Interview

Winfried Wolf: »Stuttgart21 aufzugeben würde als Gesichtsverlust angesehen«

22. Februar 2018 | Patrick Schreiner

Der Stuttgarter Bahnhof, ein Kopfbahnhof, soll in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof umgebaut werden. Dagegen regt sich seit vielen Jahren energischer Widerstand. Was sind die Hauptkritikpunkte an diesem Projekt »Stuttgart21«?

Winfried Wolf: Mir erscheinen hier vier Aspekte entscheidend. Erstens der »Schrägbahnhof«: Der S21-Tiefbahnhof wird mit 15,1 Promille eine Gleisneigung haben, die beim Sechsfachen des »eigentlich« Erlaubten liegt. Die Spitze eines 430 Meter langen ICE wird um 6,1 Meter tiefer liegen als das Ende des Zugs. Das muss regelmäßig zu gefährlichen, auch das Leben von Fahrgästen bedrohenden Wegrollvorgängen führen. Zweitens ist S21 ein Fass ohne Boden: 1995 waren 4 Milliarden geplant, allerdings DM; 2011 waren es dann 4,5 Milliarden, nun jedoch Euro. Diese Summe wurde vom Bahnchef Grube persönlich als »Sollbruchstelle« bezeichnet – ab diesem Betrag werde S21 »unwirtschaftlich«. Seit Januar 2018 sind es bahnoffiziell 8,2 Milliarden Euro. Der Bundesrechnungshof geht von 9,5 Milliarden aus. Drittens ist es der Kapazitätsabbau: Während es bei der Elbphilharmonie und dem Berliner Flughafen BER am Ende mehr Kapazitäten (welcher Art, das sei hier dahingestellt) gibt, wird im Fall Stuttgart21 viel und immer mehr Geld dafür ausgegeben, dass die Kapazität eines bestehenden, seit 90 Jahren sehr gut funktionierenden Kopfbahnhofs um mehr als 30 Prozent verkleinert wird: von 16 Kopfbahngleisen auf acht Durchfahrgleise. Viertens schließlich ist die Problematik Gipskeuper wichtig: Von den 60 km langen S21-Tunnelbauten verlaufen 16,7 km im quellfähigen Anhydrit (Gipskeuper). So gut wie alles spricht dafür, dass es in diesen Tunnel während der Bauzeit oder nach Fertigstellung zu unkontrollierbaren Quellvorgängen kommt. Welche Folgen das haben kann, lässt sich im Breisgau studieren: Dort hebt sich in Folge von banalen Geothermie-Bohrungen, bei denen man versehentlich in Anhydrit-Bereiche geriet, seit einem Jahrzehnt der Boden unter dem kleinen Städtchen Staufen; seit 2007 um 60 Zentimeter. 200 Häuser sind betroffen, zwei Häuser mussten bereits abgerissen werden – darunter das Technische Rathaus.

Gibt es Zusammenhänge zwischen Stuttgart21 und der Bahnprivatisierung in den frühen 1990er Jahren?

Winfried Wolf: Die Bahnprivatisierung, die 1994 mit dem Zusammenschluss von Bundesbahn und Reichsbahn und deren Zusammenfassung in einer Aktiengesellschaft begann, zielte auf eine großangelegte Immobilienspekulation. Die staatlichen Eisenbahnen sind die größten Grundstückseigentümer in Europa. In einem Kapitalismus, in dem die Kapitalanlage im klassischen produktiven Bereich aus Sicht der »Investoren« eine immer geringere Rendite verspricht, spielen Geldanlagen in den Bereichen Rüstung, Aktien, M&A (Unternehmensaufkauf und Zerschlagung) und Immobilien-»Entwicklung« eine immer größere Rolle. Es geht in der Regel um unproduktive, oft spekulative Geldanlagen mit staatlich garantierter, hoher Profitmarge. »Stuttgart21« stand ja in den 1990er Jahren nicht allein - es gab vergleichbare Projekte mit Frankfurt21 und München21 - und dutzende in kleineren Städten (zum Beispiel zur Aufgabe des Insel- und Haptbahnhofs in Lindau am Bodensee). Diese Spekulation mit Bahnimmobilien findet auch heute fast täglich im Kleinen statt: Mehr als 2000 Bahnhöfe wurden bereits verscherbelt, fast die Hälfte der Ausweichgleise wurde stillgelegt. Fast 20 Prozent der Gesamtnetzlänge wurden seit 1994 aufgegegen. In Hamburg-Altona wird gerade ein in vielen Aspekten vergleichbares Projekt zur Zerstörung voin Schieneninfrastruktur betrieben: Aufgabe des Bahnhofs Hamburg-Altona und dessen »Verlegung« nach Hamburg-Diebsteich in eine absolute und absurde Randlage. Stuttgart21 muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Allerdings ist es mit gut 10 Milliarden Euro zu veranschlagenden Gesamtkosten schon das größte all dieser Projekte zur »Entwicklung« von Bahngelände (und damit zur Zerstörung von Bahnkapazitäten).

Wer hat weshalb ein Interesse daran, Stuttgart21 gegen alle Widerstände und trotz der zahlreichen offensichtlichen Probleme und Kostenexplosionen durchzusetzen?

Winfried Wolf: Die direkten Profiteure sind natürlich die Baukonzerne (unter anderem Ed. Züblin und Hochtief), die sich im übrigen ohnehin in starkem Maß im Griff der Finanzhaie befinden. Es ist die Spezialfirma Herrenknecht, die bei mehr als 80 Prozent der Tunnelbauten im westlichen Kapitalismus führend beteiligt ist. Es sind die Banken und Versicherungsgesellschaften, die kofinanzieren bzw. an den Baukonzernen beteiligt sind. Es sind aber nicht zuletzt auch die Autoindustrie und die Luftfahrt: Wenn bei dem entscheidenden Bahnknoten im deutschen Südwesten die Kapazität um mehr als 30 Prozent reduziert wird (und damit zum Beispiel die Etablierung des allseits geforderten, sinnvollen und in der Schweiz längst vorbildlich funktionierenden Integralen Taktfahrplan bereits rein technisch unmöglich gemacht wird), dann profitiert davon die Konkurrenz im Verkehrssektor. Stuttgart wird massiv von den Autokonzernen Daimler und Porsche bestimmt - und gilt zugleich als Feinstaubmetropole. Die drei für S21 maßgeblichen Bahnchefs Henz Dürr (1990-1998), Hartmut Mehdorn (1999-2009) und Rüdiger Grube (2009-2017) waren alle drei zuvor Top-Manager von Daimler. Die Trägergesellschaft des Stuttgarter Flughafens ist Kofinanzier von Stuttgart21. Der Bundesverkehrsminister, der im April 1994 Stuttgart21 aus der Taufe hob, der dann als VDA-Präsident mehr als ein Jahrzehnt lang der Cheflobbyist der Autoindustrie war, dieser Matthias Wissmann ist heute der juristischer Vertreter der international agierenden Anwaltssozietät Wilmer Hale. Sie hat die im Dezember 2016 eingereichte Klage der Deutschen Bahn AG gegen die Stadt Stuttgart und gegen das Land Baden-Württemberg zur anteilmässigen (60 Prozent!) Übernahme der Mehrkosten von Stuttgart21 ausgearbeitet. Da kann doch nur sagen: Geht's noch?

Viele der Projekte aus den 1990er Jahren (und ähnliche Projekte später) wurden aufgegeben. Weshalb gerade das in Stuttgart nicht?

Winfried Wolf: Das müsste man Fall für Fall untersuchen. Es gab atomare Projekte, die wegen des massenhaften Widerstands der Anti-AKW-Bewegung aufgegeben wurden. Teilweise handelte es sich um Projekte, die auch komplett in den Sand gesetzt wurden. In Kalkar beispielsweise war der atomare Schnelle Brüter fertig erstellt - umgerechnet in heutigen Preisen wurden 6 Milliarden Euro verbaut. Doch das Atomprojekt wurde nicht in Betrieb genommen -auch wenn es da heute einen Freizeitpark gibt, so ist das im Grunde doch eine gigantische Industrieruine. Bei Frankfurt21 gab es, wie heute in Stuttgart, eine aktive und kluge Initiative gegen das Projekt. Allerdings war das Vorhaben technisch auch nochmals aufwändiger als Stuttgart 21. Bei München21 spielte die Stadtbürokratie nicht mit. In Lindau wiederum war und ist es ein gut verankerter Widerstand vor Ort, mit dem das Projekt zur Aufgabe des Inselbahnhofs weitgehend ausgebremst werden konnte. Und in Stuttgart? Da ist es wohl inzwischen vor allem die Staatsräson, weswegen immer weiter gebuddelt wird. Alle Parteien - CDU, SPD, FDP und weitgehend auch die Grünen - sind inzwischen derart mit dem Projekt verbunden, dass die Aufgabe desselben als Gesichtsverlust gesehen wird.

Bestehen dennoch ernsthafte Chancen, das Projekt zu verhindern? Oder könnten die politisch Verantwortlichen am Ende gar selbst die Reißleine ziehen?

Winfried Wolf: Ja, durchaus. Aktuell sind erst rund ein Viertel der realen Baukosten verbaut. Bei der Vergabe der Aufträge - die aber noch gar nicht komplett abgearbeitet wurden - sind 3,8 Milliarden Euro der gut zehn Milliarden Euro vergeben, also gut ein Drittel. Das Wunderbare in Stuttgart aber ist das Folgende: Seit Sommer 2016 gibt es - vorgelegt von der Bürgerbewegung gegen Stuttgart21 und von einem wissenschaftlichen Gutachter ausgearbeitet - das Projekt »Umstieg21«. Dieses im Januar 2018 nochmals aktualisierte Projekt läuft darauf hinaus, dass ein großer Teil der bisher für den Tiefbahnhof getätigten Arbeiten umgenutzt werden kann, wenn der Kopfbahnhof erhalten und modernisiert wird: Dort, wo sich aktuell die S21-Baugrube befindet, soll eine Tiefgarage für Pkw (= unterste Etage) sowie darüber (ebenerdig zum Schloßgarten und zur Innenstadt) ein zentraler Omnibusbahnhof eingebaut werden. Die aktuell zurückgesetzten Gleise in der obersten Etage werden wieder bis zum Quergebäude des Hauptbahnhofs vorgezogen. Nord- und Südflügel, die abgerissen wurden, würden dann wieder errichtet. Die Kopfgleisanlagen würden mit einem lichten Glasdach, auf dem großflächige Solarzellen den größten Teil des Energiebedarfs des Bahnhofs abdecken würden, versehen. In der Gesamtbilanz würde das Projekt Umstieg21 um mindestens 5 Milliarden Euro preiswerter kommen als der Weiterbau des Tiefbahnhofs. Es zeichnet die Bürgerbewegung gegen S21 aus, dass sie sich auch noch den Kopf der Gegenseite zerbrach und dieser eine Brücke anbietet, wie von einem zerstörerischen und Kapazitäten abbauenden Projekt auf ein sinnvolles, urbanes und die Schiene förderndes Projekt umgestiegen werden kann.

Winfried Wolf hat zum Thema ein Buch veröffentlicht: abgrundtief + bodenlos. Stuttgart21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands. Mit 31 Fotos und elf ergänzenden Einzelbeiträgen unter anderem von Sabine Leidig, Volker Lösch, Annette Ohme-Reinicke, Christine Prayon, Wolfgang Schorlau und Walter Sittler. 376 Seiten, Hardcover, 20 Euro (PapyRossa Verlag Köln).

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/winfried-wolf-stuttgart21-aufzugeben-wuerde-als-gesichtsverlust-angesehen--2178.html   |   Gedruckt am: 19.04.2024