»Troika für alle«? EU-Kommission schlägt erneut finanzielle Belohnungen für Sozialabbau vor

22. März 2018 | Anne Karrass

Während der Eurokrise wurden die Mitgliedstaaten unter dem Rettungsschirm als Gegenleistung für die »Hilfszahlungen« zur Durchführung von Strukturreformen gezwungen. Da dies insofern »erfolgreich« im Sinne der Urheber war, als Reformen wie die Anhebung des Renteneintrittsalters und die Beschneidung der Tarifsysteme gegen den teils massiven Protest der Bevölkerung durchgeführt wurden, diskutierte man in den Jahren 2012/13, dieses Instrument dauerhaft und für alle Mitgliedstaaten auch in Nichtkrisenzeiten einzuführen: Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten sich vertraglich auf mehrjährige Reformprogramme verpflichten und nach Umsetzung Geld aus dem EU-Haushalt bekommen. »Troika für alle«, sozusagen. Dies geschah vor allem auf Initiative der deutschen Bundesregierung sowie der EU-Kommission unter den Namen »Pakt für Wettbewerbsfähigkeit« bzw. »vertragliche Vereinbarungen«.

Die Gewerkschaften protestieren scharf gegen dieses undemokratische, unsoziale und unnütze Instrument, und auch viele Mitgliedstaaten verbaten sich derartige Eingriffe in ihre nationalen Zuständigkeiten, so dass die Diskussionen wieder aufhörten.

Nun hat jedoch die Kommission das Thema – bisher recht unbemerkt – erneut auf die Agenda gesetzt. In ihrem sogenannten Nikolauspaket zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion vom 6. Dezember 2017 hat sie einen Vorschlag gemacht, den man als Vorstufe für einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit bezeichnen könnte. »Versteckt« ist dies hinter dem sperrigen Titel: »Vorschlag zur Veränderung der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für die europäischen Struktur- und Investitionsfonds (Dachverordnung)«. Hierbei handelt es sich um einen konkreten Gesetzgebungsvorschlag, der nach dem Willen der Kommission bis Mitte des Jahres von Rat und Europäischem Parlament verabschiedet werden soll.

Das übergreifende Ziel, das die Kommission verfolgt, ist eine bessere Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitik, um »robustere Wirtschaftsstrukturen und eine stärkere Konvergenz der Wirtschaftsleistung« zu fördern und so besser auf Schocks reagieren zu können. Hierfür sind nach ihrer Ansicht Strukturreformen nötig, die – wie beim Pakt für Wettbewerbsfähigkeit – durch europäische Gelder gefördert werden sollen: Wenn ein Mitgliedstaat sich auf bestimmte Reformen verpflichtet und diese mit der Kommission zusammen vertraglich festhält, bekommt er nach erfolgreicher Umsetzung Mittel aus dem EU-Haushalt. Bei diesen Reformen soll es sich explizit um solche handeln, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen, wo die EU somit kein Mitsprachrecht hat, was die Kommission in der Begründung ihres Vorschlags auch genauso ausführt:

Das reibungslose Funktionieren einer stärker integrierten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) erfordert geeignete politische Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene. Da viele der für die WWU entscheidend wichtigen Politikbereiche nach wie vor hauptsächlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, sind die Koordinierung dieser Bereiche und die zeitliche Abfolge der Reformen von wesentlicher Bedeutung, wenn es gilt, ihre Wirkung nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf EU-Ebene zu maximieren.

Der Rahmen für die Reformen soll das so genannte Europäische Semester sein, ein Prozess, in dem die Mitgliedstaaten ihre Wirtschafts- und Haushaltspolitik miteinander koordinieren. Der Schwerpunkt soll nach dem Willen der Kommission

auf Reformen liegen, die die Widerstandsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften am meisten stärken und positive Spillover-Effekte auf andere Mitgliedstaaten haben können. Dazu zählen Reformen der Produkt- und Arbeitsmärkte, Steuerreformen, der Ausbau von Kapitalmärkten, Reformen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen sowie Investitionen in Humankapital und Reformen der öffentlichen Verwaltung.

Die Kommission möchte dies künftig dauerhaft verankern, vorgeschaltet werden soll jedoch eine Testphase. Hierfür schlägt die Kommission vor, in den Jahren 2018-2020 die Mittel aus der leistungsgebundenen Reserve im Rahmen der laufenden Europäischen Struktur- und Investitionsfonds statt zur Unterstützung spezifischer Projekte zur Förderung von Reformen einzusetzen – erst einmal freiwillig. Das Verfahren beschreibt die Kommission so: Im Zuge der nationalen Reformprogramme im Europäischen Semester schlagen die Mitgliedstaaten Reformmaßnahmen vor, in Form von maximal dreijährigen Reformzusage-Paketen. Die Kommission prüft diese, kann Änderungen einfordern und legt den Betrag fest, der zur Unterstützung bereitgestellt wird. Die Umsetzung würde ebenfalls im Rahmen des Europäischen Semesters beobachtet und bewertet. Nach erfolgreicher Umsetzung erhalten die Mitgliedstaaten das Geld.

Das Ansinnen der Kommission ist aus verschiedensten Gründen abzulehnen:

Erstens ist zwar das Ziel richtig, die Wirtschaftspolitik in der Eurozone stärker aufeinander abzustimmen. Mit bilateralen Vereinbarungen zwischen Kommission und Einzelstaaten wird das aber bei weitem nicht im notwendigen Umfang möglich sein.

Zweitens ist davon auszugehen, dass die stärkere Abstimmung der Wirtschaftspolitik, wie die Kommission sie anstrebt, schlicht eine Verschärfung der Kürzungspolitik zur Folge haben würde. Schon mit den heute bestehenden Möglichkeiten fordert die Kommission einzelne Mitgliedstaaten regelmäßig auf, die Löhne im öffentlichen Dienst einzufrieren, die Tarifvertragssysteme zu dezentralisieren, Arbeitsmärkte zu flexibilisieren, Lohnindexierung abzuschaffen usw. Und das übrigens mit deutscher Unterstützung. Angela Merkel sagte 2013 ganz offen, dass sie mit Hilfe des Pakts für Wettbewerbsfähigkeit in die mitgliedstaatliche Lohn- und Sozialpolitik eingreifen und diese auf mehr Wettbewerbsfähigkeit ausrichten möchte.

Drittens würde man selbst mit einer beschäftigtenfreundlicheren politischen Ausrichtung in Brüssel (und Berlin) die Steuer- und Sozialpolitik auf diese Weise dennoch schlecht koordinieren können. Gegen Sozial- und Steuerdumping helfen nur verbindliche Mindeststandards für alle. Diese über die Reformzusage-Pakete einzuziehen, ist sehr schwierig, da dann mit jedem einzelnen Land ein entsprechendes Paket – zum Beispiel über einen bestimmten Unternehmenssteuersatz – ausgehandelt werden müsste. Wenn ein Land sich darauf einließe, könnte ein anderes dies wiederum nutzen, um seine Steuern zu senken und sich so einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Das Prinzip der Wettbewerbsstaatlichkeit würde nicht aufgehoben. Gemeinsame Mindeststandards sind somit nur über Richtlinien möglich, die für alle gleichermaßen verbindlich sind.

Viertens stellt sich ein Demokratieproblem: In den Überlegungen der Kommission ist das Europäische Parlament gar nicht einbezogen, da die Pakete zwischen der Kommission und den einzelnen Mitgliedstaaten verhandelt und geschlossen werden. Für inhaltliche Diskussionen über die zu vereinbarenden Inhalte der Pakete wäre weder Zeit noch Öffentlichkeit vorhanden.

Das sind sicherlich ausreichend gute Gründe, sich zur Wehr zu setzen. Schon einmal gelang es, den »Pakt für Wettbewerbsfähigkeit« zu verhindern. Es wäre zu hoffen, dass die Kommission mit ihrem jüngsten Vorstoß erneut scheitert.

Anne Karrass arbeitet im EU-Verbindungsbüro der Gewerkschaft ver.di.

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