiergeldzahlungen gekommen. Allein Siemens soll Presseberichten zufolge über 150 Millionen Euro an "Mises" (Schmiergeld) an die politischen Parteien in Griechenland gezahlt haben. Die Wortschöpfung "Misens" (aus Siemens und Mises) ist mittlerweile zum Synonym für Korruption geworden. Das griechische Parlament hat offiziell festgestellt, dass Siemens die öffentliche Hand um mindestens zwei Milliarden Euro geschädigt habe. Der juristische Konflikt in dieser Frage ist mittlerweile durch einen Vergleich beigelegt worden, der neben geringen Ausgleichszahlungen von Siemens finanzielle Mittel für einen Topf zur Korruptionsbekämpfung vorsieht.

Die Großprojekte, deren ökonomischer und gesellschaftlicher Nutzen ebenso zweifelhaft ist wie ihr ökologischer Schaden offensichtlich, haben wesentlich zur öffentlichen Verschuldung beigetragen. In der ökonomischen Struktur unterscheidet sich diese Baukonjunktur vom spanischen oder irischen Bauboom nur dadurch, dass es sich nicht um private Bauherren handelte.

Ein zweiter wesentlicher Faktor für die griechische Staatsverschuldung war der exorbitante Rüstungs- bzw. Verteidigungsetat, der mit vier Prozent des BIP - rund zehn Milliarden Euro pro Jahr - den europäischen Durchschnitt bei Weitem übertraf. Dabei wurden unter anderem Kampfflugzeuge und Fregatten aus Frankreich sowie Panzer und U-Boote aus Deutschland beschafft. Auch in diesem Zusammenhang kam es zu umfangreichen Korruptionsfällen, so sind mittlerweile der ehemalige Verteidigungsminister sowie Teile seiner Familie in Haft.

Eine wichtige Ursache für die Verschuldung des griechischen Staates liegt jedoch in der ausufernden legalen wie illegalen Steuerhinterziehung begründet. Ganz im Sinne neoliberaler Dogmen wurde beispielsweise die Unternehmensbesteuerung mehrfach gesenkt, während auf die Verfolgung von Steuerhinterziehung weitgehend verzichtet wurde. Schätzungen zufolge hatte die griechische Oberschicht zeitweilig alleine bei Schweizer Banken über 200 Milliarden Euro angelegt. Gegenwärtig ist die Steuerhinterziehung ein heftig umkämpftes Thema; eine Liste von über 2000 Personen mit Konten in der Schweiz ist monatelang von der griechischen Regierung unter Verschluss gehalten worden neben vielen Prominenten befinden sich unter den Namen auch Familienangehörige des ehemaligen sozialdemokratischen Wirtschafts- und Finanzministers Giannos Papantoniou.

Die EU hat auf Antrag der griechischen Regierung in Kooperation mit dem (europäisch geleiteten) Internationalen Währungsfonds (IWF) massiv in die inneren Verhältnisse Griechenlands eingegriffen. Im Mai 2010 wurden zwischen den Staaten der Eurozone und dem IWF einerseits und der griechischen Regierung andererseits unter Ausschluss der Öffentlichkeit Kreditverträge abgeschlossen, die einem Ende der parlamentarischen Demokratie gleichkommen. In dem zu den Verträgen gehörenden Memorandum wurde bis ins Detail geregelt, welche Maßnahmen von der griechischen Regierung zu welchem Zeitpunkt ergriffen werden müssen. Wie auch in allen folgenden Verträgen und Vereinbarungen waren die Maßnahmen keinesfalls nur auf Budgetkürzungen, etwa die Senkung von Löhnen und Gehältern oder die Streichung von Stellen im öffentlichen Dienst, sowie auf Erhöhungen von Verbrauchssteuern und Privatisierungen von Staatseigentum beschränkt. Neben Eingriffen in die Verwaltungsstruktur, etwa die Zusammenlegung von Kommunen, lag der Fokus auf dem Arbeits-, Sozial- und Tarifrecht. Mit "Reformen" waren und sind vorrangig Maßnahmen intendiert, die direkt oder indirekt Lohnsenkungen ermöglichen und die die abhängig Beschäftigten ihrer Rechte berauben. Zwischen 2010 und Ende 2012 sind die Löhne um 22 Prozent gesunken, während die Arbeitslosigkeit auf 33 Prozent gestiegen ist. Bei den jüngeren Leuten beträgt die Erwerbslosenquote fast 50 Prozent. Mittlerweile steht das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts blutig erkämpfte Koalitionsrecht selbst zur Disposition, also das Recht zu streiken und kollektive Arbeitsverträge abzuschließen.

Mit dem Memorandum wurde unter Verletzung europäischer und völkerrechtlicher Normen nicht nur die griechische Verfassung ausgehebelt, es wurden auch neue Institutionen installiert: Neben der aus Vertretern des IWF, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank bestehenden und von dem Briten Paul Thomson geführten Troika die beiden anderen Vertreter sind die Deutschen Matthias Mors und Klaus Masuch wurde eine von Horst Reichenbach geleitete Task-Force ins Leben gerufen, die die Tätigkeit der griechischen Regierungen dauerhaft überwacht. Faktisch steht Griechenland damit unter internationaler Verwaltung, wobei aufgrund der personellen Zusammensetzung die Bundesregierung einen maßgeblichen Einfluss ausübt.

Die hinter den Maßnahmen der Troika stehende Logik ist neoliberal: An die Stelle der durch die Mitgliedschaft in der Eurozone unmöglich gewordenen äußeren (Währungs-) Abwertung soll die "innere Abwertung" von Löhnen, Gehältern, Renten und sonstigen Transferzahlungen treten, um die "Wettbewerbsfähigkeit" der griechischen Wirtschaft wiederherzustellen. Das hat zur Folge, dass zwar seit 2010 rasant die Lohnstückkosten in Griechenland fallen, griechische Unternehmen dennoch in großer Zahl die Flucht aus der Eurozone angetreten haben und nach Bulgarien ausgewichen sind. Und da es antike Stätten und Sonne auch in der Türkei gibt, wird auch die griechische Tourismusindustrie kaum durch Lohnsenkungen an Boden gewinnen. Überhaupt beträgt das griechische Exportvolumen kaum zehn Prozent des BIP, wobei rund 20 Prozent der Exporteinnahmen auf die Ausfuhr von Industrieprodukten entfallen.

Vollkommen fatal hat sich die Politik der Troika auf die Konjunktur ausgewirkt. Da diese außer von den Großinvestitionen vor allem von der Binnennachfrage abhängig war, ist sie mit der Kürzungs- und Austeritätspolitik vollkommen zusammengebrochen. Seit fünf Jahren befindet sich die Wirtschaft auf Talfahrt, und trotz massiver Steuererhöhungen auf allen Ebenen (von der Steuer auf Fastfood bis zur Wohnungssteuer) sind auch die Steuereinnahmen eingebrochen. In der Folge steigt die Staatsverschuldung trotz des Schuldenschnitts Anfang 2012 sowohl absolut als auch in Relation zum Bruttoinlandsprodukt weiter an - eine Entwicklung, die den europäischen Regierungen großes Kopfzerbrechen bereitet, da die sogenannte "Schuldentragfähigkeit" weder gegenwärtig noch in Zukunft gegeben ist. Bisher konnten die Ansprüche der Gläubiger durch eine massive Enteignung der Unter- und Mittelschichten bedient werden. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis dieser Prozess an eine Grenze stößt.

Seit 2010 ist der Widerstand der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen massiv angewachsen. Wie in Tunesien, Ägypten und Spanien auch, erschütterte eine breite Demokratiebewegung das politische System. Mehrfach wechselte die Regierung in Athen, nur durch Interventionen von außen konnte der Kurs der Troika stabilisiert werden.

Es gibt jedoch ein objektives Dilemma, auf das die oppositionellen Kräfte in Griechenland bisher keine Antwort gefunden haben: Der Beitritt zur Währungsunion, vor allem ein Projekt der griechischen Eliten, war zweifellos ein historischer Fehler. Es ist aber ohne ökonomische, soziale und politische Verwerfungen größten Ausmaßes nicht möglich, diesen Fehler zu korrigieren. Ohne eine breite Kooperation mit den anderen Ländern der europäischen Peripherie wird es Griechenland unmöglich sein, sich aus der politischen und ökonomischen Zwangsjacke der EU zu befreien.

Dieser Artikel erschien in einer erweiterten Fassung zuerst in WISO-Info Ausgabe 1 (2013).

Gregor Kritidis studierte Politische Wissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an den Universitäten Hannover und Athen und promovierte 2007 in Hannover. Seit 2000 ist er Redakteur des Internetmagazins www.sopos.org.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/griechenland-die-oekonomie-ist-klinisch-tot--1130.html   |   Gedruckt am: 29.04.2024