EU-Wirtschaftspolitik: Wind in den Segeln, aber keine Kurskorrektur

16. November 2017 | Simon Theurl

Nach fast zehn Jahren Rezession in der Eurozone deutet einiges darauf hin, dass sich die Eurozone langsam wieder im Aufschwung befindet. Das greift auch Juncker in der Rede zur „Zukunft der Union“ auf, um seine Vorschläge für die zukünftige Ausrichtung der Europäischen Union zu präsentieren.(1) Dass Juncker dieses „Gelegenheitsfenster“ jedoch nicht für die notwendige wirtschaftspolitische Kurskorrektur der Europäischen Kommission (EK) nutzen will, wird dabei deutlich ersichtlich. Bereits an erste Stelle der genannten, etwas konkreteren Themen, die in Zukunft Priorität haben sollen, nennt Juncker die europäische Handelsagenda, die es zu stärken gelte. Damit sind bilaterale Handelsabkommen nach dem Muster des TTIP gemeint, das nach massiven öffentlichen Protesten derzeit ausgesetzt ist. Davon unbenommen sollen neue Abkommen möglichst schnell mit möglichst vielen Ländern abgeschlossen werden. An zweiter Stelle folgt das nächste altbekannten Rezept: die Wirtschaft stärken und wettbewerbsfähiger machen. So setzt Juncker auch in Zukunft auf die wettbewerbsfixierte Wirtschaftspolitik: Wachstum mittels niedriger Löhne und möglichst hoher Exporte zu fördern.

Für die Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation und einen gesicherten nachhaltigen Aufschwung bedarf es aber entsprechender wirtschaftspolitischer Impulse.(2) Herausforderungen liegen darin dem asymmetrischen Verlauf der Krise gerecht zu werden und die steigenden sozialen Divergenzen in Europa(3) zu überwinden. Auch aktuelle Ergebnissen moderner heterodoxer Forschung zeigen: Dafür ist ein Bruch mit der Wachstumsstrategie der Europäischen Kommission nötig, die explizit auf stagnierende Lohnentwicklung abzielte. Denn die Strategie der EK hat drei Dekaden steigende Ungleichheit, einem sinkenden Anteil der Löhne an der Gesamtproduktion und die Bildung einer neuen Klasse „Super-Reicher“ bewirkt ohne dabei nachhaltiges Wachstum zu sichern.(4) Darüber hinaus belegen neue Erkenntnisse, dass die Globalisierung der letzten Dekaden zu steigender Ungleichheit geführt hat und, dass Globalisierung Herausforderungen für die Demokratie schafft(5), die durch internationale Konkurrenzbeziehungen nicht gelöst werden können.

So steckt hinter den Schwerpunkten für die Zukunft der EU ein ökonomisches Wachstumsmodell, das ökonomische Spannungen erzeugt und ein hohes Konfliktpotential innerhalb und außerhalb der EU verursacht. Wahlergebnisse bei denen etablierte Parteien an Stimmen einbüßen, eine Legitimitätskrise des europäischen Integrationsprojektes, die ihren einstweiligen Höhepunkt in der Austrittserklärung Großbritanniens hat, bis hin zum höheren Risiko von Handelskriege sind offensichtliche Probleme, die in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftspolitischen Reformkurs der Vergangenheit stehen. Im Sinne einer Neubegründung des europäischen Wohlstandsversprechens und einer weniger krisenanfälligen Weltwirtschaft ist eine Neuausrichtung hin zu einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik notwendig.

Vom Wettbewerb zum Exportüberschuss

Seit den 1990ern sind die wirtschaftspolitischen Debatten in Europa geprägt von derselben Erzählung über Wettbewerbsfähigkeit und Freihandel als stabilitäts-, wohlstandsfördernde und arbeitsplatzschaffende Maßnahme.(6) Als Kennzahl für den vermeintlichen Erfolg ganzer Volkswirtschaften wird dabei die Exportleistung einzelner Länder als entscheidende Erfolgsgröße herangezogen. Während dabei von der Konkurrenz gegenüber China gewarnt wird, werden gleichzeitig Loblieder auf den Exportweltmeister Deutschland angestimmt. Diese fügen sich in den Kanon der vorherrschenden Globalisierungsstrategie der Europäischen Kommission, in dem unermüdlich auf die prime Position der EU im Welthandel hingewiesen wird.(7) In der Praxis steckt dahinter ein klares wirtschaftspolitisches Programm: Da Einkommen und Abgaben für Unternehmen als Wettbewerbshindernis definiert werden, zielen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen unter dem Motto Wettbewerbsfähigkeit auf die Schwächung der Gewerkschaften, Lohnflexibilität nach unten und die Senkung von Staatsabgaben ab. Wettbewerbsfähigkeit, rein auf Produktionskosten bezogen und mit dem Ziel Exporte zu fördern, wird so zu einem politischen Begriff, der dazu dient einseitige Interessen durchzusetzen. Öffentliche Investitionen wie z.B. in Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Soziales und Grundlagenforschung werden hingegen zugunsten von Konkurrenzbeziehungen zwischen Arbeitskräften und Nationalstaaten außen vorgelassen.

Getragen von der Debatte über Wettbewerbsfähigkeit wurde seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 der Versuch, das ökonomische Wachstum durch Exporte zu stabilisieren, zu einem zentralen Bestandteil der Krisenbewältigungsstrategie für die gesamte Eurozone. Unter der starken Einflussnahme Deutschlands gerieten die Leistungsbilanzdefizite, die seit der Einführung des Euros in einigen Mitgliedsländern angestiegen waren, in den Fokus der politischen Bemühungen der EK. Und zwar mit dem Ziel durch niedrige Löhne Exporte zu fördern und die Leistungsbilanzdefizite auszugleichen. Die Leistungsbilanz ist grundsätzlich eine statistische Größe, bei der die Netto-Einnahmen einer Volkswirtschaft, insbesondere Exporte minus Importe, gefasst werden. Doch hier zeigt sich eine problematische Schieflage: Die Debatte über Leistungsbilanzungleichgewichte blieb von Argumenten der preislichen Wettbewerbsorientierung überlagert. Anstelle Überschussländer, allen voran Deutschland, dazu anzuhalten, durch Lohnsteigerungen die Exporte zu reduzieren und gleichzeitig mehr zu importieren, erhob insbesondere auch die EK die Defizite der Handelsbilanz (diese ist ein Teil der Leistungsbilanz) zum wesentlichen Problem. Das für andere Länder und insbesondere die Eurozone problematische exportorientierte Wachstumsmodell wurde so zum Erfolgsrezept für die restlichen Mitgliedsländer der Eurozone erkoren.

Deutschland, das bereits mit hohen Exportüberschüssen in die Krise gestartet ist, hat diese bis 2016 auf 8,3% des BIP(8) ausgeweitet. Damit hat Deutschland global die größten Exportüberschüsse oder anders betrachtet, die größten Importdefizite. Doch der „Exportweltmeister“ gerät zunehmend in Kritik. So hebt der französische Präsident Emmanuel Macron hervor, dass die hohen Überschüsse Deutschlands nicht tragbar seien. Zusätzliche Kritik kommt vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit Blick auf die Bedeutung staatlicher Ausgaben, rät die Direktorin des IWFs Christine Lagarde Deutschland dazu, einen größeren Teil seiner Überschüsse zu investieren. Darüber hinaus, so Lagarde, könnte Deutschland auch durch die Zahlung des Zielwerts für Entwicklungshilfe in Höhe von 0,7% des BIP, zu dem sich Deutschland bekennt, die Defizite reduzieren. Auch von der EK wird der anhaltende Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands in letzter Zeit zunehmend als Problem thematisiert. Die Kritik an den deutschen Überschüssen wird jedoch beispielsweise vom deutschen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble brüsk zurückgewiesen. Ohne auf näher Argumente einzugehen, schreibt Schäuble die Leistungsbilanzüberschüsse den Erfolgen deutscher Unternehmen im Ausland zu. Desweiteren, so der Finanzminister, könne sich der Wechselkurs in der Währungsunion nicht an die Exportleistung Deutschlands anpassen und die Niedriggeldpolitik der EZB trage zu einem schwachen Euro und somit zu den Überschüssen Deutschlands bei.

Überschätzte Exportleistung, unterschätzte Binnennachfrage

Hinter der Debatte über Wettbewerbsfähigkeit, Freihandel und Exportweltmeister steckt ein verkürztes und unvollständiges Wirtschaftsverständnis, das in seiner Konsequenz zu politischen und ökonomischen Spannungen beiträgt. So funktioniert die Logik, mit der Wettbewerbsfähigkeit zum primären Ziel der Wirtschaftspolitik erhoben wird, nur so lange ökonomische Gesamtzusammenhänge ausgeblendet bleiben. Dabei wird einseitig auf die Exportleistung als wachstumstreibenden Faktor verwiesen, die Bedeutung der Binnennachfrage bleibt aber unberücksichtigt. Doch Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnsenkungen zu erzielen, untergräbt infolge notwendigerweise die Nachfrage. Das gilt insbesondere, wenn sie zur wirtschaftspolitischen Doktrin für alle Bereiche und Sektoren eines Wirtschaftssystems erhoben wird. Das Resultat ist Überproduktion, die dann exportiert werden muss oder, wenn das nicht möglich ist, die unternehmerischen Tätigkeiten einbremst und zu einer Stagnation führt.

Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Lohnentwicklung, also die Binnennachfrage, in der EU15 stärker zum wirtschaftlichen Wachstum beiträgt, als Exporte.(9) Das spiegelt sich auch in der Bedeutung der Wirtschaftsleistung innerhalb der Eurozone im Verhältnis zu der Wirtschaftsleistung im Ausland. Die Daten(10) für 2015 verdeutlichen das: Mit 75% Inlandsnachfrage und 16% Handel innerhalb der Eurozone finden über 91% der wirtschaftlichen Tätigkeiten der Eurozone in derselben statt. Weniger als 10% der ökonomischen Umsätze können auf den globalen Handel zurückgeführt werden. Und selbst von diesen 10% fällt ein wesentlicher Teil auf den Rest Europas. Umso fehlgeleiteter ist die Bedeutung, die insbesondere auch die EK dem globalen Handel im Vergleich zum unterschätzten Potential der europäischen Binnennachfrage beimisst.

Schrittweise Verschärfung

Wettbewerbsorientierung – mit dem Ziel Exporte zu fördern – ist nichts Neues in der EU.(11) Bereits im Weißbuch „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ der Europäische Kommission findet sich 1993 erstmals internationale Wettbewerbsfähigkeit als wesentliches Wirtschaftspolitisches Ziel wieder. Dabei wurde der Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten und Lohnzurückhaltung als exportfördernde Maßnahme zwar vorgeschlagen. Allerdings warnte man damals noch vor politischen, ökonomischen und sozialen Problemen. Das Weißbuch war eine Reaktion auf die Rezession Anfang der 1990er (1991/92) und sollte das Wirtschaftswachstum ankurbeln und der steigenden, hohen Arbeitslosigkeit entgegenwirken. Die Strategie ging jedoch schon damals nicht auf. Tatsächlich blieb die Arbeitslosigkeit weiterhin auf einem hohen Niveau während es zu einer signifikanten Umverteilung der Arbeitseinkommen zu Vermögenseinkommen kam. Dabei spitzte sich die ungleiche Verteilung der Vermögen weiter zu. Die Einkommen des Großteils der Bevölkerung, die hauptsächlich Arbeitseinkommen beziehen, stagnierten seither.

Im Jahr 2000 erreichte der wirtschaftspolitische Umbau die nächste Stufe: in der Lissabon-Strategie wurde das Ziel, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, zum zentralen Ziel erklärt. In der neu gegründeten Eurozone förderte die Umsetzung dieser Wirtschaftspolitik die Polarisierung voneinander abhängiger Wachstumsregime. Auf der einen Seite fanden sich jene Länder, die bereits damals auf exportorientiertes Wachstum setzten, allen voran Deutschland plus Zulieferländer. Ihnen stehen auf der anderen Seite jene Länder gegenüber, die zuvor mittels Währungsabwertung die Leistungsbilanzüberschüsse ausglichen, sich nun aber zunehmend verschuldeten und die Exporte der Überschussländer absorbierten.(12) Bereits vor der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 trug die Wettbewerbsorientierung der EK dazu bei, dass sich die Leistungsbilanzen der einzelnen Mitgliedsländer zunehmend auseinanderentwickelten.

Mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 scheiterte dieses Wachstumsmodell. Zu einem Bruch mit der arbeitnehmerInnenfeindlichen Wirtschaftspolitik, welche die asymmetrische Entwicklung in der Eurozone anfeuerte, kam es nicht. Im Gegenteil. Das Krisenmanagement der Europäischen Kommission pochte im Zuge des europäischen Semesters auf die Umsetzung von Maßnahmen, die die Wettbewerbsorientierung noch weiter radikalisierten. Im 2011 verabschiedeten Euro-Plus-Pakt wurde schließlich Lohnpolitik explizit als Instrument zur Stärkung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit festgehalten. Massiven Kürzungen der Mindestlöhne(13) waren eine der folgenden Maßnahmen. Beispielslos wurde unter dem Diktat der Troika im Jahr 2012 der Mindestlohn um 22,8% in Griechenland reduziert.

Die Krise exportieren

Anstatt Maßnahmen zur Stabilisierung der Nachfrage in der Eurozone bzw. der EU zu setzen, wurde so versucht die fehlende Nachfrage durch Exporte zu kompensieren. Das hat zu einer Verlagerung der Nachfrage ins Ausland geführt. Wie in der folgenden Abbildung zu sehen ist betrug die Binnennachfrage im Jahr 2007 in der Eurozone 93%. Ausgelöst durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 ist die Binnennachfrage bis 2015 um 2% gefallen und die Exporte außerhalb der Eurozone sind gestiegen. Mit dem Ergebnis, dass die Eurozone insgesamt mehr exportiert als importiert. Das bedeutet, dass in der Eurozone mehr produziert als konsumiert wird.

Legitimität erlangt diese Politik unter anderem durch eine Wettbewerbserzählung, der die Betrachtung von Einzelfällen zugrunde liegt: Nämlich die gesonderte und isolierte Betrachtung von Nationalstaaten. So wird ein Standortnationalismus erzeugt, in dem Deutschland als „Exportweltmeister“ im Zentrum steht und die deutsche Bevölkerung mit positiven Attributen wie fleißig und sparsam, etc. versehen wird. Das mag zur Legitimation unpopulärer, arbeitnehmerInnenfeindlicher Wirtschaftspolitik beitragen, kann die grundlegenden ökonomischen Spannungen jedoch nicht lösen. Ein entscheidender Punkt ist dabei, dass globale Zusammenhänge ausgeblendet bleiben. Zwar kann es für einzelne Länder durchaus funktionieren durch Exportüberschüsse Wachstum zu generieren. Für die ganze Welt geht sich das allerdings nicht aus(14): Denn jedem Exportüberschuss in einem Land müssen die entsprechenden Importe gegenüberstehen. Denn klarerweise ist es nicht möglich, dass alle Länder ein Exportüberschuss haben.

Ein Vergleich der Leistungsbilanz ausgewählter Länder veranschaulicht das Zusammenspiel von Überschüssen und Defiziten. Die Grafik zeigt, wie sich die Leistungsbilanz der Eurozone seit 2012 verändert hat. Spanien, Italien und Frankreich haben bis zum Ausbruch der Krise wesentlich dazu beigetragen, die Leistungsbilanz der Eurozone auszugleichen. Sie haben einen großen Teil der deutschen Überschüsse kompensiert. Ergebnis der intensivierten Wettbewerbsorientierung seit der Krise ist, dass mittlerweile die gesamte Eurozone einen Überschuss verzeichnet. Während die Leistungsbilanzungleichgewichte in der EU in Überschüsse umgekehrt wurden wird nun vorausgesetzt, dass Länder der restlichen Welt Defizite erwirtschaften. Das Wirtschaftsmodell, das insbesondere zur Krise in der EU geführt hat, wird so global ausgeweitet. Ein wesentlicher Unterschied für Länder außerhalb der Eurozone ist die eingeschränkte Möglichkeit, diese durch Kursanpassungen zu kompensieren. Diese Einschränkung resultiert unter anderem aus den Auslandschulden, die sich durch Kursanpassungen ebenfalls erhöhen würden. Während der Krise ist es zu starken Finanzflüssen in die restliche Welt gekommen. Globale Abhängigkeitsstrukturen und asymmetrische Entwicklungsdynamiken haben sich dabei verfestigt.(15)

Schließlich muss mit dem steigenden Exportüberschuss der Eurozone die Frage gestellt werden, wo die globale Nachfrage herkommen soll.

Woher soll die globale Nachfrage kommen?

Mehrere Dekaden wurden Leistungsbilanzüberschüsse durch die USA ermöglicht, indem sie die globale Nachfrage stabilisierten und die Exportüberschüsse anderer Länder aufsogen.(16) Auf Grund der einzigartigen Rolle des Dollars als Weltwährung hat diese keine Probleme mit der Finanzierung der Defizite, denn sie können sich in der eigenen Währung (die sie auch selbst nach Belieben drucken können) im Ausland verschulden. Mit den steigenden Exporten Deutschlands und Chinas kommen die USA sowie ein Großteil der weniger entwickelten Welt jedoch zunehmend unter Druck.

Dass die Importüberschüsse der USA zu steigender Verschuldung, zur Desindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit in den USA beigetragen haben, lässt sich nicht einfach von der Hand weisen. Dabei sieht US-Präsident Trump vor allem im Bereich der Handelspolitik vermeintliche Schikanen für US-Firmen als Hauptproblem und Hauptursache für das amerikanische Leistungsbilanzdefizit. Diese Problemsicht betrifft Mexiko und somit das nordatlantische Freihandelsabkommen NAFTA, Deutschland mit seiner Automobilindustrie und drittens China, dem Wechselkursmanipulation vorgeworfen wird.(17) Ohne ein überzeugendes Konzept zu liefern bedient Trump seine Wählerschaft, die sich zu einem entscheidenden Teil aus GlobalisierungsverliererInnen zusammensetzt, mit dem Slogan „Make America Great Again!“.

Unbenommen von seinen lauten Ankündigen bleibt fraglich, ob Trump die Defizite der USA tatsächlich abbauen kann und inwieweit er dabei auf Importregulationen und eine Neugestaltung handelspolitischer Rahmenbedingungen zurückgreifen wird. Noch unwahrscheinlicher ist jedoch, dass die USA die Defizite in dem Maße ausbauen werden, wie die Eurozone, allen voran Deutschland, Exportüberschüsse erwirtschaftet. Doch dann ließe sich die Wachstumsstrategie der Eurozone langfristig nur aufrechterhalten, wenn die EU ihre eigenen Handelsbeziehungen ausweitet und entsprechende Ausweichmöglichkeiten findet. Dafür müsste sie genügend Länder erschließen können, in denen sich die Überproduktion der Eurozone absetzen lässt.

Ein Fenster der Möglichkeit

Die Wettbewerbsfixierung der EK – niedrige Löhne und möglichst keine Abgaben für Unternehmen – untergräbt die Binnennachfrage. Infolge wird versucht diese durch exportorientiertes Wachstum zu kompensieren. Diese Strategie mag punktuell und in manchen Fällen durchaus erfolgsversprechend sein und dabei nicht nur Unternehmen zugutekommen. Allerdings werden dadurch Spannungen erzeugt. Diese resultieren innerhalb von Wirtschaftsräumen unter anderem aus steigender Ungleichheit und stagnierender Lohnentwicklung. Zudem wird das ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungspotential nicht optimal ausgeschöpft. Diese Probleme sind augenscheinlich zwischen Wirtschaftsräumen, in denen den Exportüberschüssen der einen Länder die Defizite anderer Länder diametral gegenüberstehen und die ökonomischen Probleme in diese exportiert werden.

Die Zielsetzung Wettbewerbsfähigkeit liefert Hand in Hand mit der Erfolgsgröße Exportüberschuss deshalb kein erfolgsversprechendes Konzept für eine nachhaltige und prosperierende Zukunft Europas. Und dennoch liegt Juncker nicht falsch, wenn er in seiner Rede zur Zukunft der Union feststellt: „Uns öffnet sich jetzt ein Fenster der Möglichkeit.“

Denn seit 2015 zeichnet sich eine schwache Kurskorrektur in der wirtschaftspolitischen Debatte ab. Das gilt zumindest in Hinblick auf die Lohnpolitik. Während die EZB unter Mario Draghi durch den Ankauf von Staatsanleihen die Finanzierungskosten der Staatshaushalte, vor allem in den Peripherieländern, stabilisieren konnte, lockerte die EK ihre Empfehlungen zu den Sparmaßnahmen. Diese Maßnahmen wirken positiv auf die Binnennachfrage. Auch dürften die wirtschaftspolitischen Empfehlungen im Europäischen Semester 2015 dazu beigetragen haben, dass die Kommission die Schwächung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage als potenzielles Problem erkannt hat.(18) Das fand Ausdruck im Lippenbekenntnis zu einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik, was einen Anstieg der Löhne, parallel zur Produktivität der Unternehmen bedeutet und in Kontrast zu einer Politik niedriger Löhne zur Förderung von Exporten stünde. In der Praxis operierte die EK jedoch weiterhin mit Benchmarks, die zu einer Unterausschöpfung des Spielraumes der Lohnpolitik führen.

Nichtsdestotrotz lässt sich ein Anstieg der Mindestlöhne in den meisten Mitgliedsländern der EU beobachten.(19) Das kann als weiteres Indiz gesehen werden, dass sich die Binnennachfrage langsam stabilisiert und die ökonomische Entwicklung der Eurozone langsam aus ihrer Seitwärtsbewegung hievt. Parallel wird vereinzelt in wirtschaftspolitischen Debatten, zuletzt im Sommer 2017, von Seiten der EK, der EZB und dem IWF auf die Bedeutung von Löhnen zur Stabilisierung des Aufschwunges hingewiesen.(20) Doch auch diese vereinzelten Verweise reichen nicht über Lippenbekenntnisse hinaus und bleiben widersprüchlich zu anderen Aussagen.

So bleibt der Kern des Problems bestehen: Verstellt durch den einseitigen Blick auf Wettbewerbsfähigkeit werden gesamtökonomische Zusammenhänge ausgeblendet. Die Zielgröße wirtschaftspolitischer Maßnahmen bleibt weiterhin Wettbewerbsfähigkeit, gemessen an Exportüberschüssen.

Vor dem Hintergrund zunehmender globalpolitischer Turbulenzen und zehn Jahre nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise wäre es hingegen Zeit die Lehren zu ziehen. Anstelle eines „More of the same“ braucht es eine Kehrtwende für eine nachhaltige wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik.(21) Im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Ausrichtung müssen umfassendere Zielsetzungen stehen. Nur auf Wettbewerb zu setzen und die damit verbundene arbeitnehmerInnenfeindliche Wirtschaftspolitik durch standortnationalistische Erzählungen zu ersetzen, ist zu wenig. Hingegen könnte ein magisches Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik mit den Eckpunkten Lebensqualität, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, fair verteilter materieller Wohlstand, intakte Umwelt, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stabile Staatstätigkeit, stabile Finanzmärkte, und Preisstabilität für diese notwendige Kehrwende eine wichtige Grundlage bilden und künftig zur Vermeidung von Krisen beitragen.

Anmerkungen

Dieser Artikel erschien zuerst in EU Infobrief Nr. 3, Oktober 2017 . Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.

Simon Theurl ist Referent in der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration der Arbeiterkammer Wien; Vorstandsmitglied des Beirates für Gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM); Lektor an der Fachhochschule des BFI Wien.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/eu-wirtschaftspolitik-wind-in-den-segeln-aber-keine-kurskorrektur--2144.html   |   Gedruckt am: 29.03.2024