Das wirtschaftspolitische Versagen der SPD und die Agenda 2010 (Teil 2)

11. Dezember 2017 | Michael Wendl

3. Der deutsche Handelsmerkantilismus

Die unter Linken verbreitete Redeweise vom deutschen Lohndumping in Europa ist in dieser Schlichtheit irreführend. In den exportorientierten Industriebereichen sind die Löhne in absoluten Größen relativ hoch; sie sind auch nach 2003 wieder im Rahmen der produktivitätsorientierten Tarifpolitik gestiegen. Dass der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten nahe Null verlaufen war, basiert auf den realen Lohnsenkungen in den Dienstleistungssektoren, insbesondere in den Bereichen ohne Tarifbindung. Diese nachlassende Bindungswirkung der Tarifverträge hat zu einem Verfall der nicht tariflich geregelten nominalen Arbeitsentgelte geführt. Insofern sind die Export- und in der Folge auch Leistungsbilanzüberschüsse nicht in erster Linie angebotsbedingt, sondern kommen im Kern aus der schwachen Entwicklung der Binnennachfrage, die die Importe niedrig gehalten hat. Diese schwache Entwicklung des inländischen Konsums hat die Inflation im Euroraum unterdurchschnittlich ansteigen lassen. In einem gemeinsamen Währungsraum bedeutet eine unterdurchschnittliche Inflation einen Preisvorteil im Außenhandel. Das bedeutet eine reale Abwertung deutscher Exportprodukte. Eine solche reale Abwertung wirkt in einer Währungsunion wie ein Wechselkurseffekt in einem System flexibler Wechselkurse. Dadurch kommt es zu einem Export von Arbeitslosigkeit in andere Länder. Dass Deutschland heute in der europäischen Währungsunion relativ »gut« dasteht, hat seine Kehrseite darin, dass die Gesellschaften im Süden der Währungsunion entsprechend »schlecht« abschneiden müssen. Die Wettbewerbspositionen sind weiter auseinandergedriftet, weil permanente Leistungsbilanzdefizite dazu führen, dass bestimmte Industriesektoren in den Schuldnerländern zurückgefahren oder aufgegeben werden, weil sie im Verhältnis zur deutschen Exportindustrie nicht mehr wettbewerbsfähig sind.

Deutschland war bereits vor 1999 entgegen der wirtschaftsliberalen Rhetorik das Land mit der stärksten Wettbewerbsposition in der Europäischen Union. Deshalb war die Agenda als Instrument einer angeblich notwendigen Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland objektiv nicht notwendig. Im Jahr 2000 hatte Deutschland eine ausgeglichene Leistungsbilanz. Die starke Wettbewerbsposition ist danach weiter ausgebaut worden, während die anderen Gesellschaften mit Ausnahme von Österreich, Niederlande und Finnland, die ebenfalls auf einen Exportüberschuss ausgerichtet sind, weiter zurückgefallen sind. Deutschland hätte als großes Land in der EU eigentlich eine »Lokomotivfunktion« für die Entwicklung der Nachfrage in der Währungsunion spielen müssen. Damit wären die Importe nach Deutschland angeregt worden. In Gegensatz dazu hat Deutschland den vermögens- oder stabilitätspolitischen Handelsmerkantilismus (1), den es in Europa seit den frühen 1950er Jahren spielt, weiter forciert. Das ist zum Teil nicht nur das Ergebnis der deutschen Überlegenheit bei der industriellen Produktion, sondern auch das Resultat eigener wirtschafts- und energiepolitischer Fehlentwicklungen in bestimmten Euro-Ländern. Diese waren stärker als Deutschland vom Import fossiler Brennstoffe abhängig, was ihre Außenwirtschaftsbilanz verschlechtert und ihre industrielle Basis geschwächt hat. Insgesamt ist es auch aus diesen Gründen zu einem Rückgang der Industrieproduktion und zum Verschwinden bestimmter industrieller Produkte gekommen.

Die starke Position der deutschen Industrie in Europa und der Welt kann aber nicht nur durch die schwache Lohnentwicklung erklärt werden: Hier spielen auch das der niedrigen Inflation geschuldete höhere Niveau der realen Zinsen, das zu »produktiven« Investitionen in die Güterwirtschaft gezwungen hat, und die deutsche »Pfadabhängigkeit« als exportgetriebene und exportabhängige Produktionsökonomie mit einer entsprechenden Spezialisierung auf hochwertige Investitions- und langlebige Konsumgüter eine Rolle. Für solche Produktionen wird eine entsprechende Kapitalausstattung benötigt. Nicht nur die schwache Inflation und die niedrigen Löhne haben den Standort Deutschland begünstigt, sondern auch Wettbewerbsvorteile auf der Angebotsseite der Produktion. In dieser Frage gibt es unter linken Ökonomen unterschiedliche Meinungen: So vertreten Heiner Flassbeck u.a. eine Position, die den zentralen Schwerpunkt der Eurokrise auf die Wirkungen der deutschen Lohnpolitik für den Wettbewerb legt, während andere Ökonomen (insbesondere aus der Hans-Böckler-Stiftung) daneben noch andere Faktoren, wie etwa die hohe Produktivität des deutschen Kapitalstocks, verantwortlich machen. Eine Rolle spielt auch die deutsche Kombination von restriktiver Geldpolitik der Bundesbank, zurückhaltender oder stabilitätsorientierter Fiskalpolitik und der Lohnzurückhaltung der Tarifparteien in diesem System. Die Kombination dieser Einflüsse hat das Modell eines vermögens- oder stabilitätsorientierten Merkantilismus erzeugt, der die deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1950 insgesamt prägte und auch das Handeln der politischen und ökonomischen Akteure bestimmte. Dieses Modell einer nationalen Wirtschaftspolitik des »Beggar the Neighbour« eignet sich aber nicht für eine Währungsunion, weil hier der Mechanismus flexibler Wechselkurse zur Abwehr und zum Ausgleich eines solchen Merkantilismus ausgeschaltet wurde. Deutschland hätte auf einen anderen Pfad der wirtschaftlichen Entwicklung einsteigen müssen. Das war nicht der Fall, weil die Voraussetzungen und die Wirkungsweise eines gemeinsamen Währungsraums nicht verstanden worden sind.

Die abschließende Bewertung der Agenda aus einer makroökonomischen und europäisch angelegten Sicht fällt ernüchternd oder sogar vernichtend aus: Mit ihr wurden die Beschäftigungsprobleme nicht gelöst, sondern zu einem großen Teil aus Deutschland heraus in andere Länder verlagert. Die Wirkungen der Agenda auf Löhne und Arbeitsbedingungen in der Gesamtwirtschaft haben Arbeitslosigkeit »exportiert«. Der Aufbau hoher positiver wie negativer Leistungsbilanzsalden ist in einer Währungsunion nicht sinnvoll, weil sie die Länder mit hohen Leistungsbilanzsalden zur weiteren Verschuldung zwingt. Die Leistungsbilanzüberschüsse bestimmter Länder entsprechen den Leistungsbilanzdefiziten anderer Länder. Der Leistungsbilanzsaldo der Welt ist immer Null. Die Forderungen oder Vermögen auf der einen Seite entsprechen den Verbindlichkeiten oder Schulden auf der anderen Seite. Dieser saldenmechanische Zusammenhang wird aus einer einzelwirtschaftlichen Sicht nicht erkannt, weil aus dieser nicht der gesamtwirtschaftliche Kreislauf von Produktion und Nachfrage erkannt werden kann. Die Agenda hat die positiven wie negativen Leistungsbilanzsalden weiter vergrößert und damit zur Instabilität der Weltwirtschaft insgesamt beigetragen, was aus einer internationalen Sicht auch deutlich kritisiert wird. Dadurch wurde die ökonomische Krise der Währungsunion weiter verschärft und möglicherweise unlösbar gemacht. Sie hat zusätzlich die Einkommensdifferenzen, einmal zwischen Kapital und Arbeit, aber auch innerhalb der abhängig Beschäftigten, deutlich vergrößert. Sie hat den Prozess der »Prekarisierung« der Lohnarbeit weiter verstärkt. Die klaren Verlierer dieser Politik sind die Arbeitslosen und die Beschäftigten mit niedrigen Löhnen und unsicheren Arbeitsverhältnissen. Wenn wir die Entwicklung der Ungleichheit in einem längeren Zeitraum bilanzieren, so steigt die Ungleichheit – gemessen am so genannten Gini-Koeffizienten  i  Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichverteilungen. Er nimmt einen Wert zwischen 0 (bei völlig gleichmäßiger Verteilung) und 1 (bei völliger Ungleichverteilung) an. – zwischen 2000 und 2005 in Deutschland besonders stark.

4. Warum wird die Agenda 2010 als Erfolgsgeschichte missverstanden?

Diese Entwicklung zwischen 2000 und 2005 wird von großen Teilen der Medien und auch in der SPD anders gesehen. Das liegt daran, dass hier die Sichtweisen nach wie vor noch national geprägt sind und die ökonomischen und sozialen Folgen des deutschen Handelsmerkantilismus in Europa nicht berücksichtigt werden. Dazu kommt, dass ein mikroökonomischer oder einzelwirtschaftlicher Blickwinkel weiter dominierend ist. Die Währungsunion wird als Wettbewerbsmodell verstanden, als Modell, in dem Deutschland mit den Arbeitsmarktreformen und dem dadurch verstärkten Lohndruck klug gehandelt hätte, während andere Länder solche »Reformen« versäumt hätten. Sie sollen sie deshalb jetzt unter erschwerten Bedingungen nachholen. Das wiederum schwächt aber die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum und in der EU.

Der grundlegende Fehler dieser Sichtweise besteht in der Konzentration auf den Arbeitsmarkt. Beschäftigung entsteht nicht durch flexible Arbeitsmärkte, sondern durch zusätzliche Investitionen. Arbeitslosigkeit wird auf dem Arbeitsmarkt gemessen. Sie entsteht aber nicht durch den Arbeitsmarkt. Ein wirksamer Lohndruck durch die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte schwächt die inländische Nachfrage und verfestigt darüber die Arbeitslosigkeit. Die deutsche Wirtschaft hat dieses Problem mit der starken Exportorientierung zu lösen versucht und die fehlende Nachfrage in der Weltwirtschaft gesucht. Dass diese Politik zu einer hohen Instabilität in der Weltwirtschaft insgesamt führt, wird aus der nationalistischen Perspektive, mit der in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung beurteilt wird, nicht gesehen.

In dieser Sicht, der von großen Teilen der SPD gefolgt wird, bündelt sich das aktuelle wirtschaftstheoretische Dilemma der SPD. Hätten alle Länder in der Euro-Zone diese Politik der Lohnzurückhaltung und Lohnsenkung erfolgt, wäre der gemeinsame Markt mangels effektiver Nachfrage bereits früher zusammengebrochen. Deutschlands Exporterfolg in Europa basiert gerade darauf, dass die anderen Länder in Europa ihre Nachfrage nicht eingeschränkt, sondern durch eine weitere Verschuldung der Privathaushalte und der Staaten ausgebaut haben. Die positive Haltung der SPD zur europäischen Integration basiert daher auf einer weitgehenden Verweigerung, die ökonomischen Bedingungen dieses Prozesses zu erkennen. Die Verantwortung dafür trägt die SPD durch ihr Desinteresse an den die Währungsunion betreffenden ökonomischen Fragen zu einem großen Teil selbst.

Teilweise werden in der SPD die europäische Entwicklung und ihre Krisen auch mit einem national verengten Tunnelblick analysiert, eine Sichtweise, die durch die einschlägige Berichterstattung der Medien verstärkt wird. Die führenden Medien propagieren mit ihrer Verteidigung der deutschen Exportüberschüsse faktisch eine Strategie des Wirtschaftsnationalismus. In einem gemeinsamen Währungsraum kann die wirtschaftliche Entwicklung jedoch nur noch aus der Perspektive auf diesen Währungsraum insgesamt beurteilt werden. Die positive Haltung der SPD zur EU und zum Euro markiert ein Paradox, weil zugleich weiter dem instinktiven Handelsmerkantilismus der deutschen Wirtschaftspolitik gefolgt wird. Um es drastisch zu formulieren: Die SPD ist für europäische Solidarität und tritt dieses Prinzip, wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, aus makroökonomischer Unkenntnis gleich wieder in die Tonne.

Das liegt daran, dass die SPD in der Zeit von 1999 bis 2005 ihre frühere makroökonomische Kompetenz völlig verloren hat. Sie diskutiert solche Fragen auch nicht mehr. Das zeigt sich auch daran, dass in der SPD die wirtschaftliche Situation Deutschlands in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren falsch bewertet worden ist. Deutschland war damals nicht der »kranke Mann« Europas. Die internationale Wettbewerbsposition war auch 1995 ausgesprochen gut. Die mit der deutschen Einheit verbundenen wirtschaftlichen Probleme und Belastungen waren in erster Linie der mit hoher Arbeitslosigkeit und deshalb hohen Transferleistungen verbundenen Konstruktion der deutschen Einheit geschuldet. Dass die deutsche Leistungsbilanz danach kurzfristig minimal negativ wurde, war Resultat eines hohen Kapitalimports in die neuen Länder einerseits und des Wegfalls der Exporte in die frühere DDR und Osteuropa andererseits. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten waren hoch. Die deutsche Bundesregierung hat 1990 mit einer »Schocktherapie« den Vereinigungsprozess durchgezogen und die damit verbundene Zerstörung der DDR-Ökonomie mit hohen finanziellen Transfers auszugleichen versucht.(2) Die damit verbundenen Kosten für die Haushalte von Staat und Sozialversicherungen wurden völlig überzogen zu einem deutschen »Reformstau«, zu einer »blockierten Republik« dramatisiert. Auch eine SPD-nahe Sozialwissenschaft (3) trägt an dieser verzerrten Wahrnehmung eine Mitverantwortung, weil sie diese Sicht damals gestärkt und zugleich zur propagandistischen Vorbereitung eines für Deutschland angeblich notwendigen Niedriglohnsektors und einer stärkeren Kapitaldeckung in der Alterssicherung beigetragen hat.

Die SPD als Partei hat in diesen Prozessen einigermaßen hilflos agiert. Auch die letzte kontroverse wirtschaftspolitische Debatte 1997 zwischen Oskar Lafontaine aus der eher keynesianischen Sicht und Gerhard Schröder als Vertreter eines neoliberalen Pragmatismus hat die große Mehrheit in der SPD nicht mehr verstehen können. Insofern haben diese Kontrahenten 1998/99 ihre Auseinandersetzungen auf persönlicher Ebene ohne eine wirksame Rückkopplung mit der SPD ausgetragen. Für den Ausgang dieses Konflikts können nicht nur der autoritäre Stil von Schröder und der Narzissmus von Lafontaine verantwortlich gemacht werden. Dazu hat auch das wirtschaftspolitische Desinteresse in der SPD beigetragen. Die markanten Fehlentscheidungen der rotgrünen Koalition, die Reform der Unternehmenssteuern, der Umbau des Rentensystems und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sind weitgehend ohne Beteiligung der Partei durchgesetzt worden.

In der SPD muss daher zunächst darüber diskutiert werden, was Wirtschaftspolitik ist, über welche Instrumente sie verfügt und welche Wirkungen sie auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Funktionsweise der Europäischen Währungsunion ausübt. Eine solche Diskussion kann grundsätzlich nicht mit dem Blick auf mikroökonomische Modelle geführt werden. Schröders »Wirtschaftsnähe« bestand darin, die Abläufe in großen Unternehmen mit einer Volkswirtschaft im Ganzen zu verwechseln. Der Übergang in eine makroökonomische Sicht ist daher zwangsläufig mit einer kritischen Sicht auf die Regierungspolitik von Rot-Grün verbunden.

Gegenwärtig sieht es aber so aus, dass ein solcher Paradigmenwechsel nicht versucht wird. An seine Stelle darf dann ein wenig Kapitalismuskritik treten. Kapitalismuskritik führt dann dazu, dass eine erhoffte Systemtransformation über den Kapitalismus hinaus anvisiert wird. Das bindet Kräfte und lenkt von wichtigeren Entscheidungen ab. Die Möglichkeiten von makroökonomisch begründeten Reformen durch eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik im Kapitalismus werden dagegen nicht erkannt, weil mit Kapitalismuskritik der Kapitalismus für alle Übel verantwortlich gemacht werden kann.

Anmerkungen

(1) Siehe Hansjörg Herr, Der Merkantilismus der Bundesrepublik in der Weltwirtschaft, in: Klaus Voy, Werner Polster, Claus Thomasberger (Hg.), Marktwirtschaft und politische Regulierung, Marburg 1991.

(2) Siehe Jörg Roesler, Aufholen, ohne einzuholen, Berlin 2016.

(3) Siehe Fritz W. Scharpf, Von der Finanzierung der Arbeitslosigkeit zur Subventionierung niedriger Erwerbseinkommen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 7/1993. Wolfgang Streeck, Deutscher Kapitalismus: Gibt es ihn? Kann er überleben? In: Ders., Korporatismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1999. Wolfgang Streeck, Tarifautonomie und Politik. Von der konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit. In: Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände (Hg.): Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Köln 2001.

Zu Teil 1 des Artikels .

Michael Wendl ist Soziologe, Mitglied der deutschen Keynes-Gesellschaft, er hat von 1980 bis 2016 für die Gewerkschaften ÖTV und ver.di gearbeitet.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/das-wirtschaftspolitische-versagen-der-spd-und-die-agenda-2010-teil-2--2155.html   |   Gedruckt am: 25.04.2024