Darf’s kein bisschen mehr sein?

6. November 2017 | Patrick Schreiner

Über eine Begrenzung von Steuern und/oder Abgaben fabulieren Neoliberale seit eh und je. Dahinter dürften weniger ökonomische Begründungen als vielmehr moralische Empfindungen stehen: Steuern und Abgaben an das Gemeinwesen zu entrichten, ist für Neoliberale ein Unding und deshalb auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

1995 hat das Bundesverfassungsgericht unter der Federführung des neoliberalen Richters Paul Kirchhof geurteilt, dass die Gesamtsteuerbelastung sich höchstens „in der Nähe der hälftigen Teilung“ zwischen Steuerzahlenden und Staatskasse bewegen dürfe – mehr als 50 Prozent solle sie also nicht betragen. Dies war eine unmittelbare juristische Attacke auf die Vermögensteuer, allerdings nicht grundsätzlich auf diese begrenzt. 2006 hat das Gericht diesen so genannten „Halbteilungsgrundsatz“ klugerweise wieder aufgegeben.

Im Bundestagswahlkampf 2017 warb die AfD mit der Forderung nach einer Gesamtabgabenquote von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Grundgesetz: „Steuern, Beiträge und Gebühren“ sollten zusammengenommen diesen Wert nicht übersteigen. Die FDP wiederum wollte – ebenfalls im Grundgesetz – eine „Belastungsgrenze für die direkten Steuern und Sozialabgaben“ festschreiben. Niemand solle mehr als 50 Prozent seines Einkommens an den Staat oder die Sozialversicherungen abgeben müssen.

In ähnlicher Weise machten auch die Arbeitgeber sowie ihre Vorfeldorganisationen Stimmung für eine Begrenzung der Sozialbeiträge. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gab ein Gutachten in Auftrag mit wenig überraschendem Ergebnis, das sie wie folgt kommentierte:

Wer neben den unabdingbar wichtigen auch vertraute und komfortable Leistungen erhalten will, muss diese begründen und gegebenenfalls sagen, welche anderen Leistungen dafür entfallen sollen. Die 40-Prozent-Marke bei den Sozialbeiträgen ist ein richtiges und wichtiges Ziel. Die INSM als Reform-Initiative wird diese Diskussion in den kommenden Jahre aktiv begleiten.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat für die INSM berechnet , wie hoch die Belastungen für Familien angeblich seien, wenn die Sozialbeiträge über die eben schon erwähnten 40 Prozent anstiegen.

Im Erheischen politischer und öffentlicher Aufmerksamkeit am erfolgreichsten war die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit einer Prognos-Auftragsstudie , die Ende Juli 2017 medial breit aufgegriffen wurde. Wissenschaftlich überzeugen kann diese „Studie“ zwar nicht. Es ist eine jener Arbeiten, bei der die vorab getroffenen Annahmen schon das Ergebnis bestimmen: Prognos nimmt an, dass steigende Sozialbeiträge Arbeitsplätze kosten. Rechnet dann fleißig. Und verkündet schließlich, dass steigende Sozialbeiträge Arbeitsplätze kosten. Weshalb die Sozialbeiträge besser nicht steigen sollten. Seriöse Wissenschaft sieht anders aus. Dennoch war es eine Steilvorlage für die Arbeitgeber, die sich mit ihrer Forderung nach einer Begrenzung der Sozialbeiträge auf 40 Prozent bestätigt sahen. Schon Anfang Juli hatten sie zur Bundestagswahl formuliert:

Die Sozialbeiträge müssen weiter unter 40 Prozent gehalten werden. Noch höhere Sozialabgaben gefährden Wachstum und Beschäftigung und schmälern damit die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung. Das führt in eine Abwärtsspirale.

Mit solcherlei Vorstellungen scheinen sie bis zu den potentiellen Jamaika-Koalitionären durchgedrungen zu sein. Im Ergebnispapier der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen heißt es:

Unser gemeinsames Ziel ist die Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge. Um dies zu erreichen diskutieren wir über folgende Fragen: das politische Ziel einer Stabilisierung unter 40 % […]

Gegen ein solches Vorhaben lassen sich zahlreiche gute Gründe anführen:

Nicht die Macht der Fakten, sondern ihre faktische Macht scheint das Handeln der Arbeitgeber zu bestimmen.

Doch wie verhält es sich mit dem Kernargument, das BDA, INSM, Prognos & Co. für eine Begrenzung der Sozialbeiträge bei 40 Prozent anführen – die angeblich drohende Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands? Auch dieses Argument überzeugt nicht. So machen die Sozialbeiträge nur einen Teil der so genannten Lohnnebenkosten aus, die Lohnebenkosten wiederum nur einen Teil der Arbeitskosten – vor allem aber machen die Arbeitskosten nur einen geringen Teil der Produktionskosten aus. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei den Arbeitskosten überdies lediglich im oberen Mittelfeld. Zudem sind diese Arbeitskosten in den letzten Jahren nur langsam angestiegen, gerade auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Und auch bei der – relevanteren – Lohnstückkostenentwicklung ist Deutschland seit den frühen 2000er Jahren weit hinter anderen Ländern in Europa zurückgeblieben. Dies ist ein wesentlicher Grund für die Misere des Euroraums – Deutschland ist nicht nur weit davon entfernt, nicht wettbewerbsfähig zu sein. Es ist sogar zu wettbewerbsfähig , betrachtet man den enormen Leistungsbilanzüberschuss, den es seit Jahren vor sich herschiebt. Er destabilisiert den Euroraum und die Weltwirtschaft.

Die Arbeitgeber hält dies nicht davon ab, das alte Lied von der gefährdeten Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu singen. Dass sie dabei völlig inkonsistent argumentieren, scheint ihnen egal zu sein, wenn sie es denn überhaupt bemerken. So behaupten sie , dass steigende Sozialbeiträge die Wettbewerbsfähigkeit gefährden: Deutsche Produkte würden zu teuer und daher im Ausland nicht mehr gekauft.

Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag darf auch in Zukunft nicht über 40 Prozent steigen, da mit jedem Anstieg der Faktor Arbeit für die Unternehmen immer teurer wird. Jeder zusätzliche Beitragssatzpunkt kostet daher Arbeitsplätze, wie die Prognos AG kürzlich in einer Studie aufgezeigt hat. Zwar beteuert die Bundesregierung regelmäßig, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärken und ausbauen zu wollen. Die dazu förderlichen Maßnahmen zur Stabilisierung der künftigen Belastung des Faktors Arbeit mit Sozialversicherungsbeiträgen fehlen jedoch.

Und in der Prognos-„Studie“ heißt es:

Für die Unternehmen bedeuten höhere Beiträge höhere Lohnzusatzkosten, die nicht immer an Kunden weitergegeben werden können. Das gilt in besonderem Maße für die vielen deutschen Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Der Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt ist mit fast 49 Prozent so hoch wie in keinem vergleichbaren Land. Es besteht die Sorge, dass künftig steigende Beitragssätze in den Sozialversicherungen und damit steigende Lohnzusatzkosten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft schwächen. Befürchtete Folgen sind ein Rückgang der Exportdynamik, eine geringere gesamtwirtschaftliche Leistung und ein Verlust an Arbeitsplätzen.

Hier behaupten die Arbeitgeber also (bzw. lassen behaupten), dass steigende Preise deutscher Produkte unmittelbar zu sinkenden Exporten führen. Wenn die Arbeitgeber allerdings auf den enormen deutschen Leistungsbilanzüberschuss angesprochen werden, so argumentieren sie , dass dieser – und damit die deutschen Exporte – von den Preisen deutscher Produkte gerade nicht abhänge. Diese würden vielmehr ob ihrer überlegenen Qualität gekauft, sodass steigende Löhne (bzw. steigende Arbeitskosten) zu einem Abbau des Leistungsbilanzüberschusses und zu sinkenden Exporten gerade nicht beitragen würden:

Die deutsche Wirtschaft ist u. a. auf Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau spezialisiert – Produktsegmente, die weltweit stark nachgefragt werden. […] Darüber hinaus überzeugen deutsche Produkte vor allem durch ihre hohe Qualität, weshalb sie auch bei höheren Preisen oder steigendem Euro-Kurs Abnehmer finden.

Ja was denn nun? Eine Frage, die sich aufdrängt, die die Jamaika-Koalitionäre in spe aber offenbar ignorieren. Klientelpolitik nennt man das wohl. Es bleibt zu hoffen, dass die Grünen dieses üble Spiel nicht mitspielen werden.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.

URL: https://www.blickpunkt-wiso.de/post/darfs-kein-bisschen-mehr-sein--2141.html   |   Gedruckt am: 20.04.2024