Tarifbindung auf Talfahrt

30. Mai 2018 | Markus Krüsemann

Wenn Arbeitsverhältnisse nur nach Gutdünken derjenigen ausgestaltet wären, die die Arbeitsplätze anbieten, hätten die auf Arbeit angewiesenen Beschäftigten wenig zu lachen. Wie wenig, das verrät ein Blick auf die frühkapitalistischen Zustände des 19. Jahrhunderts, für die man am besten einen Klassiker konsultiert: Friedrich Engels hat in seinem Werk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« die überaus elenden Arbeits- und Lebensbedingungen eindrucksvoll festgehalten. Von solchen Zuständen sind die ArbeitnehmerInnen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften (nicht aber in der Peripherie der Schwellen- und so genannten Entwicklungsländer!) zum Glück weit entfernt. Sie profitieren von Erfolgen der Arbeiterbewegung, zu denen die Etablierung eines Systems der kollektiven Interessenvertretung zählt.

Wenn die Hauptakteure der Interessenvertretung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verbindlich festlegen, so geschieht dies in Tarifverträgen. Darin haben sich die so genannten Tarifpartner auf Mindeststandards geeinigt, die in allen Betrieben und Unternehmen gelten sollen, die diese Verträge anerkennen und sich damit der Tarifbindung unterwerfen. Solche Standards umfassen neben der Höhe der Entlohnung auch Aspekte der Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeiten oder Urlaubsansprüche und vieles mehr.

Die Bereitschaft der Unternehmen, sich Tarifverträgen zu unterwerfen, war bis in die 1990er Jahre in Deutschland recht ausgeprägt. Nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die im Rahmen des IAB-Betriebspanels, einer jährlichen Befragung vom mehr als 15.000 Betrieben, erhoben werden, hatten 1998 noch 77 Prozent der westdeutschen und 63 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben gearbeitet, in denen branchenweit oder für einzelne Betriebe verbindliche Tarifvereinbarungen zur Anwendung kamen. Seitdem aber entziehen sich immer mehr Betriebe der Bindung an Tarifverträge.

Wie obige Grafik zeigt, ist die Verbreitung von Branchen- und Firmentarifverträgen (gemessen an der Zahl der von ihnen erfassten Beschäftigten) seit 1998 ziemlich kontinuierlich gesunken. Nachdem sich der Abwärtstrend in den Jahren 2014 bis 2016 abgeschwächt hatte, sah es zunächst so aus, als sei die Zeit der massiven Tarifflucht vorbei . Die letzte Woche vom IAB veröffentlichen Zahlen für 2017 zeigen jedoch ein anderes Bild: Sowohl in West- als auch in Ostdeutschland ist der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifverträgen noch einmal um jeweils zwei Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr zurück gegangen. Mittlerweile arbeiten nur noch rund 49 Prozent der westdeutschen und 34 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben mit Bindung an einen Branchentarifvertrag. Hinzu kommen 8 Prozent der westdeutschen und 10 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten, die unter dem Schutz von Firmen- oder Haustarifverträgen gearbeitet haben.

Im Umkehrschluss wird die Problematik dieser Entwicklung deutlicher: Etwa 43 Prozent der westdeutschen und 56 Prozent der ostdeutschen ArbeitnehmerInnen haben 2017 in Betrieben gearbeitet, die sich jeglicher Tarifbindung entzogen haben. Mit Blick auf die Betriebe wird das Ausmaß der Abwärtsentwicklung noch deutlicher: In 71 Prozent der westdeutschen und 81 Prozent der ostdeutschen Betriebe gibt es keinerlei Tarifbindung mehr. Zwar gab knapp die Hälfte dieser Betriebe in der IAB-Befragung an, sie würde sich an den Branchentarifverträgen »orientieren«, das aber kann alles mögliche bedeuten. In der Praxis bedeutet es vor allem, also oftmals, »ganz erheblich schlechtere Bedingungen« , bringt es Stefan Sell auf den Punkt.

Betrachtet man die absolute Zahl tarifgebundener und nicht-tarifgebundener Beschäftigter, so wird deutlich: Das Wachstum der Beschäftigung, das Deutschland in den letzten Jahren gesehen hat, war faktisch ein Wachstum nur der nicht-tarifgebundenen Beschäftigung. Während heute trotz insgesamt stark gestiegener Zahl an Arbeitsstellen weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Tarifverträgen erfasst sind als in den Jahren 2000/2001, ist seit damals die Zahl der nicht-tarifgebundenen Beschäftigten von etwa neun auf fast 15 Millionen Menschen angestiegen.

Tarifflucht ist auch Ausdruck einer tiefer liegenden Krise

Die Talfahrt der Tarifbindung ist für die Beschäftigten alles andere als trivial. Wie Patrick Schreiner hier erst kürzlich noch einmal herausgearbeitet hat, wirkt sich eine hohe Tarifbindung dämpfend auf das Auseinanderdriften von Löhnen und Einkommen aus. Hinzu kommen die Schutzfunktionen von Tarifverträgen, die zumindest halbwegs vernünftige Arbeitsbedingungen garantieren. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten daher eigentlich ein ausgeprägtes Interesse an starken Gewerkschaften haben, ohne die für sie vorteilhafte Tarifabsprachen schwer möglich sind. De facto aber geht die Zahl der Mitglieder in den Einzelgewerkschaften seit Jahren (nicht nur durch Überalterung) zurück. Insofern ist die Tarifflucht auch Resultat einer tiefer liegenden Krise gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Was aber kann, was muss geschehen, damit die durch Mitgliederschwund wie auch durch jahrelange arbeitnehmerfeindliche neoliberale Politik geschwächten Gewerkschaften wieder in die Offensive gelangen können, um so die Kräfteverhältnisse wieder zu ihren Gunsten zu verschieben?

In Bezug auf das Problem mangelnder Tarifbindung böte sich an, die im Tarifvertragsgesetz geregelten gesetzlichen Möglichkeiten, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, noch einmal deutlich auszuweiten, um auf diese Weise einer weiteren Erosion des Tarifsystems entgegenzuwirken. Zwar wurde 2014 mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz die 50%-Klausel (sie besagte, dass Tarifverträge nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn mindestens die Hälfte der ArbeitnehmerInnen schon bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind) abgeschafft. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beklagt allerdings, eine »restriktive Handhabung der neuen Regelungen« durch das Bundesarbeitsministerium. Auch das immer noch bestehende faktische Vetorecht der Arbeitgeber habe die Ausweitung der Zahl allgemeinverbindlicher Tarifverträge bisher verhindert.

Da von der aktuellen Bundesregierung in dieser Hinsicht aber nichts zu erwarten ist, bleiben die Gewerkschaften auf sich selbst zurückgeworfen - was sie mit ihrer geschwächten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit konfrontiert. Insoweit die Gründe für diese Misere hausgemacht sind (unter anderen hat Jörg Becker zum Beispiel schon 2007 einige unangenehme Ursachen benannt), haben es die Gewerkschaften und ihre Dachorganisation selbst in der Hand, durch Struktur- und Organisationsreformen sowie eine veränderte politische Positionierung an Ansehen und Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen. Damit verknüpft ist eine andere, noch wichtigere Rückgewinnung: die der Mitglieder. Vor allem gilt es, die ArbeitnehmerInnen aus dem weiter wachsenden Bereich der atypischen Beschäftigung an sich zu binden. Dies könnte sich als entscheidender Hebel entpuppen. Aber das ist natürlich wieder mal einfacher gesagt als getan.

Abschließend sei auf einen weiteren, bisweilen wenig beachteten Aspekt hingewiesen: Die abnehmende Tarifbindung hängt auch mit Liberalisierungen, Privatisierungen und Ausgliederungen zusammen. Wenn ehemals staatliche Unternehmen privatisiert oder private Wettbewerber zugelassen werden, dann führt dies nicht selten zu tariflosen Betriebsteilen oder Betrieben. Das gleiche gilt, wenn aus öffentlichen Einrichtungen Funktionseinheiten - etwa die Küchen in Krankenhäusern - ausgegliedert werden. Oftmals beruht die angebliche Kosteneffizienz der privat(isiert)en Unternehmen sogar ausschließlich auf einer schlechteren Bezahlung. Zur Stärkung der Tarifbindung kann daher auch die Wiedereinführung öffentlicher Monopole bei bestimmten öffentlichen Dienstleistungen beitragen. Oder wer es weniger offensiv mag: Weitere Privatisierungen und Liberalisierungen zu verhindern, stärkt das Tarifvertragssystem.

Quellen:

IAB-Presseinformation vom 24.05.2018

Ellguth, P./ Kohaut, S. (2018): Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2017, Nürnberg.

Sell, S. (2018): Die Tarifbindung nimmt (weiter) ab und die betriebliche Mitbestimmung verliert (weiter) an Boden. Aktuelle Sozialpolitik, Blogeintrag vom 24.05.2018.

Schreiner, P. (2018): »Mehr Gewerkschaft - weniger Ungleichheit«, Blickpunkt WiSo vom 27.04.2018.

»Wider die Tarifflucht – Tarifbindung stärken!«, DGB klartext, Nr. 13/2018.

Zum Weiterlesen:

»Leerstelle im System«, Süddeutsche.de vom 28.05.2018.

Kohaut, S. (2018): Tarifbindung – der Abwärtstrend hält an. In: IAB-Forum, Beitrag vom 24. Mai 2018.

Ellguth, P. (2018): Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden. In: IAB-Forum, Beitrag vom 24. Mai 2018.

Becker, J. (2007): Gewerkschaft ohne Mitglieder? In: Zukunft. Monatliche Zeitschrift für Politik, Gesellschaft und Kultur, Nr. 11, S. 14-19.

Boewe, J. (2018): Gegen die Matrix. Der Freitag, Ausgabe 21/2018.

Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/tarifbindung-auf-talfahrt--2220.html   |   Gedruckt am: 29.03.2024