Die Rückkehr der Schlotbarone

30. Oktober 2012 | Ingo Schmidt

tschaftspresse, allen voran das Düsseldorfer Handelsblatt, hat ein neues Thema. Artikel nach Artikel preist deutsche Ingenieurskunst, Facharbeiter und Unternehmergeist als Grundlagen von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Von Bankzusammenbrüchen, Finanz- und Schuldenkrisen geplagten Ländern wird die Übernahme des deutschen Produktionsmodells als Ausweg aus monetären Kalamitäten empfohlen. Je mehr die Innovationskraft dieses Modells betont wird, umso mehr fühlt man sich bei der Lektüre dieser Artikel in die Zeit des auf- und auswärts strebenden deutschen Kapitalismus zurückversetzt.

Damals wie heute sollte am deutschen Industriewesen die Welt genesen. Damals wie heute musste sich der an Rhein und Ruhr beheimatete Akkumulations- und Missionstrieb gegen zahlreiche Feinde durchsetzen. Zu Kaisers Zeiten gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, die Kontrolle des Weltmarktes durch England und aufkommende Industriekonkurrenz in Russland. Heute gegen Merkels Energiewende, die in Sozial- und Steuerstaaten institutionalisierte Sozialdemokratie und das von London und New York kontrollierte Weltfinanzsystem.

Verwundert reibt man sich die Augen. Haben sich die nationalen Industriekonzerne nicht in globale Produktionsnetzwerke aufgelöst? Hat die Informationstechnologie nicht die Grundlage für den Übergang von ressourcenintensiver Industrieproduktion zu energiesparenden Wissensgesellschaft geschaffen? Wurden Finanzmärkte nicht als demokratische Alternative – Motto: Ein Dollar, eine Stimme – zu Verbändestaat und Ministerialbürokratie gepriesen? Haben die Sozialdemokraten nicht den Dreisatz von Globalisierung, Wissensgesellschaft, und schlankem Staat angestimmt, nachdem erhebliche Teile ihrer Blaumann tragenden Basis in Niedriglohnländer verlagert wurden? Hat das Handelsblatt nicht mit anderen bürgerlichen Zeitungen vom Fall der Berliner Mauer 1989 bis zum Platzen der dot.com-Blase 2001 die New Economy herbeizuschreiben versucht? Danach wurde der Ton neuwirtschaftlicher Selbstgewissheit zittrig, war aber noch nicht völlig verklungen. Im Zuge der Großen Rezession 2008/9 wurde die New Economy zum Green New Deal, der im Gegensatz zum Vorgängermodell aber nicht quer durchs bürgerliche Pressespektrum feilgeboten wurde. Uneingeschränkte Unterstützung kam und kommt nur von der Berliner taz.

Legt die Wirtschaftskrise nun den industriekapitalistischen Kern der Weltgesellschaft frei, der im Überschwang der sowjetkommunistischen Pleite vorübergehend aus dem Blick geraten war und dieser Tage nur noch von den Postmaterialisten der taz und dem mittlerweile geschassten Umweltminister Röttgen verdrängt wird?

Dass New Economy und Globalisierung weder den Kapitalismus mit seinen Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen noch die dazugehörige Naturzerstörung aufheben, ist von linken Kritikern immer wieder betont worden. Die sozialen und ökologischen Katastrophen, die mit der Herausbildung der vorläufig letzten Phase des Kapitalismus verbunden waren, haben sogar eine Gegenbewegung hervorgebracht. Allerdings hat der Sand, den die Globalisierungskritiker von attac und diversen Sozialforen ins kapitalistische Getriebe streuen wollten, die globale Akkumulationsmaschine bestenfalls hier und da ins Stottern gebracht. Fast ungebremst lief sie heiß, um dann mit großem Börsen- und allgemeinem Wirtschaftskrach zum Halten zu kommen. Kolbenfresser. Seither kracht es auch immer wieder zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen. Die Einheitsfront aus großem Geld, dessen Zauberlehrlinge immer ambitioniertere Renditevorgaben aus ihren Charts zauberten, und Industrieführern, die diese Vorgaben in stets neue Formen der Ausbeutung von Natur und lebendiger Arbeitskraft übersetzt haben, ist brüchig geworden. Im ideologischen Kampf steigern sich diese Gegensätze bis zum Bruderkrieg zwischen Geld und Industrie.

Diese Zuspitzung geht nicht allein auf das Konto übereifriger Journalisten, sondern hat einen ganz rationellen Kern. Zwar bemühen sich die Herrscher über Geldströme und Produktionsprozesse gemeinsam um die Abwälzung der Krisenlasten auf Arbeiterklasse und Natur. Sie fürchten aber, dass ein Teil dieser Kosten an ihnen hängen bleibt und da fängt der Streit innerhalb der Kapitalistenklasse an. Die einen wollen unbegrenzte Staatsgarantien ihrer von Angebot und Nachfrage auf Schrottwert heruntergesetzten Geldvermögen, die anderen fürchten, entsprechende Maßnahmen zur Rettung des Finanzsektors würden zu Steuererhöhungen und Inflation und daher sinkender Wettbewerbsfähigkeit führen. Diese kann sich das industrielle Kapital in Zeiten eines verschärften Kampfes um Marktanteile aber ebenso wenig leisten wie eine Kosten treibende Energiewende, deren Hardware, so fürchten deutsche Mittelständler, zunehmend aus China importiert wird.

Nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" trommeln sie nun für die Fortsetzung eines industriepolitischen Kurses, der nach deutscher Einheit, EU-Binnenmarkt und Währungsunion für steigende Profite gesorgt hat. Den damals neuen Ländern wurde das deutsche Produktionsmodell ebenso als Vorbild verkauft wie heute Griechenland, Spanien und Portugal. Unter Bedingungen der deutsch-deutschen Währungsunion wurden aber kaum neue Industrien aufgebaut sondern alte platt gemacht, aus deren Ruinen später einige Zulieferer zunehmend europäischer oder gar globaler Produktionsnetzwerke entstanden sind. Das westdeutsche Großkapital sicherte sich die Kontrolle vieler dieser Netzwerke samt des dabei anfallenden Extramehrwerts, während der mittelständische Maschinen- und Anlagenbau am Aufbau von Zulieferbetrieben und ihrer logistischen Anbindung verdiente.

Mit der Ausweitung dieser Produktionsnetzwerke nach Ost- und Südeuropa wurden jedoch zunehmend Überkapazitäten aufgebaut, so dass sich die Renditevorgaben der Finanzmärkte nicht immer erreichen ließen. Das Resultat war die bis heute anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise, deren politische Verarbeitung dann zur Eurokrise geführt hat. Und das ist genau der Ansatzpunkt, um noch nicht unter der Kontrolle von multinationalen Konzernen befindliche Unternehmen zu übernehmen.

Je mehr die Akkumulation des Kapitals stagniert, desto mehr beschleunigen sich seine Konzentration und Zentralisation. Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass das deutsche Produktionsmodell von anderen Ländern übernommen wird, wie die hiesige Wirtschaftspresse suggeriert, sondern dass möglichst viele Betriebe in Konzerne mit deutschem Stammsitz eingegliedert werden. Auf diese Weise soll der Standort Europa für die Weltmarktschlachten mit den Aufsteigerländern China, Indien und Brasilien fit gemacht werden. Denn dass diese Länder sich nicht ebenso leicht an die Wertschöpfungskette etablierter Wirtschaftsmetropolen legen lassen wie die Peripherien Ost- und Südeuropas, ist auch dem eifrigsten deutschen Industriellen klar. Andererseits sind sie mit dem Produktionspotenzial dieser Aufsteigernationen bestens vertraut – haben sie doch mit ihren Investitionsgüterexporten erheblich zu dessen Aufbau beigetragen.

Das ohnehin bestehende Problem der Überkapazitäten verschärft sich noch, die nächste weltweite Überproduktionskrise hat bereits begonnen und gewinnt allmählich an Fahrt. Sie wird die deutschen Ideologie- und Industrieexporteure lehren, dass die Ausweitung der Produktion, und erfolge sie noch so effizient, keineswegs die zu ihrem Absatz notwendige Nachfrage schafft. Die in London ansässige Financial Times und ihr deutscher Ableger erinnern regelmäßig an diese keynesianische Grundweisheit. Sie argumentieren für eine Krisen begrenzende Nachfragesteuerung, um einen weiteren Schub der Vermögensentwertung zu verhindern. Ausgerechnet aus dem Finanzzentrum London, dass dem deutschen Unternehmertum als Hort kurzsichtigen Abenteurertums gilt, wird wirtschaftspolitische Vorsicht angemahnt. Gleichzeitig geht genau dieses Unternehmertum das Risiko ein, in seinem Kampf um Weltmarktanteile einen wirtschaftlichen Totalschaden auszulösen. Man muss kein Ingenieur sein, um zu wissen, dass man kein Exportgas geben darf, wenn der Konjunkturmotor bereits mit Kolbenfresser liegen geblieben ist.

Ingo Schmidt leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Vancouver (Kanada).

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